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Zustellung durch Einlegen in Briefkasten – Zustelldatum nicht notiert – Zugangsdatum?


Bundesfinanzhof

Az.: GrS 2/13

Beschluss vom 06.05.2014


Leitsätze

Verstößt eine Ersatzzustellung durch Einlegen in den Briefkasten gegen zwingende Zustellungsvorschriften, weil der Zusteller entgegen § 180 Satz 3 ZPO auf dem Umschlag des zuzustellenden Schriftstücks das Datum der Zustellung nicht vermerkt hat, ist das zuzustellende Dokument i.S. des § 189 ZPO in dem Zeitpunkt dem Empfänger tatsächlich zugegangen, in dem er das Schriftstück in die Hand bekommt.


Tatbestand

A. I. Vorgelegte Rechtsfrage

Der VIII. Senat des Bundesfinanzhofs (BFH) hat durch Beschluss vom 7. Februar 2013 VIII R 2/09 (BFHE 241, 107, BStBl II 2013, 823) dem Großen Senat des BFH folgende Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt:

Ist im Fall einer zulässigen Ersatzzustellung durch Einlegen in den Briefkasten, die gegen zwingende Zustellungsvorschriften verstößt, weil der Zusteller entgegen § 180 Satz 3 der Zivilprozessordnung (ZPO) auf dem Umschlag des zuzustellenden Schriftstücks das Datum der Zustellung nicht vermerkt hat, das zuzustellende Schriftstück i.S. von § 189 ZPO bereits in dem Zeitpunkt dem Empfänger tatsächlich zugegangen und gilt deshalb als zugestellt, in dem nach dem gewöhnlichen Geschehensablauf mit einer Entnahme des Schriftstücks aus dem Briefkasten und der Kenntnisnahme gerechnet werden kann, auch wenn der Empfänger das Schriftstück erst später in die Hand bekommt?

II. Sachverhalt

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt –FA–) erließ unter dem 22. August 2005 gegenüber den zusammenveranlagten Klägern und Revisionsklägern (Kläger) einen geänderten Einkommensteuerbescheid 2002.

Nach erfolglosem Einspruch wies das Finanzgericht (FG) die Klage mit aufgrund mündlicher Verhandlung verkündetem Urteil vom 16. Dezember 2008  10 K 4614/05 (Entscheidungen der Finanzgerichte 2009, 554) ab und ließ die Revision zu. Die für die Kläger bestimmte Ausfertigung des Urteils wurde den damaligen Prozessbevollmächtigten der Kläger, drei in einer Sozietät zusammengeschlossenen Rechtsanwälten, im Wege eines Zustellungsauftrags durch die Deutsche Post AG zugestellt. In der vom Zusteller unterzeichneten Zustellungsurkunde wird angegeben, dass der Umschlag nach dem vergeblichen Versuch der Übergabe in einen zum Geschäftsraum gehörenden Briefkasten oder in eine ähnliche Vorrichtung eingelegt wurde. Als Tag der Zustellung wurde der 24. Dezember 2008 (Mittwoch) ohne Angabe einer Uhrzeit in die Zustellungsurkunde eingetragen.

Die Revisionsschrift der Prozessbevollmächtigten der Kläger vom 26. Januar 2009 ging am Dienstag, den 27. Januar 2009, beim BFH ein. Nach einem telefonischen Hinweis der Geschäftsstelle des zuständigen VIII. Senats, dass die Frist zur Einlegung der Revision bereits am 26. Januar 2009 abgelaufen sei, widersprachen die Prozessbevollmächtigten dem mit Schriftsatz vom 28. Januar 2009 und stellten zugleich (hilfsweise) namens der Kläger einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der Revisionsfrist.

Die Kläger tragen vor, das Urteil sei ihren Prozessbevollmächtigen erst am 29. Dezember 2008 (Montag) zugegangen. Die Kanzlei sei vom 24. bis 28. Dezember 2008 nicht geöffnet gewesen. Die für die Leerung des Briefkastens sowie die Öffnung und Verteilung der Eingangspost zuständige Rechtsanwaltsfachangestellte B habe die Sendung am 29. Dezember 2008 im Kanzleibriefkasten vorgefunden. Dem bearbeitenden Rechtsanwalt habe B auf sofortige Nachfrage gesagt, der Brief sei am 29. Dezember 2008 eingegangen. Auf dem Briefumschlag fehle die Angabe des Tags der Zustellung. Für den Beginn der Revisionsfrist komme es auf den Tag an, an dem der Prozessbevollmächtigte das zuzustellende Urteil in die Hand bekommen habe, also den 29. Dezember 2008. Danach sei die Revision rechtzeitig eingelegt worden. Hilfsweise sei Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren; ein möglicher Fehler von B könne den Klägern nicht zugerechnet werden.

Zur Glaubhaftmachung ihres Vortrags haben die Kläger einen Briefumschlag für eine förmliche Zustellung mit einem Absenderstempel des FG übersandt und beziehen sich im Übrigen auf Versicherungen an Eides statt ihres bearbeitenden Prozessbevollmächtigten und B. Der Briefumschlag enthält im Feld „zugestellt am“ keine Eintragung. Handschriftlich ist auf dem Umschlag vermerkt: „Eingang am Montag 29.12.08 laut Frau B … und Frau T …“.

Der vorlegende Senat hat Beweis erhoben durch Vernehmung des Briefzustellers als Zeugen über die Frage, zu welcher Tageszeit das Urteil des FG (am 24. Dezember 2008) in den Briefkasten der Prozessbevollmächtigten der Kläger eingeworfen worden ist.

III. Vorlagebeschluss des VIII. Senats

1. Die Vorlagefrage ist nach Auffassung des VIII. Senats zu bejahen. Das Dokument sei dem Empfänger i.S. des § 189 ZPO (hier i.V.m. § 53 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung –FGO–) bereits in dem Zeitpunkt tatsächlich zugegangen, in dem nach dem gewöhnlichen Geschehensablauf mit einer Entnahme des Schriftstücks aus dem Briefkasten und der Kenntnisnahme gerechnet werden könne.

Für den Begriff des Zugangs i.S. des § 189 ZPO sei auf den allgemeinen Zugangsbegriff in § 130 Abs. 1 Satz 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) zurückzugreifen. Da § 189 ZPO für unterschiedliche Fallgruppen fehlerhafter und deswegen unwirksamer Zustellungen Heilungsmöglichkeiten anbieten solle, sei die Vorschrift fallgruppenbezogen auszulegen, nämlich zumindest einerseits für die Fälle, in denen sich die formgerechte Zustellung nicht nachweisen lasse, sowie andererseits für die Fälle, in denen das Dokument unter Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften zugegangen sei. Der Zustellungsfiktion könne nur der Regelungswille entnommen werden sicherzustellen, dass dem Adressaten das Schriftstück ungeachtet etwaiger Zustellungsmängel auch tatsächlich –in der vom Zustellenden in den Verkehr gegebenen verkörperten Form– zugänglich gemacht worden sei. Die Adressaten fehlerhaft zugestellter Schriftstücke dürften nicht schlechter gestellt werden als die Adressaten ordnungsgemäß zugestellter Dokumente. Sie darüber hinaus gegenüber Adressaten verfahrensfehlerfreier Ersatzzustellungen besser zu stellen, sei nicht Regelungszweck des § 189 ZPO.

Unter den Umständen des Streitfalls seien die objektiv-rechtlichen Zwecke der Zustellungsvorschriften höher als der Schutz des Adressaten zu bewerten. Für die normative Bestimmung des Heilungszeitpunkts spreche vor allem, dass nur sie dem objektiven Zustellungszweck zum Durchbruch verhelfe, den Zeitpunkt der Zustellung auch im Fall der Heilung einer zunächst fehlgeschlagenen Zustellung rechtssicher bestimmen zu können. Der Zustellungsempfänger könne den durch das Fehlen des Datumsvermerks hervorgerufenen Zweifel über das Datum der Zustellung durch einen Anruf bei Gericht beseitigen; dadurch seien seine Interessen ausreichend gewahrt.

2. Der VIII. Senat hält die vorgelegte Rechtsfrage für entscheidungserheblich.

Nach seiner Meinung hat die Einlegung der Sendung in den Briefkasten nicht zu einer nach § 180 Satz 2 ZPO wirksamen Ersatzzustellung geführt, weil das Datum der Zustellung nicht auf dem Umschlag vermerkt und damit gegen die Formvorschrift des § 180 Satz 3 ZPO verstoßen worden sei. Die Missachtung dieser Formvorschrift führe zur Unwirksamkeit der Ersatzzustellung. Der Zustellungsmangel könne nur nach § 189 ZPO geheilt worden sein. Danach gelte das Dokument in dem Zeitpunkt als zugestellt, in dem es dem Empfänger tatsächlich zugegangen sei.

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme sei das zuzustellende FG-Urteil am Vormittag des 24. Dezember 2008 in den Briefkasten der Bevollmächtigten der Kläger eingeworfen worden. Der Senat vertrete im Anschluss an die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) zu Zustellungen an auf einen Werktag fallenden Silvestertagen die Auffassung, dass am 24. Dezember zumindest bis zum Mittag mit einer Kenntnisnahme von Geschäftspost gerechnet werden könne.

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Revisionseinlegungsfrist sei nicht zu gewähren. Die Kläger hätten die Frist nicht ohne Verschulden versäumt, denn sie müssten sich ein Verschulden ihres Bevollmächtigten zurechnen lassen. Im Fall von Zustellungen von Amts wegen nach §§ 166 ff. ZPO müsse der Prozessbevollmächtigte die Fristberechnung anhand des auf dem Zustellungskuvert angebrachten Zustellungsvermerks des Postbediensteten selbst nachprüfen. Fehle der Datumsvermerk, so müsse sich der Prozessbevollmächtigte auf andere Weise –z.B. durch Rückfrage beim FG– über das Zustellungsdatum erkundigen. Dies sei hier unterblieben.

3. Wegen der Begründung der Vorlage im Einzelnen wird auf den Vorlagebeschluss in BFHE 241, 107, BStBl II 2013, 823 Bezug genommen.

IV. Rechtsgrund der Vorlage

Der VIII. Senat stützt die Vorlage sowohl auf § 11 Abs. 2 FGO als auch auf Abs. 4 der Vorschrift.

Die Klärung der vorgelegten Rechtsfrage habe grundsätzliche Bedeutung. Wegen der unterschiedlichen Auffassungen der mit der Rechtsfrage bisher befassten BFH-Senate I, II, VI und VIII sowie den verschiedenen Ansichten in der Literatur sei eine Entscheidung durch den Großen Senat erforderlich, um eine einheitliche Rechtsauslegung für die Zukunft zu gewährleisten.

Mit seiner Auslegung des Merkmals „tatsächlich zugegangen“ des § 189 ZPO weiche der vorlegende Senat von dem Beschluss des VI. Senats vom 19. September 2007 VI B 151/06 (BFH/NV 2007, 2332) ab. Der VI. Senat habe mitgeteilt, er stimme einer Abweichung von seiner Rechtsauffassung nicht zu.

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Entscheidungsgründe

B. I. Zulässigkeit der Vorlage

Die Vorlage des VIII. Senats ist zulässig.

1. Die Zulässigkeit der Vorlage ergibt sich bereits aus § 11 Abs. 2 und 3 FGO. Der Große Senat entscheidet nach § 11 Abs. 2 FGO, wenn ein Senat des BFH in einer Rechtsfrage von der Entscheidung eines anderen Senats oder des Großen Senats abweichen will. Die Auffassung des vorlegenden Senats weicht von derjenigen des VI. Senats des BFH in BFH/NV 2007, 2332 ab. Dieser Beschluss kann Gegenstand einer Divergenz i.S. des § 11 Abs. 2 FGO sein.

Der von § 11 Abs. 3 FGO vorausgesetzte Begriff der „Entscheidung“ umfasst grundsätzlich auch Beschlüsse (BFH-Beschlüsse vom 28. November 1977 GrS 4/77, BFHE 124, 130, BStBl II 1978, 229, unter C.I.1., und vom 10. März 1969 GrS 4/68, BFHE 95, 366, BStBl II 1969, 435, unter 1.). Eine Abweichung i.S. des § 11 Abs. 2 FGO setzt weiter voraus, dass mit dem Beschluss das seinerzeitige Verfahren abgeschlossen und die nach Meinung des anfragenden Senats nun abweichend zu beantwortende Rechtsfrage endgültig entschieden wurde (vgl. Brandis in Tipke/ Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 11 FGO Rz 4; Müller-Horn in Beermann/Gosch, FGO § 11 Rz 8; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 11 Rz 11; Sunder-Plassmann in Hübschmann/Hepp/Spitaler –HHSp–, § 11 FGO Rz 29). Diese Voraussetzungen können auch erfüllt sein, wenn mit dem Beschluss eine Nichtzulassungsbeschwerde zurückgewiesen wird und die abschließende Entscheidung über die Rechtsfrage die Entscheidung trägt.

Mit dem Beschluss in BFH/NV 2007, 2332 hat der VI. Senat eine Nichtzulassungsbeschwerde als unbegründet zurückgewiesen, nachdem er sie zuvor als zulässig, insbesondere fristgerecht eingelegt beurteilt hat. Die Entscheidung über die Begründetheit der Nichtzulassungsbeschwerde setzt deren Zulässigkeit voraus und beinhaltet deshalb eine abschließende Beantwortung der für die Wahrung der Einlegungsfrist bedeutsamen Rechtsfragen. Der Beschluss des VI. Senats in BFH/NV 2007, 2332 ist danach eine Entscheidung, von der i.S. des § 11 Abs. 2 FGO in Bezug auf Rechtsfragen abgewichen werden kann, die die Zulässigkeit der Beschwerde betreffen.

In Bezug auf eine solche Rechtsfrage, nämlich die Frage, wann ein Dokument i.S. des § 189 ZPO als bekanntgegeben gilt, weicht die Auffassung des vorlegenden Senats von dem Beschluss des VI. Senats des BFH in BFH/NV 2007, 2332 ab.

Der VI. Senat hat auf Anfrage des vorlegenden Senats mit Beschluss vom 13. November 2012 VI ER-S 3/12 der Abweichung nicht zugestimmt.

2. Die Zulässigkeit der Vorlage ergibt sich darüber hinaus auch aus § 11 Abs. 4 FGO. Eine Vorlage, die nach Durchführung des Anfrageverfahrens auf Divergenz gestützt wird, kann zusätzlich auch auf den Anfragegrund der grundsätzlichen Bedeutung gestützt werden.

Die vorgelegte Rechtsfrage war bereits Gegenstand von Entscheidungen mehrerer Senate und kann in Entscheidungen jedes Senats entscheidungserheblich zu beantworten sein. Der vorlegende Senat hat der Rechtsfrage deshalb zutreffend grundsätzliche Bedeutung beigemessen.

II. Entscheidungserheblichkeit der Vorlage

Die vorgelegte Rechtsfrage ist für die Entscheidung des VIII. Senats erheblich. Bei Verneinung der Vorlagefrage entsprechend der Rechtsauffassung des VI. Senats wäre die Revision der Kläger zulässig, denn der Zustellungsmangel wäre dann am 29. Dezember 2008 dadurch geheilt worden, dass der Bevollmächtigte der Kläger die Ausfertigung des FG-Urteils „in den Händen hielt“. Die Frist zur Einlegung der Revision wäre bei Eingang der Revisionsschrift am 27. Januar 2009 noch nicht abgelaufen gewesen. Der vorlegende Senat ginge dann ausweislich des Vorlagebeschlusses von der Zulässigkeit der Revision aus, so dass die Revision nicht nach § 126 Abs. 1 FGO durch Beschluss zu verwerfen wäre. Es müsste vielmehr durch Urteil über die Begründetheit der Revision entschieden werden.

III. Entscheidung des Großen Senats über die vorgelegte Rechtsfrage

1. Rechtsgrundlagen

Nach § 104 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 FGO ist ein aufgrund mündlicher Verhandlung verkündetes Urteil den Beteiligten zuzustellen. Zugestellt wird von Amts wegen nach den Vorschriften der Zivilprozessordnung (§ 53 Abs. 2 FGO).

Zustellung ist nach § 166 Abs. 1 ZPO die Bekanntgabe eines Dokuments an eine Person in der von §§ 166 ff. ZPO bestimmten Form. Ein Zustellungsauftrag kann der Post erteilt werden, indem dieser das zuzustellende Schriftstück in einem verschlossenen Umschlag sowie ein vorbereitetes Formular einer Zustellungsurkunde übergeben wird (§ 176 Abs. 1 ZPO). Für die Ausführung der Zustellung gelten §§ 177 bis 181 ZPO (§ 176 Abs. 2 ZPO). Das Schriftstück kann der Person, der zugestellt werden soll, an jedem Ort übergeben werden, an dem sie angetroffen wird (§ 177 ZPO). Wird die Person, der zugestellt werden soll, in ihrer Wohnung, in dem Geschäftsraum oder in einer Gemeinschaftseinrichtung, in der sie wohnt, nicht angetroffen, und kann das Schriftstück auch nicht einer der in § 178 Abs. 1 Nr. 1 oder Nr. 2 ZPO genannten Personen übergeben werden, kann nach § 180 Satz 1 ZPO das Schriftstück in einen zu der Wohnung oder dem Geschäftsraum gehörenden Briefkasten oder in eine ähnliche Vorrichtung, die der Adressat für den Postempfang eingerichtet hat und die in der allgemein üblichen Art für eine sichere Aufbewahrung geeignet ist, eingelegt werden. Mit der Einlegung gilt das Schriftstück als zugestellt (§ 180 Satz 2 ZPO). Nach § 180 Satz 3 ZPO vermerkt der Zusteller auf dem Umschlag des zuzustellenden Schriftstücks das Datum der Zustellung. Zum Nachweis der Zustellung ist eine Urkunde auf dem hierfür vorgesehenen Formular anzufertigen (§ 182 Abs. 1 Satz 1 ZPO), die u.a. die Bemerkung enthalten muss, dass der Tag der Zustellung auf dem Umschlag, der das zuzustellende Schriftstück enthält, vermerkt ist (§ 182 Abs. 2 Nr. 6 ZPO).

Zustellungsmängel werden unter den Voraussetzungen des § 189 ZPO geheilt. Die Vorschrift lautet:

„Lässt sich die formgerechte Zustellung eines Dokuments nicht nachweisen oder ist das Dokument unter Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften zugegangen, so gilt es in dem Zeitpunkt als zugestellt, in dem das Dokument der Person, an die die Zustellung dem Gesetz gemäß gerichtet war oder gerichtet werden konnte, tatsächlich zugegangen ist.“

2. Rechtsentwicklung

Die Vorschriften über die Zustellung im Gerichtsverfahren sind durch das Zustellungsreformgesetz (ZustRG) vom 25. Juni 2001 (BGBl I 2001, 1206) novelliert worden. Die Neuregelungen sind am 1. Juli 2002 in Kraft getreten (Art. 4 ZustRG).

Bis zum Inkrafttreten des Zustellungsreformgesetzes hatte § 53 Abs. 2 FGO a.F. bestimmt, dass Zustellungen von Amts wegen nach den Vorschriften des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) vorzunehmen waren. Für Zustellungen durch die Post verwies § 3 Abs. 3 VwZG auf §§ 180 bis 186 und 195 Abs. 2 ZPO damaliger Fassung (ZPO a.F.). Eine Ersatzzustellung durch Einlegen in den Briefkasten war dort nicht vorgesehen. Zur Heilung von Zustellungsmängeln bestimmte § 9 Abs. 1 VwZG für den Fall, dass sich die formgerechte Zustellung des Schriftstücks nicht nachweisen ließ oder das Schriftstück unter Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften zugegangen war, dass dieses als in dem Zeitpunkt zugestellt gelte, in dem der Empfangsberechtigte es nachweislich erhalten habe. Dies galt nach § 9 Abs. 2 VwZG aber nicht, wenn mit der Zustellung eine Rechtsmittelfrist begann. In ähnlicher Weise war auch für nach der Zivilprozessordnung zu bewirkende Zustellungen eine Heilung nur möglich (§ 187 Satz 1 ZPO a.F.), soweit nicht durch die Zustellung der Lauf einer Notfrist in Gang gesetzt werden sollte (§ 187 Satz 2 ZPO a.F.).

Das Zustellungsreformgesetz verfolgte das Ziel, das Zustellungsrecht zu vereinfachen. Insbesondere sollte „die kostenaufwendige und für den Zustellungsadressaten oftmals umständliche beurkundete Zustellung durch Niederlegung soweit wie vertretbar vermieden“ werden (Begründung des Regierungsentwurfs, BTDrucks 14/4554, 13). Dies sollte u.a. durch Einführung der beurkundeten Ersatzzustellung durch Einlegen des Schriftstücks in den Briefkasten sowie durch eine erweiterte Heilung von Zustellungsmängeln erreicht werden. Zustellungszweck sei es, dem Adressaten angemessene Gelegenheit zur Kenntnisnahme eines Schriftstücks zu verschaffen und den Zeitpunkt dieser Bekanntgabe zu dokumentieren. Lasse sich die formgerechte Zustellung nicht nachweisen oder seien zwingende Zustellungsvorschriften verletzt worden, gelte ein Schriftstück in dem Zeitpunkt als zugestellt, in dem es der Adressat oder ein Empfangsberechtigter erhalten habe. Das Gericht prüfe in diesen Fällen in freier Beweiswürdigung des Sachverhalts, ob der Zustellungszweck erreicht und wann das geschehen sei. Das gelte auch dann, wenn die Zustellung eine Notfrist in Gang setze (BTDrucks 14/4554, 14). In der Einzelbegründung zu der Neuregelung der Heilung in § 189 ZPO heißt es (BTDrucks 14/4554, 24 f.):

„Nach dem Vorbild des § 9 Abs. 1 [VwZG] soll deshalb ein Schriftstück als zu dem Zeitpunkt zugestellt gelten, in dem es der Zustellungsadressat oder ein Empfangsberechtigter nachweislich erhalten hat. Unter diesen Voraussetzungen ist ein Zustellungsmangel auch dann geheilt, wenn durch die Zustellung der Lauf einer Notfrist in Gang gesetzt werden soll. Wenn eine fehlerhafte Zustellung mit dem Zeitpunkt des tatsächlichen Zugangs an den Adressaten oder einen Empfangsberechtigten wirksam wird, muss das für jede Zustellung gelten. Treten Fehler auf, so darf deren Beseitigung nicht zu Lasten einer Partei gehen, wenn feststeht, dass das zuzustellende Schriftstück der Person tatsächlich zugegangen ist, an die es gerichtet war oder dem Gesetz gemäß gerichtet werden konnte.“

Die vorgeschlagenen neuen §§ 181 und 189 ZPO wurden im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens zum Zustellungsreformgesetz nicht geändert und gingen deshalb in der von der Bundesregierung vorgeschlagenen Fassung in den Gesetzesbeschluss ein.

3. Rechtsprechung

a) Vor Ergehen des Vorlagebeschlusses war der BFH –soweit anhand der veröffentlichten Entscheidungen ersichtlich– in vier Fällen mit der Auslegung des § 189 ZPO befasst.

aa) Im Fall des Beschlusses vom 19. Januar 2005 II B 38/04 (BFH/NV 2005, 900) war ein Urteil des FG durch Einlegen in den Briefkasten am 13. März 2004, einem Samstag, zugestellt worden, ohne dass der Zusteller das Datum der Zustellung auf dem Briefumschlag vermerkt hatte. Die Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde war am 14. Mai 2004 beim BFH eingegangen. Der BFH kam zu dem Ergebnis, dass die Frist von zwei Monaten gemäß § 116 Abs. 3 Satz 1 FGO noch nicht abgelaufen gewesen sei, und entschied, die Beschwerdebegründung sei zwar rechtzeitig eingegangen, sie entspreche aber nicht den Darlegungsanforderungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO. Weil der Prozessbevollmächtigte erklärt hatte, dass in seiner Kanzlei an Samstagen üblicherweise nicht gearbeitet werde, und das Urteil in der Kanzlei mit dem Eingangsstempel vom 15. März 2004 (Montag) versehen worden war, ging der II. Senat davon aus, dass das Urteil dem Prozessbevollmächtigten am 15. März 2004 tatsächlich zugegangen sei. Dieser Zeitpunkt –nicht der Zeitpunkt des Einlegens in den Briefkasten der Kanzlei des Prozessbevollmächtigten des Klägers (13. März 2004)– sei für die Zustellung des FG-Urteils maßgebend (§ 189 ZPO).

bb) Dem zur Anrufung des Großen Senats wegen Divergenz führenden Beschluss des VI. Senats in BFH/NV 2007, 2332 liegt die Auffassung zugrunde, für den Zeitpunkt des tatsächlichen Zugangs i.S. des § 189 ZPO komme es darauf an, dass das zuzustellende Schriftstück derart in die Hände des Zustellungsadressaten gelangt sei, dass dieser es behalten und von seinem Inhalt Kenntnis nehmen könne. Im dortigen Fall war das angefochtene FG-Urteil ausweislich der Zustellungsurkunde am 17. November 2006 (Freitag) durch Einlegen in den Briefkasten des Klägers zugestellt worden. Auf dem Briefumschlag befand sich kein Vermerk über das Datum der Zustellung. Die Beschwerde war am 21. Dezember 2006 eingelegt worden. Nach eigenen Angaben hatte der Kläger am 23. November 2006 Kenntnis von der Zustellung erhalten. Diesen Tag betrachtete der VI. Senat als Zeitpunkt des tatsächlichen Zugangs i.S. des § 189 ZPO.

cc) Der IX. Senat hat mit Beschluss vom 9. März 2009 IX B 120/08 (BFH/NV 2009, 964) den rechtzeitigen Eingang einer Nichtzulassungsbeschwerde unter Hinweis auf § 189 ZPO bejaht. Von den näheren Umständen der Zustellung ist dem Beschluss nur zu entnehmen, dass durch Einlegen in den Briefkasten zugestellt wurde, die Zustellungsurkunde aber in Folge des Fehlens einer Unterschrift unvollständig war. Der IX. Senat führte aus, der Zustellungsmangel führe nicht zur Unwirksamkeit der Zustellung, sondern das FG-Urteil gelte nach § 189 ZPO in dem Zeitpunkt als zugestellt, in dem es der betreffenden Person tatsächlich zugegangen sei. Das sei hier Montag, der 26. Mai 2008, gewesen. Aufgrund welcher Umstände dieser Tag als Tag des Zugangs angesehen wurde, ist aus dem Beschluss nicht ersichtlich.

dd) In seinem Urteil vom 21. September 2011 I R 50/10 (BFHE 235, 255, BStBl II 2012, 197) hat der I. Senat der Revision gegen ein Urteil stattgegeben, das nach Angaben des FG am 29. Mai 2010 (Samstag) durch Einlegen in den Briefkasten des Prozessbevollmächtigten zugestellt und gegen das Revision am 30. Juni 2010 eingelegt worden war. Auf dem Umschlag fehlte der Vermerk über das Datum der Zustellung. Der I. Senat hielt die Revisionsfrist nicht für versäumt, weil er den Angaben des Prozessbevollmächtigten folgend davon ausging, diesem sei das Schriftstück mit Öffnen der Post am Montag, dem 31. Mai 2010, tatsächlich zugegangen. Unter Bezugnahme auf den Beschluss des VI. Senats in BFH/NV 2007, 2332 vertrat der I. Senat die Auffassung, der tatsächliche Zugang i.S. des § 189 ZPO setze voraus, dass das zuzustellende Schriftstück derart in die Hände des Zustellungsadressaten gelangt sei, dass dieser es behalten und von seinem Inhalt Kenntnis nehmen könne.

b) Im Übrigen war die Frage, zu welchem Zeitpunkt ein nach § 180 ZPO durch Einlegen in den Briefkasten des Adressaten unter Verletzung von Formvorschriften zugestelltes Dokument i.S. des § 189 ZPO dem Adressaten tatsächlich zugegangen ist, –soweit ersichtlich– nur in einem Urteil des Landessozialgerichts (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 17. Januar 2013 L 9 AL 173/11, juris) von entscheidungserheblicher Bedeutung. In diesem Urteil heißt es, eine Heilung gemäß § 189 ZPO setze die Feststellung des Zeitpunktes voraus, in dem das Schriftstück (ggf. spätestens) in die Hände des Adressaten gelangt sei. Das LSG bezog sich dabei auf einen Beschluss des BGH (Beschluss vom 21. Dezember 1983 IVb ZB 29/82, Neue Juristische Wochenschrift –NJW– 1984, 926), der allerdings die Auslegung des § 187 ZPO a.F. betrifft.

4. Schrifttum

a) Im Schrifttum wird überwiegend in Anlehnung an die Formel des BGH-Beschlusses in NJW 1984, 926 (ebenso BGH-Urteile vom 21. März 2001 VIII ZR 244/00, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung –HFR– 2001, 1200; vom 22. November 1988 VI ZR 226/87, NJW 1989, 1154) die Auffassung vertreten, es müsse eine zuverlässige Kenntnis von dem zuzustellenden Schriftstück vermittelt werden, was im Allgemeinen dann geschehen sei, wenn der Adressat der Zustellung trotz Verletzung der Zustellungsvorschriften das zuzustellende Schriftstück „in die Hand bekommen“ habe (MünchKommZPO/Häublein, 4. Aufl., § 189 Rz 8; Prütting/Gehrlein, ZPO, 5. Aufl., § 189 Rz 4; Stein/Jonas/Roth, ZPO, 23. Aufl., § 189 Rz 7; Hüßtege in Thomas/Putzo, Zivilprozessordnung, 35. Aufl., § 189 Rz 8; Wittschier in Musielak, ZPO, 11. Aufl., § 189 Rz 3; Zöller/ Stöber, ZPO, 30. Aufl., § 189 Rz 4; ebenso zu § 8 VwZG: Kruse in Tipke/Kruse, a.a.O., § 8 VwZG Rz 1; Schwarz in HHSp, § 8 VwZG Rz 5).

Rohe (Wieczorek/Schütze/Rohe, 4. Aufl., § 189 ZPO Rz 26) weist darauf hin, dass § 189 ZPO gegenüber dem früheren § 187 ZPO a.F. präziser gefasst worden sei, indem der „tatsächliche“ Zugang beim Adressaten verlangt werde. Dies setze abweichend von den Zugangsregeln des bürgerlichen Rechts die gegenständliche Übernahme des Schriftstücks durch den Adressaten selbst voraus. Der bloße Eintritt in den Machtbereich genüge dagegen nicht. Eine Heilung sei nur gerechtfertigt, wenn das Recht des Adressaten auf rechtliches Gehör tatsächlich und nicht nur potenziell gewahrt werde.

Nach Zimmermann (ZPO, 8. Aufl., § 189 Rz 2) setzt der Zugang voraus, dass das Schriftstück gegenständlich in die Hände des Adressaten gelangt ist. Das Datum des Zugangs sei notfalls durch Beweisaufnahme zu ermitteln. In der Regel begnüge man sich mit dem Datum, das der Empfänger einräume (Hinweis auf Zustellung gegen Empfangsbekenntnis nach § 174 ZPO).

Brandis (in Tipke/Kruse, a.a.O., § 53 FGO Rz 31) vertritt die Auffassung, der tatsächliche, nicht der vermutete Zugang heile den Zustellungsfehler. Die Frist beginne dann im Zeitpunkt dieser „fiktiven Zustellung“.

b) Der Vorlagebeschluss des VIII. Senats (BFHE 241, 107, BStBl II 2013, 823) ist im Schrifttum teils zustimmend, teils ablehnend aufgenommen worden.

Steinhauff (juris PraxisReport Steuerrecht 45/2013 Anm. 6) hält die im Vorlagebeschluss vertretene Auffassung für zutreffend. Wenn auf den Zeitpunkt abgestellt werde, in dem der Empfänger das Schriftstück tatsächlich in die Hände genommen habe, sei ein angemessener Ausgleich zwischen den Interessen des Zustellenden und des Zustellungsempfängers nicht gewährleistet. Der Empfänger habe es in der Hand, den Zeitpunkt der Heilung hinauszuzögern, weil nur er über diesen Auskunft erteilen könne. Dies sei nicht damit zu vereinbaren, dass die Zustellungsvorschriften objektiv dazu dienten, den Zeitpunkt für alle Beteiligten gleichermaßen rechtssicher zu bestimmen. Marfels (Steuerberaterwoche 2013, 842) hält den Vorlagebeschluss ebenfalls für überzeugend begründet.

Kritisch wird der Vorlagebeschluss von Carlé (Deutsche Steuer-Zeitung 2013, 652) besprochen. Der Beschluss berücksichtige nicht, dass die Zugangsfiktion abweichend vom sonstigen Abgabenrecht auf die tatsächliche Kenntnisnahme abstelle und nicht auf den dem gewöhnlichen Gang der Dinge entsprechenden unterstellten Sachverhalt.

IV. Auffassung des Großen Senats

1. Als Vorfrage zur Vorlage hat der VIII. Senat § 180 Satz 3 ZPO, wonach vom Zusteller auf dem Umschlag des zuzustellenden Schriftstücks das Datum der Zustellung zu vermerken ist, als eine der nach § 189 ZPO heilbaren zwingenden Zustellungsvorschriften beurteilt. An diese Rechtsauffassung ist der Große Senat gebunden, er teilt sie auch (ebenso BFH-Urteil in BFHE 235, 255, BStBl II 2012, 197, Rz 9, m.w.N.).

Die Entscheidung des Großen Senats betrifft allein die Frage, zu welchem Zeitpunkt das Dokument als zugestellt gilt. Dass die Prozessbevollmächtigten der Kläger i.S. des § 189 ZPO Kenntnis von dem zuzustellenden Dokument durch Einlegen in den zu ihren Büroräumen gehörenden Briefkasten erhalten haben, ist unstreitig.

2. Ein Dokument ist i.S. des § 189 ZPO in dem Zeitpunkt tatsächlich zugegangen, in dem der Adressat das Dokument „in den Händen hält“. Der Große Senat teilt nicht die Auffassung des vorlegenden Senats, es sei auf den Zeitpunkt abzustellen, in dem eine Willenserklärung i.S. des § 130 Abs. 1 Satz 1 BGB als zugegangen gilt.

a) Dem Wortlaut der Regelung lässt sich entnehmen, dass der Zugang alleine für die Bestimmung des Zeitpunkts der Zustellung nicht ausreichen soll. Dass der Gesetzgeber das Adjektiv „tatsächlich“ verwendet hat, spricht dafür, dass eine qualifizierte Form des Zugangs gemeint ist. Damit unterscheidet sich § 189 ZPO tatbestandlich von § 130 Abs. 1 Satz 1 BGB, denn dort wird lediglich der Zugang der Willenserklärung gefordert. Dies spricht dagegen, die für den Zugang von Willenserklärungen geltenden Grundsätze bei der Auslegung des § 189 ZPO zu übernehmen.

b) Betrachtet man die Entstehungsgeschichte des § 189 ZPO, muss der Begriff des „tatsächlichen“ Zugangs im Zusammenhang mit den anderen Regelungen zur Reform des Zustellungsrechts im Zustellungsreformgesetz ausgelegt werden. § 189 ZPO unterscheidet sich von der Vorgängerregelung in § 187 ZPO a.F. insbesondere dadurch, dass eine Heilung auch dann möglich ist, wenn durch die Zustellung eine Notfrist in Gang gesetzt werden soll. § 187 Satz 2 ZPO a.F. schloss eine Heilung in einem solchen Fall ausdrücklich aus. Die Ausweitung der Heilung von Zustellungen nach der Zivilprozessordnung ist in gleicher Weise auch für Zustellungen nach dem Verwaltungszustellungsgesetz geregelt worden. Während § 9 Abs. 2 VwZG a.F. eine Heilung für den Fall ausschloss, dass mit der Zustellung eine Klage-, Berufungs-, Revisions- oder Rechtsmittelbegründungsfrist beginnt, kann nach § 8 VwZG auch eine fristauslösende Zustellung geheilt werden.

Sowohl in § 189 ZPO als auch in § 8 VwZG ist abweichend von den Vorgängerregelungen jetzt der Zeitpunkt entscheidend, in dem das Dokument dem Adressaten „tatsächlich zugegangen“ ist. Nach § 187 Satz 1 ZPO a.F. war auf den Zeitpunkt abzustellen, in dem das Schriftstück „zugegangen“ war, nach § 9 Abs. 1 VwZG a.F. auf den Zeitpunkt, in dem der Empfangsberechtigte das Dokument „nachweislich erhalten“ hatte. Beide Regelungen wurden in ständiger Rechtsprechung dahingehend ausgelegt, dass der Empfänger das Schriftstück „in den Händen halten“ musste (vgl. z.B. BGH-Beschluss in NJW 1984, 926, und BGH-Urteil in HFR 2001, 1200; Urteile des Bundesverwaltungsgerichts vom 18. Dezember 1996  6 C 6/95, BVerwGE 104, 1, und vom 18. April 1997  8 C 43/95, BVerwGE 104, 301). Dafür, dass der Gesetzgeber bei einer Ausweitung der Heilung auf fristauslösende Zustellungen von diesen Anforderungen an den Zugang abweichen und sie herabsetzen wollte, gibt es keinen Anhaltspunkt. Bei der Neuordnung der Zustellungsvorschriften hat der Gesetzgeber daran festgehalten, dass eine Zustellung in ihrer Grundform durch körperliche Übergabe stattfindet (vgl. §§ 173, 177 ZPO). In dieses Konzept fügt sich danach auch weiterhin ein, dass die Heilung eines Formfehlers bei einer anderen Zustellungsart das „In-den-Händen-Halten“ des Dokuments erfordert. Deshalb muss die jetzt gewählte Formulierung in § 189 ZPO und in § 8 VwZG zumindest als klarstellende Festschreibung der bisherigen Zugangsanforderungen, wenn nicht sogar im Hinblick auf die verschärften Rechtsfolgen als weitere Erhöhung der Anforderungen an einen Zugang verstanden werden.

c) Eine teleologische Auslegung des § 189 ZPO muss die mit der Reform des Zustellungsrechts verfolgten Ziele berücksichtigen. Die Ausweitung der Heilungsmöglichkeit auf fristauslösende Zustellungen ist aus der Sicht eines Zustellungsadressaten eine deutliche Verschärfung. Vor diesem Hintergrund ist die gleichzeitige Aufnahme des Merkmals des „tatsächlichen“ Zugangs als Begrenzung der Wirkungen einer Heilung von Zustellungsfehlern zu verstehen. Die unter Verletzung wesentlicher Verfahrensvorschriften ausgeführte Zustellung soll eine Frist erst dann auslösen, wenn der Zustellungsempfänger „tatsächlich“ und nicht nur potenziell Kenntnis von dem Dokument nehmen kann (Wieczorek/Schütze/Rohe, a.a.O., § 189 Rz 26). Das Merkmal „tatsächlich“ ist danach als das Gegenstück zu „fiktiv“ zu verstehen.

Für diese Auslegung spricht auch das rechtsstaatliche Gebot einer folgerichtigen Ausgestaltung des Verfahrensrechts. Demjenigen, der Adressat einer hoheitlich betriebenen und unter Verletzung wesentlicher Formvorschriften ausgeführten Zustellung ist, dürfen keine Nachteile aus der Heilung im Vergleich zu einer ordnungsgemäßen Zustellung entstehen. Soweit die Heilung eine Frist auslöst, muss deshalb sichergestellt sein, dass die Frist auch in vollem Umfang genutzt werden kann.

d) Eine an den Rechten des Adressaten orientierte Auslegung des § 189 ZPO ist insbesondere in Bezug auf die Heilung einer Ersatzzustellung nach § 180 ZPO geboten. Diese Form der Ersatzzustellung soll der Vereinfachung des Zustellungsverfahrens dienen (s. dazu unter B.III.2.) und hat den Umfang der formellen Anforderungen an eine Zustellung im Vergleich zur früheren Rechtslage weiter abgesenkt. Während die Zustellung in ihrer ursprünglichen Gestalt als Übergabe des Dokuments an den Adressaten die Bestimmung eines sicheren Zeitpunkts der möglichen Kenntnisnahme gestattet, kann dieser Zeitpunkt im Fall der Ersatzzustellung nicht mehr konkret bestimmt werden. Die Zustellungsfiktion nach § 180 Satz 2 ZPO wird deswegen durch eine Fiktion auch des Zustellungszeitpunktes ergänzt, die an objektive Kriterien anknüpft. Je zuverlässiger diese Kriterien festgestellt werden können, umso eher kann angenommen werden, dass die Fiktion der Realität nahe kommt.

Mit der Ersatzzustellung durch Einlegen in den Briefkasten knüpft das Gesetz im Wesentlichen an Kriterien an, die nicht mit hoher Zuverlässigkeit festgestellt werden können, weil ihre Verwirklichung nicht beobachtet werden kann und auch keine Amtsträger tätig werden. Macht man die Fiktion des Zugangs von derartigen Kriterien abhängig (kritisch etwa Meissner/Schenk in Schoch/Schneider/Bier, VwGO § 56 Rz 11), verliert die fiktive Bestimmung des Zugangszeitpunkts ihre Grundlage jedenfalls dann, wenn auch nur eines dieser Kriterien infolge eines Zustellungsfehlers entfällt.

Entgegen der Auffassung des vorlegenden Senats bedeutet dies keine Besserstellung von Adressaten fehlerhafter Zustellungen gegenüber Adressaten ordnungsgemäß ausgeführter Zustellungen. Denn die Verwirklichung der Anknüpfungskriterien für die Fiktion liegt nicht im Einflussbereich des Adressaten. Vielmehr kann nur anhand des von Dritten (Zusteller) verwirklichten Anknüpfungskriteriums eine Zugangsfiktion begründet werden, nicht aber ohne dieses Kriterium.

e) Werden bei Ersatzzustellung durch Einlegen in den Briefkasten auf dem Umschlag (§ 180 Satz 3 ZPO) und auf der Zustellungsurkunde (§ 182 Abs. 2 Nr. 7 ZPO) nicht identische Datumsangaben angebracht, entfällt nach den vorstehenden Überlegungen das Anknüpfungskriterium für den fiktiven Zeitpunkt der Zustellung. Der Zeitpunkt kann dann nur in Anlehnung an den Zeitpunkt der realen Kenntnisnahme bestimmt werden. Dieser wird sich häufig nicht sicher feststellen lassen, so dass im Zweifel auf den Zeitpunkt abzustellen ist, den der Adressat selbst als Zugangszeitpunkt angibt.

f) Soweit der vorlegende Senat „objektiv-rechtlichen Zwecken der Zustellungsvorschriften“ Vorrang vor dem Schutz des Adressaten einräumt, folgt der Große Senat dem nicht. Objektiver Zustellungszweck soll danach sein, „den Zeitpunkt der Zustellung auch im Fall der Heilung einer zunächst fehlgeschlagenen Zustellung rechtssicher bestimmen zu können“. Dieser Zweckbestimmung mag für den Fall der ordnungsgemäß ausgeführten Zustellung zu folgen sein. Bei einer fehlerhaften Zustellung wird dieses Ziel aber gerade verfehlt, so dass zu seiner Erreichung an sich eine erneute und nun ordnungsgemäße Zustellung erforderlich wäre. Wenn das Gesetz aus Vereinfachungsgründen eine Heilung von Zustellungsmängeln vorsieht, stellt es den Zweck der Zustellung, dem Empfänger die Kenntnis vom Inhalt eines Dokuments zu ermöglichen, in den Vordergrund. Die rechtssichere Bestimmung des Zeitpunkts der Zustellung tritt dahinter zurück. Sie kann dann auch keinen Vorrang vor den Regelungen des Zustellungsrechts haben, die den Empfänger schützen, insbesondere die rechtssichere Bestimmung der ihm gegenüber in Gang gesetzten Frist ermöglichen sollen (vgl. MünchKommZPO/Häublein, a.a.O., § 180 Rz 7 i.V.m. § 181 Rz 12; a.A. Zöller/Stöber, a.a.O., § 189 Rz 17).

Keinen Vorrang können auch die Interessen des Zustellenden haben. Das Risiko einer misslungenen Zustellung hat derjenige zu tragen, der mit der Zustellung fristgebundene Rechtsfolgen auslösen will. Dies war schon nach bisheriger Rechtslage so, als eine Heilung bei fristauslösenden Zustellungen nicht möglich war. Es ist nicht ersichtlich, dass die Vereinfachung des Zustellungsrechts Änderungen an dieser Risikoverteilung mit sich bringen sollte. Soweit in der Begründung des Gesetzentwurfs das Interesse der zustellenden Partei in den Vordergrund gerückt wird (BTDrucks 14/4554, 24 f.), betrifft dies nur den Zugang des Dokuments selbst, nicht aber den Zeitpunkt des Zugangs.

C. Der Große Senat beantwortet die ihm vorgelegte Frage wie folgt:

Verstößt eine Ersatzzustellung durch Einlegen in den Briefkasten gegen zwingende Zustellungsvorschriften, weil der Zusteller entgegen § 180 Satz 3 ZPO auf dem Umschlag des zuzustellenden Dokuments das Datum der Zustellung nicht vermerkt hat, ist das zuzustellende Dokument i.S. des § 189 ZPO in dem Zeitpunkt dem Empfänger tatsächlich zugegangen, in dem er das Dokument in die Hand bekommt.


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