Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen – Az.: 13 B 2070/20.NE – Beschluss vom 30.12.2020
§ 13 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 der Verordnung zum Schutz vor Neuinfizierungen mit dem Coronavirus Sars-CoV-2 vom 30. November 2020 (GV. NRW. S. 1060a) in der zuletzt durch Art. 1 der Verordnung vom 22. Dezember 2020 (GV. NRW. S. 1212a) geänderten Fassung wird insoweit vorläufig außer Vollzug gesetzt, als in dieser Regelung Versammlungen nach dem Versammlungsgesetz am 31. Dezember 2020 untersagt werden.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 5.000 Euro festgesetzt.
Gründe
Die Antragstellerin plant am 31. Dezember 2020 von 14 bis 15 Uhr die Durchführung einer Versammlung unter freiem Himmel in E. am X.———weg vor der S. unter dem Motto „Grundrechte erhalten – Pandemie eindämmen“, zu der sie bis zu sechs, maximal zehn Personen erwartet. Ihr sinngemäßer Antrag,
§ 13 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 CoronaSchVO insoweit vorläufig außer Vollzug zu setzen, als in dieser Regelung Versammlungen nach dem Versammlungsgesetz am 31. Dezember 2020 untersagt werden,
hat Erfolg. Er ist gemäß § 47 Abs. 6, Abs. 1 Nr. 2 VwGO i. V. m. § 109a JustG NRW statthaft und auch im Übrigen zulässig. Der Antrag ist auch begründet. Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 47 Abs. 6 VwGO liegen vor. Nach dieser Bestimmung kann das Normenkontrollgericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist.
Prüfungsmaßstab im Verfahren auf Erlass einer normbezogenen einstweiligen Anordnung sind zunächst die Erfolgsaussichten des in der Sache anhängigen Normenkontrollantrags, soweit sich diese im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bereits absehen lassen. Ergibt die Prüfung der Erfolgsaussichten, dass der Normenkontrollantrag voraussichtlich unzulässig oder unbegründet sein wird, ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen nicht dringend geboten. Erweist sich dagegen der Antrag als zulässig und (voraussichtlich) begründet, so ist dies ein wesentliches Indiz dafür, dass der Vollzug bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache suspendiert werden muss. In diesem Fall kann eine einstweilige Anordnung ergehen, wenn der (weitere) Vollzug vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren Nachteile befürchten lässt, die unter Berücksichtigung der Belange des Antragstellers, betroffener Dritter und/oder der Allgemeinheit so gewichtig sind, dass eine vorläufige Regelung mit Blick auf die Wirksamkeit und Umsetzbarkeit einer für den Antragsteller günstigen Hauptsacheentscheidung unaufschiebbar ist. Lassen sich die Erfolgsaussichten des Normenkontrollverfahrens nicht abschätzen, ist über den Erlass einer beantragten einstweiligen Anordnung im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden: Gegenüberzustellen sind die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, das Hauptsacheverfahren aber Erfolg hätte, und die Nachteile, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, das Normenkontrollverfahren aber erfolglos bliebe. Die für den Erlass der einstweiligen Anordnung sprechenden Erwägungen müssen die gegenläufigen Interessen dabei deutlich überwiegen, mithin so schwer wiegen, dass der Erlass der einstweiligen Anordnung – trotz offener Erfolgsaussichten der Hauptsache – dringend geboten ist.
Vgl. BVerwG, Beschluss vom 25. Februar 2015 – 4 VR 5.14 -, juris, Rn. 12; OVG NRW, Beschlüsse vom 6. April 2020 – 13 B 398/20.NE -, juris, Rn. 32, und vom 26. August 2019 – 4 B 1019/19.NE -, juris, Rn. 12; Nds. OVG, Beschluss vom 17. Februar 2020 – 2 MN 379/19 -, juris, Rn. 24, m. w. N.; Ziekow, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 47 Rn. 395.
Nach dieser Maßgabe ist der Erlass einer normenbezogenen einstweiligen Anordnung dringend geboten. Nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nur möglichen summarischen Prüfung erweist sich das von der Antragstellerin angegriffene Versammlungsverbot an Silvester aus § 13 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 CoronaSchVO voraussichtlich als rechtswidrig und würde in einem Hauptsacheverfahren für unwirksam erklärt werden (A.). Zudem überwiegen die Gründe für die einstweilige Außervollzugsetzung die für den weiteren Vollzug der Verordnung sprechenden Gründe (B.).
A. Es bestehen zwar keine offensichtlich durchgreifenden Bedenken dagegen, dass es sich bei §§ 32 Satz 1, 28 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2, 28a Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 IfSG um eine den verfassungsmäßigen Anforderungen genügende Verordnungsermächtigung für Untersagungen von Versammlungen im Sinne von Art. 8 GG handelt.
V
gl. insoweit allgemein zur Einfügung des § 28a IfSG durch Art. 1 Nr. 17 des Dritten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 18. November 2020 (BGBl. I S. 2397): OVG NRW, Beschluss vom 15. Dezember 2020 – 13 B 1731/20.NE -, juris, Rn. 23 ff.
Das pauschale Verbot von Versammlungen im Sinne von Art. 8 GG am 31. Dezember 2020 dürfte sich aber aller Voraussicht nach als rechtswidrig erweisen. Die Tatbestandsvoraussetzungen der Ermächtigungsgrundlage §§ 32 Satz 1, 28 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2, 28a Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 IfSG dürften voraussichtlich nicht vorliegen (1.). Ferner dürfte sich das Verbot als unverhältnismäßig erweisen (2.).
1. Nach § 32 Satz 1 IfSG können die Landesregierungen unter den Voraussetzungen, die für Maßnahmen nach den §§ 28 bis 31 IfSG maßgebend sind, auch durch Rechtsverordnungen entsprechende Gebote und Verbote zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten erlassen. Sie können gemäß § 32 Satz 2 IfSG die Ermächtigung zum Erlass von Rechtsverordnungen nach Satz 1 der Vorschrift durch Rechtsverordnung – oder wie hier nach § 10 IfSBG-NRW durch verordnungsvertretendes Gesetz (Art. 80 Abs. 4 GG) – auf andere Stellen übertragen. Werden Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt oder ergibt sich, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war, so trifft die zuständige Behörde nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 IfSG die notwendigen Schutzmaßnahmen, insbesondere die in § 28a Abs. 1 und in den §§ 29 bis 31 IfSG genannten, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist. § 28a IfSG begrenzt die Möglichkeit solcher Schutzmaßnahmen grundsätzlich (vgl. § 28a Abs. 7 IfSG) auf die Dauer der Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite nach § 5 Abs. 1 Satz 1 IfSG durch den Deutschen Bundestag. Der neu geschaffene § 28a Abs. 1 Satz 1 IfSG listet in 17 Nummern auf, welche Schutzmaßnahmen insbesondere ergriffen werden können. § 28a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 IfSG stellt für die Untersagung von Versammlungen oder Aufzügen im Sinne von Art. 8 GG die zusätzliche Voraussetzung auf, dass ohne diese unter Berücksichtigung aller bisher getroffener anderer Schutzmaßnahmen eine wirksame Eindämmung der Verbreitung von COVID-19 erheblich gefährdet wäre.
Für den Senat ist nicht ersichtlich, dass auch unter Berücksichtigung aller bisher getroffenen anderen Schutzmaßnahmen eine wirksame Eindämmung der Verbreitung der Coronavirus-Krankheit-2019 ohne ein pauschales Versammlungsverbot an Silvester erheblich gefährdet wäre.
Der Verordnungsgeber hat in der Begründung zur Coronaschutzverordnung hierzu ausgeführt, insbesondere um den Jahreswechsel müssten Ansammlungen einer Vielzahl von Menschen vermieden werden, weil solche Ansammlungen in diesem Zeitraum erfahrungsgemäß ein besonderes Risiko der Verletzung der AHA-Regeln durch ausgelassene Feiern bedingten. Das Risiko, Versammlungen zu einer bewussten Umgehung des Feierverbots zu nutzen, überwiege hier den zeitlich eng begrenzten Eingriff in die Versammlungsfreiheit.
Vgl. Begründung zur Coronaschutzverordnung vom 30. November 2020 in der ab 16. Dezember 2020 gültigen Fassung, abrufbar unter https://www.mags.nrw/sites/default/files/asset/document/201217_begruendung_coronaschvo_ab_16.12.2020.pdf
Dieser Argumentation vermag der Senat nicht zu folgen. Zur Verhinderung der Ansammlung einer Vielzahl von Menschen an Silvester und Neujahr dürften die Vorschriften in § 2 Abs. 1 und 1a CoronaSchVO ausreichen, wonach Partys und vergleichbare Feiern generell untersagt sind und im öffentlichen Raum zu anderen Personen grundsätzlich – Ausnahmen ergeben sich aus § 2 Abs. 2 CoronaSchVO – ein Mindestabstand von 1,5 Metern einzuhalten ist. Ergänzt wird diese Vorschrift durch das in § 2 Abs. 5 CoronaSchVO normierte Alkoholverbot im öffentlichen Raum, das einer alkoholbedingten Enthemmung, die zu Verstößen gegen die AHA-Regeln führen kann, vorbeugen soll.
Vgl. Begründung zur Coronaschutzverordnung vom 30. November 2020, in der ab 16. Dezember 2020 gültigen Fassung, abrufbar unter
Es ist für den Senat nicht ersichtlich, dass diese Regelungen nicht ausreichen sollen, um eine Weiterverbreitung der Pandemie speziell an Silvester wirksam einzudämmen. Dass ein Sichberufen auf das Versammlungsrecht als Vorwand für ein bloßes Feiern in großer Runde im öffentlichen Raum ein derart massenhaftes Phänomen darstellen wird, das man dem nur mit einem pauschalen Versammlungsverbot und nicht mit Einzelmaßnahmen Herr werden kann, drängt sich nicht auf. Dies gilt insbesondere für ein Versammlungsverbot während des gesamten Tages.
2. Jedenfalls dürfte sich das Versammlungsverbot an Silvester als nicht verhältnismäßig erweisen. Selbst wenn man unterstellte, das Versammlungsverbot an Silvester sei zur Pandemiebekämpfung geeignet und erforderlich, ist es jedenfalls nicht angemessen. Angemessen, d. h. verhältnismäßig im engeren Sinne, ist eine freiheitseinschränkende Regelung, wenn das Maß der Belastung des Einzelnen noch in einem vernünftigen Verhältnis zu den der Allgemeinheit erwachsenden Vorteilen steht. Hierbei ist eine Abwägung zwischen den Gemeinwohlbelangen, deren Wahrnehmung der Eingriff in Grundrechte dient, und den Auswirkungen auf die Rechtsgüter der davon Betroffenen notwendig. Die Interessen des Gemeinwohls müssen umso gewichtiger sein, je empfindlicher der Einzelne in seiner Freiheit beeinträchtigt wird. Zugleich wird der Gemeinschaftsschutz umso dringlicher, je größer die Nachteile und Gefahren sind, die aus gänzlich freier Grundrechtsausübung erwachsen können.
St. Rspr., vgl. etwa BVerfG, Urteil vom 26. Februar 2020 – 2 BvR 2347/15 -, juris, Rn. 265, m. w. N.
Das pauschale Versammlungsverbot an Silvester greift erheblich in die Rechte aus Art. 8 Abs. 1 GG von Personen ein, die an diesem Tag eine Versammlung abhalten wollen. Die Einschätzung des Verordnungsgebers, es sei nicht ersichtlich, dass besonders schutzwürdige inhaltliche Interessen für Versammlungen an Silvester und Neujahr bestünden,
Vgl. Begründung zur Coronaschutzverordnung vom 30. November 2020, in der ab 16. Dezember 2020 gültigen Fassung, abrufbar unter https://www.mags.nrw/sites/default/files/asset/document/201217_begruendung_coronaschvo_ab_16.12.2020.pdf,
überzeugt nicht. Zum einen ist nicht abzusehen, welche konkreten Anlässe es an diesen Tagen geben kann, die bei bestimmten Bürgern den Wunsch wecken, ihre Meinung hierzu öffentlich kundzutun. Art. 8 Abs. 1 GG gewährleistet zum anderen nicht nur die Freiheit, an einer öffentlichen Versammlung teilzunehmen oder ihr fern zu bleiben, sondern beinhaltet zugleich ein Selbstbestimmungsrecht des Veranstalters über die Modalitäten wie Zeitpunkt, Ort, Art und Inhalt der Veranstaltung. Die Bürger sollen damit selbst entscheiden können, wie sie ihr Anliegen am Wirksamsten zur Geltung bringen können.
Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 29. Dezember 2016 – 15 B 1500/16 -, juris, Rn. 8 f., m. w. N.
Auch wenn man den hohen Stellenwert des bezweckten Gesundheitsschutzes der Bevölkerung (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) in Rechnung stellt, dem das Versammlungsverbot dienen soll, überwiegt bei einer Abwägung im vorliegenden Fall das Recht der an Silvester Versammlungswilligen aus Art. 8 Abs. 1 GG, dem eine grundlegende Bedeutung für das demokratische und freiheitliche Gemeinwesen zukommt. Den Versammlungswilligen kann unabhängig vom Versammlungsanlass, vom Versammlungsort und der Teilnehmerzahl nicht pauschal unterstellt werden, eine Versammlung am 31. Dezember 2020 nur als Vehikel zur Umgehung des Feierverbots nutzen zu wollen. Die zuständigen Behörden haben auch ohne ein pauschales Versammlungsverbot die Möglichkeit, bloße Ansammlungen aufzulösen bzw. – bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen – Versammlungen zu untersagen oder deren Durchführung von der Einhaltung von Auflagen abhängig zu machen und auf diese Weise den von solchen Veranstaltungen ausgehenden Infektionsgefahren wirksam zu begegnen. Allein der Verweis auf die beschränkten und an Silvester besonders in Anspruch genommenen Ressourcen der Polizei vermag ein pauschales Versammlungsverbot in ganz Nordrhein-Westfalen – unabhängig von der konkreten örtlichen Situation – nicht zu rechtfertigen.
2. Schließlich überwiegen auch die für die einstweilige Außervollzugsetzung sprechenden Gründe die gegenläufigen für den weiteren Vollzug der Verordnung streitenden Interessen.
Dabei erlangen die erörterten Erfolgsaussichten des in der Hauptsache zu stellenden Normenkontrollantrags eine umso größere Bedeutung für die Entscheidung im Normenkontrolleilverfahren, je kürzer die Geltungsdauer der in der Hauptsache angegriffenen Normen befristet und je geringer damit die Wahrscheinlichkeit ist, dass eine Entscheidung über den Normenkontrollantrag in der Hauptsache noch vor dem Außerkrafttreten der Normen ergehen kann. Das muss insbesondere dann gelten, wenn die angegriffene Norm erhebliche Grundrechtseingriffe bewirkt, sodass sich das Normenkontrolleilverfahren (ausnahmsweise) als zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG geboten erweist.
Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 5. Juni 2020 – 13 B 776/20.NE -, juris, Rn. 69, m. w. N.
Danach wiegt das Interesse an einer einstweiligen Außervollzugsetzung der angegriffenen Regelung schwer. Das Versammlungsverbot an Silvester stellt einen erheblichen Grundrechtseingriff dar, der nach Ablauf des 31. Dezember 2020 nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Demgegenüber dürfte sich – wie oben ausgeführt – das pauschale Versammlungsverbot an diesem Tag nicht als ein zur Eindämmung der Pandemie an Silvester dringend erforderliches Instrument erweisen.
Lediglich ergänzend wird darauf hingewiesen, dass es den zuständigen Behörden unbenommen bleibt, die im konkreten Einzelfall erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen.
Die einstweilige Außervollzugsetzung wirkt nicht nur zugunsten der Antragstellerin in diesem Verfahren; sie ist allgemeinverbindlich.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).