AG Wittenberg – Az.: 26 M 1954/19 – Beschluss vom 07.11.2019
Der Antrag der Gläubigerin auf Erlass eines sie zu Durchsuchung der Wohnung des Schuldners ermächtigenden Beschlusses wird zurückgewiesen.
Die Gläubigerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Gründe
I.
Die Gläubigerin ist eine gesetzliche Krankenkasse. Sie betreibt die Zwangsvollstreckung gegen den minderjährigen Schuldner wegen Beitragsforderungen zur Gesetzlichen Krankenversicherung in Höhe von 841,44 €. Der Beitragsrückstand ist dadurch entstanden, dass der Schuldner seinen beitragsfreien Versicherungsschutz in der Familienversicherung dadurch verloren hat, dass der Kindesvater Aufforderungen der Gläubigerin zur Darlegung der Voraussetzungen für das Fortbestehen der Familienversicherung ignoriert hat. Die Gläubigerin beantragt, ohne das gem. § 758a ZPO vorgeschriebene Formular zu benutzen, ihr die Durchsuchung der Wohnung des Schuldners zu gestatten.
II.

1. Es erscheint bereits zweifelhaft, ob der Durchsuchungsantrag in der erforderlichen Form gestellt worden ist. Gemäß § 758a Abs. 6 ZPO besteht für einen derartigen Antrag Formularzwang. Soweit die Antragstellerin unter Verweis auf eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs (Beschluss vom 06.02.2014, VII ZB 37/13, zitiert nach juris) hierzu eine andere Rechtsauffassung vertritt, betrifft jene Entscheidung ein Verfahren nach § 267 AO. Richtig ist, dass es sich bei der von ihr betriebenen Vollstreckung um ein Verfahren der Verwaltungsvollstreckung handelt. Das Landesverwaltungsvollstreckungsgesetz des Landes Sachsen-Anhalt verweist indessen auf die Bestimmungen der Zivilprozessordnung. Das mag aber offen bleiben, denn auch dann, wenn die Gläubigerin das eingeführte Formular nutzen würde, wäre ihr Antrag aus den nachfolgend genannten Gründen zurückzuweisen.
2. In Ausformung des Grundrechts auf Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 des Grundgesetzes) bestimmt § 758a ZPO, dass die Durchsuchung der Wohnung des Schuldners nur aufgrund gerichtlicher Ermächtigung durch das Vollstreckungsgericht vorgenommen werden darf. Dem Erlass einer derartigen Durchsuchungsermächtigung steht hier aber der staatliche Schutzauftrag aus Art. 6 des Grundgesetzes entgegen.
a) Das Gericht hegt bereits Zweifel daran, dass die Bestimmung in § 188 SGB Abs. 4 V, welche dazu führt, dass allein durch ein Versäumnis des gesetzlichen Vertreters eine eigene Beitragsverbindlichkeit nicht etwa der säumigen Eltern, sondern des Kindes begründet werden kann, mit dem Schutzauftrag des Staates aus Art. 6 des Grundgesetzes vereinbar ist. Die Begründung einer eigenen Beitragspflicht Minderjähriger allein durch ein pflichtwidriges Verhalten ihrer Eltern, welches sie regelmäßig nicht beeinflussen können und von dem sie häufig nicht einmal Kenntnis erlangen, führt nach dieser Norm vielfach dazu, dass sie -im Beitragsinteresse öffentlich-rechtlich verfasster Krankenkassen- mit hohen Verbindlichkeiten in die wirtschaftliche Selbständigkeit entlassen werden. Aus eigener Praxis sind dem erkennenden Gericht Fälle bekannt, in denen gegen Kinder aus diesem Grund bereits fünfstellige Forderungen vollstreckt werden sollten; bislang haben die antragstellenden Krankenkassen als Gläubiger die entsprechenden Anträge jedoch auf Hinweis regelmäßig zurückgenommen. Den Eltern gegenüber wären, wenn sie ihre Kinder aus Nachlässigkeit der Gefahr einer derartigen Verschuldung aussetzen und dies dem Jugendamt und/oder dem Familiengericht bekannt wäre, ohne weiteres kinderschutzrechtliche Maßnahmen gemäß den Bestimmungen der §§ 1666, 1666a und 1667 BGB zu treffen, in welchen der Schutzauftrag des Staates gem. Art. 6 Abs. 3 des Grundgesetzes seine einfachgesetzliche Ausprägung findet. Dieser verfassungsrechtlich begründete und einfachgesetzlich ausgeprägte Schutzmechanismus wird jedoch unterlaufen, wenn ohne gesetzliche Absicherung auch nur einer Information des Jugendamtes oder Familiengerichts von der das Kindesvermögen gefährdenden Lage an das Pflichtversäumnis der Eltern als Rechtsfolge unmittelbar eine eigene Beitragspflicht minderjähriger Kinder angeknüpft wird. Darüber hinaus mag auch zweifelhaft erscheinen, ob die nicht bereits die gesetzliche Begründung vollstreckbarer eigener Beitragspflichten minderjähriger Kinder auch bei Fehlen einer entsprechenden Bonität der minderjährigen Beitragsschuldner mit dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 des Grundgesetzes) vereinbar ist.
Weil es hierauf jedoch nicht entscheidungserheblich ankommt, sieht sich das erkennende Gericht nicht gehalten, das Verfahren wegen der hier nur in Ansätzen ausgeführten Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der die Vollstreckungsforderung begründenden Norm gemäß Art. 100 Abs. 1 des Grundgesetzes dem Bundesverfassungsgericht vorzulegen.
b) Denn unabhängig von dem Vorstehenden stellt sich jedenfalls die konkret beantragte Vollstreckungsmaßnahme unter dem Blickwinkel des verfassungsrechtlich in Art. 20 des Grundgesetzes als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips verankerten Gebots der Wahrung der Verhältnismäßigkeit sowie unter Berücksichtigung des staatlichen Schutzauftrages gegenüber Kindern aus Art. 6 Abs. 3 des Grundgesetzes als unzulässig dar.
aa) Die Zwangsvollstreckung richtet sich im vorliegenden Fall nicht gegen den Kindesvater, sondern gegen den minderjährigen Schuldner selbst. Die Durchsuchungsermächtigung könnte deshalb allein dazu dienen, die Wohnung und vor allem sein Kinder- bzw. Jugendzimmer unter Anwendung staatlichen Zwangs nach pfändbarer Habe des Kindes selbst zu durchsuchen. Nur die im Gewahrsam des minderjährigen Schuldners selbst stehenden Gegenstände würden deshalb vollstreckungsrechtlich überhaupt als Pfandobjekte in Betracht kommen. § 811 Abs. 1 ZPO statuiert indessen umfassende Pfändungsverbote für die dort jeweils genannten Vermögensgegenstände. Bei lebensnaher Betrachtung führen diese Pfändungsverbote jedenfalls in der Summe dazu, dass die dort vorzufindenden und zum Eigenvermögen des Kindes gehörenden Gegenstände (Kleidung, Spielsachen, Schulsachen, Unterhaltungselektronik) in aller Regel vollständigen Pfändungsschutz genießen werden. Anders wäre es, wenn zum Eigenvermögen des Kindes gehörende Wertgegenstände, insbesondere Geld oder Wertpapiere aufzufinden wären.
bb) Die Zwangsvollstreckung in Form der Durchsuchung der Wohnräume stellt jedoch einen besonders intensiven Grundrechtseingriff dar und steht deshalb unter Richtervorbehalt. Schon gegenüber dem erwachsenen Schuldner kann deshalb eine entsprechende richterliche Ermächtigung gem. § 758a ZPO nur ergehen, wenn und soweit die Verhältnismäßigkeit gewahrt ist; daran fehlt es bei gerichtsbekannter Unpfändbarkeit (vgl. etwa Zöller-Stöber, Rn. 17 zu § 758a ZPO m.w.N.). Für den minderjährigen Schuldner tritt jedoch bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der staatliche Schutzauftrag aus Art. 6 Abs. 3 des Grundgesetzes hinzu. Es kann schwerlich richtig sein, dem Staat selbst -hier in Gestalt öffentlich-rechtlich verfasster Krankenkassen- den Vollstreckungszugriff auf das Kindesvermögen in dieser intensiven Form der Durchsuchung zu ermöglichen, wenn einerseits pfändbare Habe regelmäßig schon wegen der Pfändungsverbote aus § 811 ZPO nicht zu erwarten ist und andererseits selbst dann, wenn solche vorhanden wäre, es eigentlich in Anwendung von §§ 1666, 1666a und 1667 BGB gerade zuvor Aufgabe des hierzu berufenen Jugendamts und Familiengerichts gewesen wäre, diese dem Kind durch entsprechendes Einschreiten gegenüber den Eltern zu erhalten, sie diese aber nicht wahrnehmen konnten, weil das Gesetz ihre (rechtzeitige) Information nicht vorsah. Zumindest darf aber angesichts des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes einerseits und der Pfändungsverbote aus § 811 Abs.1 ZPO andererseits für die Durchsuchungsermächtigung gegenüber Minderjährigen erwartet werden, dass der Gläubiger belastbare Anhaltspunkte dafür mitteilt, dass überhaupt pfändbare Habe des Vollstreckungsschuldners selbst angetroffen wird. Hierzu hat die antragstellende Gläubigerin jedoch auch auf gerichtlichen Hinweis nichts vorgebracht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO.