Verwaltungsgericht Schleswig-Holstein – Az.: 1 B 31/20 – Beschluss vom 27.03.2020
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.
Die Antragsteller tragen die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 5.000 € festgesetzt.
Gründe
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig, jedoch nicht begründet.
Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) kann das Gericht zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis eine einstweilige Anordnung treffen, wenn diese Regelung notwendig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden. Erforderlich ist danach zum einen das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d.h. die Notwendigkeit einer Eilentscheidung, und zum anderen ein Anordnungsanspruch, also ein rechtlicher Anspruch auf die begehrte Maßnahme. Dem Wesen und Zweck einer einstweiligen Anordnung entsprechend kann das Gericht im einstweiligen Anordnungsverfahren grundsätzlich nur vorläufige Regelungen treffen und einem Antragssteller nicht schon das zusprechen, was er – sofern ein Anspruch besteht – nur in einem Hauptsacheverfahren erreichen könnte. Dieser Grundsatz des Verbotes einer Vorwegnahme der Hauptsacheentscheidung gilt jedoch im Hinblick auf den durch Artikel 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) gewährleisteten wirksamen Rechtschutz dann nicht, wenn die erwarteten Nachteile bei einem Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache unzumutbar wären und ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg in der Hauptsache spricht.
Es besteht vorliegend im Hinblick auf eine mögliche Strafbarkeit der beabsichtigten Nutzung der Zweitwohnung der Antragsteller gemäß § 75 Absatz 1 Nr. 1, Absatz 3 IfSG in Verbindung mit Ziffer 5 der Allgemeinverfügung des Antragsgegners zur Nutzung von Nebenwohnungen und zum Verbot und zur Beschränkung von Kontakten in besonderen öffentlichen Bereichen zur Bekämpfung der Ausbreitung des neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 vom 23. März 2020 eine besondere Eilbedürftigkeit und das Abwarten einer rechtskräftigen Entscheidung im Verfahren der Hauptsache ist für die Antragsteller nicht zumutbar. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts stellt der Verweis auf ein im etwaigen Bußgeldverfahren, gleiches gilt für ein Strafverfahren, zur Verfügung stehendes Rechtsmittel keinen ausreichenden effektiven Rechtsschutz dar. Einem Betroffenen sei es nicht zuzumuten, die Klärung verwaltungsrechtlicher Zweifelsfragen auf der Anklagebank erleben zu müssen. Der Betroffene habe vielmehr ein schutzwürdig anzuerkennendes Interesse daran, den Verwaltungsrechtsweg als fachspezifischere Rechtsschutzform einzuschlagen, insbesondere, wenn ein Ordnungswidrigkeitenverfahren oder Strafverfahren droht. Seien die Gerichte zur Sachprüfung verpflichtet, könnten sie sich auch einer Entscheidung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren insoweit nicht entziehen (BVerfG, Beschluss vom 7. März 2003 – 1 BvR 2129/02 – NVwZ 2003, 856). Dies bedeutet für den vorliegenden Fall, dass sowohl ein Bedürfnis für eine gerichtliche Eilentscheidung vorliegt, als auch, dass einer gerichtlichen Eilentscheidung nicht der Grundsatz des Verbots einer Vorwegnahme der Entscheidung in der Hauptsache entgegensteht.
Der Antrag ist vorliegend auf die vorläufige Feststellung des Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gerichtet. Im Verfahren der Hauptsache wäre dazu die Feststellungsklage statthaft. Nach § 43 Abs. 1 VwGO kann durch Klage die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses begehrt werden, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an der baldigen Feststellung hat. Unter einem feststellungsfähigen Rechtsverhältnis sind die rechtlichen Beziehungen zu verstehen, die sich aus einem konkreten Sachverhalt aufgrund einer öffentlich-rechtlichen Norm für das Verhältnis von (natürlichen oder juristischen) Personen untereinander oder einer Person zu einer Sache ergeben, kraft deren einer der beteiligten Personen etwas bestimmtes tun muss, kann oder darf oder nicht zu tun braucht (BVerwG, Urteil vom 26. Januar 1996 – 8 C 19.94 – BVerwGE 100, 262). Rechtliche Beziehungen haben sich nur dann zu einem Rechtsverhältnis im Sinne des § 43 Abs. 1 VwGO verdichtet, wenn die Anwendung einer bestimmten Norm des öffentlichen Rechts auf einen bereits übersehbaren Sachverhalt streitig ist (BVerwG, Urteil vom 7. Mai 1987 – 3 C 53.85 – BVerwGE 77, 207). Vorliegend ist zwischen den Antragstellern und dem Antragsgegner als zuständiger Gesundheitsbehörde streitig, ob die Allgemeinverfügung mit ihrem Verbotstatbestand auf die Antragsteller Anwendung findet. Die durch die Allgemeinverfügung begründete Pflichtenbeziehung zwischen den Beteiligten hat sich durch den gegenteiligen Rechtsstandpunkt des Antragsgegners und die damit verbundene Behauptung der rechtlichen Unzulässigkeit der beabsichtigten Anreise der Antragsteller zu dem Ort ihrer Nebenwohnung zu einem Rechtsverhältnis im Sinne von § 43 Abs. 1 VwGO verdichtet. Die Antragsteller haben auch ein berechtigtes Interesse an der begehrten Feststellung.
Der Antrag ist jedoch nicht begründet. Der von den Antragstellern geltend gemachte Anordnungsanspruch besteht nicht mit dem nach obigen Maßstäben erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit.
Die beabsichtigte Anreise der Antragsteller ist durch die Allgemeinverfügung des Kreises Nordfriesland untersagt. Nach Ziffer 5 der Allgemeinverfügung ist die Anreise in den Kreis Nordfriesland zur Nutzung einer im Kreis gelegenen Nebenwohnung untersagt, wenn diese aus touristischem Anlass im Sinne von § 2 der Landesverordnung über Maßnahmen zur Bekämpfung der Ausbreitung des neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 in Schleswig-Holstein vom 17. März 2020 erfolgt.
Unter welchen Voraussetzungen ein touristischer Anlass in diesem Sinne vorliegt, ist in der Allgemeinverfügung wie auch in der genannten Landesverordnung positiv nicht näher definiert. Es kann – und muss voranging – jedoch anhand von Wortlaut, Sinn und Zweck sowie Systematik der Allgemeinverfügung selbst ermittelt werden, welchen Regelungsgehalt diese hat. Auf den allgemeinen Wortsinn kommt es nur als äußerste Auslegungsgrenze an. Der von den Antragstellern verfolgte Zweck der Anreise an den Nebenwohnsitz zur Führung ihres von Art. 6 Abs. 1 GG geschützten Familienlebens sowie zur Ausübung ihrer von Art. 12 Abs. 1 GG geschützten beruflichen Tätigkeit im Wege des Home-Office ist danach als „touristischer Anlass“ im Sinne der Ziffer 5 Satz 1 der Allgemeinverfügung einzuordnen.
Dem liegen die folgenden Erwägungen zugrunde:
Nach der Formulierung in Ziffer 5 Satz 2 wird – in Ergänzung zu Satz 1 – unter der Anreise zu einem touristischen Anlass auch die Anreise zu Freizeitzwecken, zu Fortbildungszwecken oder zur Inanspruchnahme von vermeidbaren oder aufschiebbaren Maßnahmen der medizinischen Versorgung, Vorsorge oder Rehabilitation verstanden bzw. werden solche Anreisezwecke dem grundsätzlichen Verbot jedenfalls gleichgesetzt. Daraus wird die grundsätzliche Entscheidung des Antragsgegners deutlich, dass jegliche Form vermeidbarer Anreisen – selbst wenn hierfür (mittelfristig) eine medizinische Indikation besteht – untersagt ist.
Aus den zur Ermittlung des Regelungsgehaltes der Ziffer 5 ebenfalls in den Blick zu nehmenden Ausschlusstatbeständen des Satzes 4 kann gefolgert werden, wann insbesondere im Bereich einer beruflichen Tätigkeit eine „touristische Nutzung“ im Sinne der Allgemeinverfügung vorliegt. Denn ausweislich der dort normierten Negativliste liegt insbesondere keine touristische Nutzung vor, wenn die Nebenwohnung aus zwingenden gesundheitlichen, beruflichen sowie aus ehe-, sorge- und betreuungsrechtlichen Gründen genutzt wird.
Dabei werden die zwingenden Gründe in der nachfolgenden Aufzählung weiter konkretisiert. So liegt insbesondere dann keine Anreise aus touristischem Anlass vor, wenn
- Verwandte 1. Grades, die Ehegattin, der Ehegatte, die Lebenspartnerin oder der Lebenspartner in der Nebenwohnung ihren derzeitigen Aufenthaltsort haben,
- eine zwingende Betreuung von betreuungs- oder pflegebedürftigen Familienangehörigen in oder bei der Nebenwohnung sichergestellt werden soll,
- eine am Hauptwohnsitz nicht zu gewährleistende Trennung von Personen vorzunehmen ist, die aufgrund behördlicher Anordnung unter häusliche Quarantäne gestellt wurden, oder
- zwingende und nicht aufschiebbare Erhaltungs- und Sicherungsmaßnahmen an der Nebenwohnung vorzunehmen sind, wobei dies nicht für Renovierungsarbeiten gilt.
Der Aufzählung lässt sich – systematisch konsequent zur Regelung in Ziffer 5 Satz 2 – das an Sinn und Zweck der Ausbreitungseindämmung des Coronavirus SARS-CoV-2 orientierte Auslegungsergebnis entnehmen, dass nur Anreisen aus zwingenden und nicht aufschiebbaren (beruflichen) Gründen unter den Ausnahmetatbestand fallen. Im Umkehrschluss sind solche Anreisen verboten, die zwar beruflichen, aber keinen zwingenden beruflichen Zwecken dienen. Dies wird auch durch die Untersagung von Anreisen zu Fortbildungszwecken verdeutlicht. Dieses Auslegungsergebnis ist auch mit dem Wortlaut vereinbar. Denn „touristisch“ bedeutet laut Duden „den Tourismus betreffend, für den Tourismus charakteristisch, zum Tourismus gehörend“. Zwar geben die Antragsteller an, in ihrer Nebenwohnung auch beruflichen Zwecken nachgehen zu wollen. Insgesamt ist die Anschaffung und Unterhaltung einer Nebenwohnung an der (Nordsee-)Küste Schleswig-Holsteins jedoch als „zum Tourismus gehörend“ einzuordnen, denn gerade St. Peter-Ording ist maßgeblich touristisch geprägt. Es liegt auf der Hand, dass die Antragsteller hier also jedenfalls auch Erholungszwecken nachgehen, die ihnen nur die Besonderheiten der Landschaft und Natur am Nebenwohnsitz ermöglichen.
Die Erteilung einer Ausnahmegenehmigung können die Antragsteller nicht für sich beanspruchen.
Der Regelung in Ziffer 5 liegt die grundsätzliche Wertung des Antragsgegners zugrunde, dass individuelle grundrechtlich geschützte Positionen für den Zeitraum der Gültigkeit der Allgemeinverfügung hinter dem verfassungsrechtlich geschützten Gut der Volksgesundheit und der Funktionsfähigkeit staatlicher Strukturen der (intensivmedizinischen) Daseinsvorsorge zurückzutreten haben, sollten nicht ausnahmsweise schwerwiegende Gründe für den (vorrangigen) Schutz von Individualrechtgütern streiten. Hiergegen bestehen angesichts der Unvorhersehbarkeit der Folgen des vorliegenden Pandemiefalles auf das deutsche Gesundheitssystem keine grundsätzlichen rechtlichen Bedenken (vgl. zur Anwendbarkeit der auf der Grundlage des § 28 Abs. 1 Infektionsschutzgesetz – IfSG – erlassenen Rechtsverordnungen und Erlasse: Beschluss der Kammer vom 25. März 2020 – 1 B 30/20 –, juris). Dabei muss Berücksichtigung finden, dass die Exekutive im Rahmen der ihr durch die gesetzliche Ermächtigungsgrundlage des § 28 Abs. 1 IfSG eingeräumten Befugnisse handelt, soweit die von ergriffenen Maßnahmen grundsätzlich von den zu Rate gezogenen Experten für Virologie und Epidemiologie für sinnvoll erachtet werden. Dass dies der Fall ist, ergibt sich aus der Begründung der angegriffenen Allgemeinverfügung und den maßgeblichen Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts.
Dass hier schwerwiegenden individualrechtlichen Interessen der Antragsteller im Wege einer praktischen Konkordanz mittels einer Ausnahmegenehmigung zu hinreichender Geltung verholfen werden müsste, ist nicht ersichtlich. Eine Anreise ist für die Antragsteller, denen offensichtlich eine Hauptwohnung an anderer Stelle zur Verfügung steht, aus beruflichen Gründen weder zwingend noch unaufschiebbar im obigen Sinne. Hierfür ist ihrem Vortrag nichts zu entnehmen. Die allein bevorzugte Ausübung ihrer Home-Office-Tätigkeit aus der Nebenwohnung heraus und Führung ihres üblichen Familienlebens mit ihren zwei minderjährigen Kindern in dieser vermag keinen zwingenden beruflichen oder vergleichbar gewichtigen Anlass zu begründen. Vielmehr können die Antragsteller sowohl ihrer beruflichen Tätigkeit als auch dem gemeinsamen Familienleben unter Verbleib an ihrem Hauptwohnsitz nachgehen, zumal jedenfalls der Antragsteller zu 1. offensichtlich die zusätzliche Möglichkeit hat, seinen beruflichen Belangen in seinen Büroräumen nachzugehen. Mit Blick auf dessen berufliche Tätigkeit wäre auch nicht auszuschließen, dass er zu Präsenzterminen während der Gültigkeit der Allgemeinverfügung wieder zurück nach B-Stadt pendeln muss, sich dort einem erhöhten Risiko des Kontaktes mit dem Virus aussetzt und sodann unter „Verschleppung“ des Virus nach Schleswig-Holstein wieder zurück an den Nebenwohnsitz kehrt und hier die Ansteckungsgefahr und damit letztlich die Gefahr der Inanspruchnahme medizinischer Kapazitäten erhöht.
Folglich war der Antrag mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, 2, 52 Abs. 2, 63 Abs. 2 Gerichtskostengesetz (GKG) und berücksichtigt die ständige Rechtsprechung des OVG Schleswig-Holstein, nach der der Auffangstreitwert des § 52 Abs. 2 GKG im summarischen Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes keiner Herabsetzung unterliegt.
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