LG Saarbrücken
Az: 13 S 17/11
Urteil vom 08.04.2011
1. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Amtsgerichts Saarlouis vom 17.12.2010 – 29 C 1320/10 – abgeändert und die Beklagten unter Abweisung der Klage im Übrigen verurteilt, als Gesamtschuldner an den Kläger 2.140,85 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 26.06.2010 sowie außergerichtliche Anwaltskosten in Höhe von 272,87 € zu zahlen. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
2. Die Kosten der 1. Instanz tragen der Kläger und die Beklagten als Gesamtschuldner jeweils zu 1/2. Die Kosten der Berufungsinstanz tragen der Kläger zu 1/3 und die Beklagten als Gesamtschuldner zu 2/3.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
4. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
Der Kläger begehrt Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall, der sich am 10.05.2010 in … ereignet hat.
Der Kläger befuhr mit seinem Fahrzeug die … und wollte nach links in die … abbiegen. Dabei kam es zur Kollision mit dem Erstbeklagten, der mit seinem bei der Zweitbeklagten haftpflichtversicherten Motorroller aus Sicht des Klägers von rechts kommend die … in Geradeausrichtung befuhr. Für den Kläger und den Erstbeklagten war die Sicht auf den jeweils anderen in der Annäherung an die Unfallstelle durch eine Hecke eingeschränkt.
Der Kläger hat erstinstanzlich die Auffassung vertreten, dass der Erstbeklagte von einem anderen Straßenteil auf die Straße eingefahren sei und deshalb gegen § 10 StVO verstoßen habe.
Die Beklagten haben eingewandt, dass ein Pflichtenverstoß allein auf Klägerseite zu sehen sei, da der Kläger die Vorfahrt des Erstbeklagten missachtet habe. Für den Erstbeklagten habe sich der Unfall als ein unabwendbares Ereignis dargestellt.
Das Amtsgericht hat der Klage auf der Grundlage einer Haftung der Beklagten von 75% stattgegeben. Es hat ausgeführt, dass der Erstbeklagte gegen § 10 StVO verstoßen habe. Es sei zwar richtig, dass die … einige wenige Meter über die Einmündung der … hinausreiche. Die einheitliche Asphaltdecke ende allerdings nach nur 4 Metern und gehe in ein Verbundsteinpflaster über, das bereits Bestandteil des an Ort und Stelle befindlichen Kirchplatzes sei. Die Verlängerung der … über die Einmündung der … hinaus stelle sich daher ausschließlich als Einfahrt auf den Kirchplatz als Anliegergrundstück dar. Wer diese benutze, müsse sich wie ein Einfahrender iSd. § 10 StVO verhalten. Der Erstbeklagte hätte daher dem Kläger den Vorrang einräumen müssen. Die den Erstbeklagten treffende Wartepflicht sei jedoch nicht so eindeutig, wie dies normalerweise der Fall sei. Deshalb müsse die einfache Betriebsgefahr des klägerischen Fahrzeuges mit 25% Berücksichtigung finden.
Die Beklagten wenden sich in erster Linie gegen die Rechtsanwendung durch das Amtsgericht. Der Erstrichter sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass § 10 StVO hier Anwendung finde. Aufgrund der objektiven Merkmale sei nicht von einer Zufahrt auszugehen. Der Straßenteil sei als „…“ bezeichnet; es stehe dort sogar ein entsprechendes Verkehrsschild. Äußerlich erkennbare Merkmale wie abgesenkter Bordstein oder andersartige Oberflächenbeschaffenheit, die auf einen anderen Straßenteil hindeuten könnten, lägen hier nicht vor. Vielmehr sei es so, dass sich die … im Einmündungsbereich nicht von dem sonstigen Erscheinungsbild der Straße unterscheide. Für einen Ortsunkundigen spreche das Erscheinungsbild der Straße für die Geltung der Regel „rechts vor links“. Selbst wenn man der Argumentation des Amtsgerichts folgen wolle, so hätte der Kläger besondere Vorsicht walten lassen müssen, da durch Verkehrszeichen auf die Gefahr spielender Kinder hingewiesen werde. Schließlich rügen die Beklagten, dass der Erstrichter keinen Beweis über den tatsächlichen Unfallhergang, insbesondere zur Unvermeidbarkeit für den Erstbeklagten, erhoben habe. Insoweit sei Beweis durch Zeugen und Sachverständigengutachten angeboten worden.
Der Kläger verteidigt die erstinstanzliche Entscheidung.
II.
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig. Sie hat in der Sache teilweise Erfolg. Die nach § 529 ZPO zugrunde zu legenden Tatsachen rechtfertigen eine andere als die vom Amtsgericht getroffene Entscheidung (§ 513 Abs.1 ZPO).
1. Zutreffend und von der Berufung nicht angegriffen ist das Erstgericht davon ausgegangen, dass sowohl der Kläger als auch die Beklagten für den Unfall haften (vgl. §§ 7 Abs. 1, 17 Abs. 1, 2 StVG iVm. §. § 17 Abs. 3 StVG darstellt. Einer weiteren Beweisaufnahme über die Frage der Vermeidbarkeit des Unfalls bedarf es daher nicht mehr.
2. Allerdings begegnet die Haftungsabwägung des Amtsgerichts gemäß § 17 Abs. 1, 2 StVG insoweit Bedenken, als der Erstrichter zu einer überwiegenden Haftung der Beklagten gelangt ist. Unter den gegebenen Umständen des Einzelfalls führt die Abwägung der wechselseitigen Verursachungs- und Verschuldensanteile der Fahrer unter Berücksichtigung der Betriebsgefahr der beteiligten Fahrzeuge zu einer Haftungsteilung.
a) Ob der Erstbeklagte vorliegend den Sorgfaltsmaßstab des § 10 S. 1 StVO zu beachten hatte, wie der Erstrichter angenommen hat, kann im Ergebnis dahinstehen. Auch im Rahmen des § 10 S. 1 StVO ist nämlich anerkannt, dass der Vorfahrtberechtigte in seinem Vertrauen auf den Vorrang des fließenden Verkehrs (vgl. dazu BGHSt 28, 218, 220; Burmann/Heß/Jahnke/Janker Straßenverkehrsrecht, 21. Aufl., § 10 StVO Rn. 14; Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 41. Aufl., § 10 StVO Rn. 8 mwN.) nicht geschützt ist, wenn ihm mangels eindeutiger Kriterien Zweifel kommen müssen, ob ein Verkehrsweg zu der von ihm befahrenen Straße eine vorfahrtberechtigte Straßeneinmündung oder eine untergeordnete Grundstücksausfahrt ist (vgl. BGH, Urteil vom 23.06.1987 – VI ZR 296/86, NJW-RR 1987, 1237; Hentschel aaO Rn. 6). Der Kraftfahrer muss in einer solchen Situation von der Rechtsbedeutung ausgehen, die ihm ungünstiger ist und ihm eine höhere Sorgfalt abverlangt (BGH, Urteil vom 05.10.1976 – VI ZR 256/76, VersR 1977, 58; Urteil vom 14.10.1986 – VI ZR 139/85, NJW 1987, 435). So liegt der Fall hier. Der Kläger durfte aufgrund der örtlichen Besonderheiten nicht auf einen etwaigen Vorrang vertrauen. Eine eindeutige Zuordnung des Verkehrsweges, aus dem der Erstbeklagte herausgefahren ist, ist aufgrund des täuschenden Gesamtbildes nicht möglich (vgl. BGH, Urteil vom 05.10.1976 aaO; Hentschel aaO Rn. 6). Für die Einordnung als untergeordnete Zuwegung spricht zwar, dass – wie das Amtsgericht zu Recht ausgeführt hat – der kurze geteerte Abschnitt ersichtlich keinem anderen verkehrsrechtlichen Zweck als der Zufahrt zum Kirchplatz dient (zur Bedeutung der verkehrsrechtlichen Bestimmung im Rahmen des § 10 StVO vgl. BGH, Urteil vom 23.06.1987 aaO). Gegen eine solche Einordnung sprechen aber die beiden Straßenschilder, die in diesem Bereich angebracht sind, vor allem aber der Ausbau und die Gestaltung des Straßenabschnitts. Der Bereich, in dem die … auf den als „…“ gekennzeichneten Verkehrsweg trifft, ist in allen Fahrtrichtungen gleichermaßen ausgebaut. Der Straßenbelag wie auch die Bebauung der Fahrbahnränder und der Gehwege sind aus allen Fahrbahnrichtungen im Einmündungsbereich identisch. Aus der Fahrtrichtung des Klägers bieten sich deshalb keine objektiven Hinweise dafür, dass es sich um eine Aus- bzw. Zufahrt zu einer Fläche iSd. § 10 S. 1 StVO handeln könnte. Aus der Sicht eines Kraftfahrers anstelle des Klägers muss sich vielmehr die Vorstellung aufdrängen, an eine Einmündung bzw. Kreuzung heranzufahren, bei der – mangels ausdrücklicher Regelung – rechts vor links gilt. Ausgehend von diesen unklaren Verkehrsverhältnissen wäre der Kläger im Rahmen des allgemeinen Rücksichtnahmegebots (§ 1 Abs. 2 StVO) zu besonderer Vorsicht verpflichtet gewesen. Dies gilt erst recht, weil die Sicht des Klägers nach rechts unstreitig eingeschränkt war. Der Kläger hätte deshalb seine Geschwindigkeit herabsetzen, bremsbereit sein und vorsichtig in den Bereich einfahren müssen, um rechtzeitig vor kreuzenden Fahrzeugen anhalten zu können (vgl. BGH, Urteil vom 14.10.1986 aaO). Das hat der Kläger unstreitig nicht getan. Dass dem Kläger als Ortskundigen bekannt war, dass die … in diesem Bereich der Zufahrt zum Kirchplatz dient, ändert hieran nichts. Denn es kommt für die Beurteilung des Gesamtbildes auf die Umstände bei objektiver Betrachtung an (vgl. BGH, Urteil vom 20.11.2007 – VI ZR 8/07, NJW 2008, 1305).
b) Aber auch der Erstbeklagte durfte aufgrund dieser besonderen örtlichen Verhältnisse ungeachtet der Frage, ob er tatsächlich vorfahrtberechtigt war, nicht auf eine ihm gemäß § 8 Abs 1 StVO zustehende Vorfahrt vertrauen. Der allgemeine Grundsatz, dass der Berechtigte auf die Beachtung seiner Vorfahrt, auch gegenüber nicht sichtbar Wartepflichtigen, vertrauen darf, gilt dann nicht, wenn konkrete Umstände Anlass zu der Befürchtung geben, ein anderer Verkehrsteilnehmer werde die Vorfahrt verletzen (Kammer, Urteil vom 09.07.2010 – 13 S 27/10 mwN.). Solche Umstände können nicht nur in dem erkannten oder erkennbaren Verhalten eines anderen Verkehrsteilnehmers, sondern auch in den örtlichen Verhältnissen an der Kreuzung oder Einmündung liegen (vgl. Kammer aaO mwN.). Vorliegend war nicht nur die Sicht des Erstbeklagten auf den von links kommenden Verkehr eingeschränkt, sondern es lag auch eine unklare Verkehrssituation vor, da zweifelhaft war, welche Vorfahrtregelung gilt. Bestand aber eine Unsicherheit, ob der Erstbeklagte noch oder überhaupt bevorrechtigt war, musste er – ebenso wie der Kläger – eine für ihn ungünstigere und ihm eine höhere Sorgfalt abverlangende Regelung in Betracht ziehen und sich danach verhalten. Unter diesen Umständen hätte sich auch der Erstbeklagte aufgrund des allgemeinen Rücksichtnahmegebots (§ 1 Abs. 2 StVO) der Einmündung zumindest vorsichtig nähern und darauf gefasst sein müssen, dass der von links kommende Verkehr die Vorfahrt nicht beachten werde. Er hätte demnach seine Geschwindigkeit so weit reduzieren müssen, bis er sich davon überzeugt hatte, dass sich von links kein Verkehrsteilnehmer näherte, mit dem er zusammenstoßen konnte (vgl. Kammer aaO mwN.; vgl. auch BGH, Urteil vom 20.11.2007 aaO). Diesen Anforderungen ist der Erstbeklagte nicht gerecht geworden. Er hat weder seine Geschwindigkeit bei Annäherung an die Einmündung herabgesetzt noch den von rechts kommenden Verkehr näher beobachtet, wie sich bereits aus seinen eigenen Ausführungen in der informatorischen Anhörung vor dem Amtsgericht ergibt.
c) Bei der Haftungsabwägung geht die Kammer davon aus, dass die Führer der beteiligten Fahrzeuge den Unfall gleichermaßen mitverschuldet haben. Der Kläger und der Erstbeklagte hatten – wie ausgeführt – die gleiche Sorgfalt anzuwenden. Dies rechtfertigt angesichts gleicher Betriebsgefahr der Fahrzeuge eine Haftungsteilung zwischen den Parteien. Dem steht die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 14.10.1986 – IV ZR 139, 85, aaO nicht entgegen. Der Bundesgerichtshof hat zwar in dieser Entscheidung das Verschulden eines Vorfahrtsberechtigten, der aus einer über abgeflachte Bordsteine „überführten“ Zufahrt auf eine Durchgangsstraße eingefahren war, gegenüber dem Verschulden des Wartepflichtigen überwiegen lassen. Der Streitfall unterscheidet sich aber wesentlich von der durch den Bundesgerichtshof entschiedenen Fallgestaltung dadurch, dass sich hier beiden Fahrzeugführern in gleichem Maße Zweifel an ihrer Vorfahrtberechtigung aufdrängen mussten, während dort der Wartepflichtige zu einer vermeidbaren Fehleinschätzung verleitet worden war (vgl. BGH, Urteil vom 14.10.1986 aaO Gründe II. 5.).
3. Damit ergibt sich folgende Schadensabrechnung:
Reparaturkosten netto: 3.512,26 €
Wertminderung: 200,00 €
Sachverständigenkosten: 544,43 €
Unkostenpauschale: 25,00 €
Gesamtschaden: 4.281,69 €
Davon 1/2: 2.140,85 €
4. Die außergerichtlichen Kosten des Prozessbevollmächtigten des Klägers sind Teil des ersatzfähigen Schadens nach § 249 Abs. 2 S. 1 BGB. Danach sind vorgerichtliche Rechtsanwaltsgebühren für die Geltendmachung des ersatzfähigen Schadens von 2.140,85 € (1,3 Geschäftsgebühr VV 2300: 209,30 € + Auslagenpauschale VV 7002: 20,-€ zzgl. 19% MWSt =), mithin 272,87 € ersatzfähig.
Die Zinsentscheidung folgt aus §§ 286, 288 Abs. 1 BGB.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 92 Abs. 1, 97 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit findet ihre Grundlage in §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO iVm. § 26 Nr. 8 EGZPO.
Die Revision ist nicht zuzulassen. Die Rechtssache erlangt keine grundsätzliche über den konkreten Einzelfall hinausgehende Bedeutung und die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordert nicht die Entscheidung des Revisionsgerichts (§ 543 Abs. 2 ZPO).