Bundessozialgericht
Az.: B 3 KR 66/01 R
Urteil vom 23.07.2002
Entscheidung:
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 21. Februar 2001 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe:
I.
Es ist streitig, ob die Klägerin die Erstattung der Kosten für eine maßgefertigte, handgeknüpfte Perücke aus europäischem Haar verlangen kann.
Die im Jahre 1960 geborene, als Krankenschwester tätige Klägerin leidet seit ihrem 13. Lebensjahr an krankheitsbedingter, nicht behandelbarer totaler Haarlosigkeit. Bis zum Jahre 1996 bewilligte ihr die beklagte Krankenkasse in jedem Jahr eine maßgefertigte Perücke aus blondem europäischem Haar zur Kaschierung ihrer Kahlköpfigkeit. Den Antrag der Klägerin vom 3. Februar 1997, ihr auch für das Jahr 1997 eine solche Perücke zu gewähren, lehnte die Beklagte hingegen ab. Sie hielt nunmehr eine serienmäßig hergestellte Perücke aus blond gefärbtem vorwiegend asiatischem Haar (Position 3 der von den Krankenkassen im Lande Berlin mit den als Hilfsmittellieferanten zugelassenen örtlichen Perückenmachern und Haarstudios vereinbarten Preisliste für die Jahre 1996 und 1997) für ausreichend, bewilligte allerdings zwei Perücken dieser Art, damit die Klägerin über einen Ersatz für Zeiten der Reparatur und Wäsche der ersten Perücke verfügte (Bescheid vom 10. Februar 1997, Änderungsbescheid vom 20. August 1997, Widerspruchsbescheid vom 20. November 1997). Die Klägerin beschaffte sich im Juli 1997 die begehrte Perücke zum Preise von 2.673 DM selbst (Rechnung des Perückenfachgeschäftes H…, vom 22. Juli 1997). Von den Aufwendungen ist ein Differenzbetrag von 1.525 DM streitig, nachdem die Beklagte im August 2001 die Anschaffungskosten von 1.148 DM für zwei Perücken der bewilligten Art (je 574 DM) gezahlt hat (Bescheid vom 8. August 2001).
Das Sozialgericht (SG) hat der Klage stattgegeben (Urteil vom 27. April 1999), das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 21. Februar 2001). Es hat die Auffassung vertreten, nur die maßgefertigte Perücke aus blondem europäischem Haar kompensiere die Kahlköpfigkeit der Klägerin in ausreichendem Maße. Das asiatische Haar, das für die Perücke der Position 3 vorwiegend verwendet werde, sei deutlich dicker (Durchmesser mindestens 0,10 mm) als europäisches Haar (Durchmesser 0,04 mm bis 0,07 mm) und werde dem Erscheinungsbild der Klägerin, die früher feines, blondes Haar gehabt habe, nicht hinreichend gerecht. Auch die von der Klägerin gewählte Frisur sei nur mit der begehrten Perücke aus europäischem Haar (Durchmesser 0,06 mm) herzustellen. Ziel der Hilfsmittelversorgung sei bei Perücken die möglichst weit gehende Wiederherstellung des Erscheinungsbildes der Betroffenen, wie es sich vor dem Haarverlust dargestellt habe bzw. ohne diesen darstellen würde.
Mit der Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 33 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V). Sie hält eine Perücke der Position 3 nach wie vor für ausreichend. Die von der Klägerin gewünschte Perücke gehe über das zum Behinderungsausgleich Notwendige hinaus und müsse als Luxusversorgung bezeichnet werden, für welche die Krankenversicherung nicht einzustehen habe.
Die Beklagte beantragt, die Urteile des LSG Berlin vom 21. Februar 2001 und des SG Berlin vom 27. April 1999 zu ändern und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie verteidigt das angefochtene Urteil.
II.
Die Revision der Beklagten ist insoweit begründet, als das angefochtene Berufungsurteil aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen war (§ 170 Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG)). Nach den bisher getroffenen Feststellungen des LSG lässt sich nicht – positiv oder negativ – entscheiden, ob der geltend gemachte (restliche) Erstattungsanspruch gerechtfertigt ist.
Grundlage des Erstattungsanspruchs ist § 13 Abs. 3 SGB V: „Konnte die Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen oder hat sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt und sind dadurch Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden, sind diese von der Krankenkasse in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war“. In Betracht kommt hier allein der Fall der unberechtigten Ablehnung einer Leistung (2. Alternative). Dabei reicht es grundsätzlich aus, dass der Versicherte sich die begehrte Leistung auf eigene Kosten beschafft hat, nachdem ihm die Krankenkasse die Entscheidung über die Ablehnung des Leistungsantrags bekannt gegeben hat (Ablehnungsbescheid). Es ist in der Regel nicht erforderlich, dass der Versicherte mit der Selbstbeschaffung der Leistung bis zur Entscheidung der Krankenkasse über den Widerspruch gegen die Leistungsablehnung wartet (BSG SozR 3-2500 § 13 Nr. 11, 22; BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 37; stRspr). Daher steht dem Kostenerstattungsanspruch im vorliegenden Fall nicht bereits der Umstand entgegen, dass die Klägerin sich die begehrte maßgefertigte Perücke aus blondem europäischem Haar zwar nach der ersten Ablehnungsentscheidung (Bescheid vom 10. Februar 1997: Bewilligung lediglich einer Kunsthaarperücke der Position 2), aber noch vor der Entscheidung über den Widerspruch gegen diesen ersten Bescheid (Änderungsbescheid vom 20. August 1997: Bewilligung von zwei Perücken aus blond gefärbtem vorwiegend asiatischem Haar der Position 3; Widerspruchsbescheid vom 20. November 1997) auf eigene Kosten beschafft hat (Rechnung vom 22. Juli 1997).
Der Erstattungsanspruch ist begründet, wenn die Beklagte dem Antrag der Klägerin auf Versorgung mit einer maßgefertigten Perücke aus blondem europäischem Haar hätte stattgeben müssen, die angebotene Versorgung mit einer serienmäßig gefertigten Perücke aus blond gefärbtem vorwiegend asiatischem Haar also nicht ausreichte. Dazu bedarf es weiterer Feststellungen des LSG.
Nach § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB V iVm § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V idF durch das Gesundheitsreformgesetz (GRG) vom 20. Dezember 1988 (BGBl I S 2477) haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Seh- und Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern (1. Alternative) oder eine Behinderung auszugleichen (2. Alternative), soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind. Die durch das Neunte Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) vom 19. Juni 2001 (BGBl I S 1046) mit Wirkung zum 1. Juli 2001 in den § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V eingefügte Ergänzung, wonach Versicherte schon dann einen Anspruch auf Versorgung mit einem Hilfsmittel haben, wenn dieses erforderlich ist, „um einer drohenden Behinderung vorzubeugen“, hat hier keine Bedeutung. Es geht allein um den „Ausgleich“ einer bestehenden Behinderung (2. Alternative).
Ein totaler Haarverlust stellt bei einer Frau eine „Behinderung“ iS des § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V dar. Die allgemeine, auch für das SGB V geltende Definition des Begriffs der Behinderung findet sich nunmehr in § 2 Abs. 1 SGB IX. Danach sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist (Satz 1). Menschen sind von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist (Satz 2).
Die Klägerin ist wegen ihrer krankheitsbedingten dauerhaften Kahlköpfigkeit in ihrer „körperlichen Funktion“ beeinträchtigt. Eine körperliche Funktionsbeeinträchtigung liegt nicht nur dann vor, wenn es sich um den Verlust oder um Funktionsstörungen von Körperteilen wie Gliedmaßen und Sinnesorganen (Augen, Ohren) handelt; auch Krankheiten und Verletzungen mit entstellender Wirkung können hierunter fallen. Der krankheitsbedingte dauerhafte Verlust des Haupthaares beruht auf der Einbuße der körperlichen Funktion „Neubildung und Wachstum der Haare“. Die Krankheit hat bei Frauen eine entstellende Wirkung, die zwar nicht zum Verlust oder zur Störung einer motorischen oder geistigen Funktion führt, es einer Frau aber erschwert oder gar unmöglich macht, sich frei und unbefangen unter den Mitmenschen zu bewegen; eine kahlköpfige Frau zieht „naturgemäß“ ständig alle Blicke auf sich und wird zum Objekt der Neugier. Dies hat in aller Regel zur Folge, dass sich die Betroffene aus dem Leben in der Gemeinschaft zurückzieht und zu vereinsamen droht. Ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft ist beeinträchtigt.
Der Anspruch scheitert nicht an der Ausnahmeregelung des § 33 Abs. 1 Satz 1 letzter Halbsatz SGB V, wonach allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens von der Leistungspflicht der Krankenkassen ausgeschlossen sind. Dem vollständigen Haarersatz dienende Damenperücken sind keine allgemeinen Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens, weil sie für die speziellen Bedürfnisse an totalem Haarverlust leidender Frauen hergestellt und nur von diesem Personenkreis benutzt werden (vgl. zum Begriff des allgemeinen Gebrauchsgegenstands BSGE 84, 266 = SozR 3-2500 § 33 Nr. 33). Perücken und Haarteile aller Art, insbesondere Damenperücken, werden zwar vielfach auch aus modischen Gründen verwendet, dann aber am vorhandenen Haupthaar befestigt und dienen als „Zweitfrisur“. Als vollständiger Haarersatz – wie hier – sind Perücken teilweise anders gearbeitet (z.B. andere Art der Befestigung) und dienen auch einer anderen Zweckbestimmung, nämlich dem optischen Ausgleich des krankheitsbedingt fehlenden natürlichen Haupthaares, und damit gerade nicht als „Zweitfrisur“. Perücken gehören auch nicht mehr, wie vor 300 Jahren, zur üblichen standesgemäßen Ausstattung gehobener gesellschaftlicher Kreise. Demgemäß sind Damenperücken, die dem Ausgleich eines totalen Haarverlustes dienen, zutreffend auch in dem nach § 128 SGB V von den Spitzenverbänden der Krankenkassen erstellten Hilfsmittelverzeichnis aufgeführt.
Ein Anspruchsausschluss nach § 34 Abs. 4 Satz 1 SGB V idF durch das GRG greift ebenfalls nicht ein. Nach dieser Vorschrift (idF durch das Gesetz vom 20. Dezember 1991, BGBl I S 2325) kann der Bundesminister für Gesundheit durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates Heil- und Hilfsmittel von geringem oder umstrittenem therapeutischen Nutzen oder geringem Abgabepreis bestimmen, deren Kosten die Krankenkasse nicht übernimmt. In der auf Grund dieser Ermächtigung erlassenen Verordnung über Hilfsmittel von geringem therapeutischen Nutzen oder geringem Abgabepreis in der gesetzlichen Krankenversicherung (KVHilfsmV) vom 13. Dezember 1989 (BGBl I S 2237), die idF durch die Verordnung vom 17. Januar 1995 (BGBl I S 44) gilt, sind das Haupthaar vollständig ersetzende Perücken nicht erfasst.
Der Anspruch lässt sich nicht bereits aus der Verwaltungspraxis der Beklagten bis 1996 ableiten. Es gibt keinen „Grundbescheid“, mit dem die Beklagte grundsätzlich die regelmäßig wiederkehrende Versorgung der Klägerin mit Echthaarperücken aus europäischem Haar bewilligt hätte. In der Vergangenheit hat die Beklagte ausdrücklich immer nur Einzelfallentscheidungen erlassen. Demgemäß ist, wie bei dem Ersatz anderer Hilfsmittel (§ 33 Abs. 1 Satz 2 SGB V) auch, grundsätzlich stets erneut zu prüfen, ob das begehrte Hilfsmittel weiterhin notwendig, geeignet und wirtschaftlich ist (§§ 2 Abs 4, 12 Abs 1 und 33 Abs. 1 SGB V; vgl. auch BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 21 – Blindenhund).
Auf die Frage, ob die vertragsärztliche Verordnung sich hier gerade auf eine Perücke der von der Klägerin begehrten Art und Qualität bezieht oder allgemein nur eine geeignete Perücke verordnet worden ist, kommt es ebenfalls nicht an. Die vertragsärztliche Verordnung eines bestimmten Hilfsmittels stellt sich rechtlich als ärztliche Empfehlung dar, bindet die Krankenkasse im Verhältnis zum Versicherten aber nicht (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 25 und 27; stRspr).
Ziel der Versorgung behinderter Menschen mit Hilfsmitteln ist die Förderung ihrer Selbstbestimmung und ihrer gleichberechtigten Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft (§ 1 Satz 1 SGB IX). Die sich daraus ergebende Frage, welche Qualität und Ausstattung ein Hilfsmittel haben muss, um als geeignete, notwendige, aber auch ausreichende Versorgung des Versicherten gelten zu können (§§ 2 Abs. 4, 12 Abs. 1 und 33 Abs. 1 SGB V), beantwortet sich danach, welchem konkreten Zweck die Versorgung im Einzelfall dient. Soll ein Hilfsmittel die Ausübung einer beeinträchtigten Körperfunktion unmittelbar ermöglichen, ersetzen oder erleichtern (z.B. Prothesen), ist grundsätzlich ein Hilfsmittel zu gewähren, das die ausgefallene bzw. gestörte Funktion möglichst weit gehend kompensiert, also den umfassendsten Gebrauchsvorteil bietet (BSG, Urteil vom 6. Juni 2002 – B 3 KR 68/01 R – zur Veröffentlichung vorgesehen – zum C-Leg). Qualität und Wirksamkeit der Leistungen müssen insoweit dem allgemein anerkannten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse entsprechen und den medizinischen Fortschritt berücksichtigen (§ 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V). Geht es hingegen um einen Ausgleich ohne Verbesserung elementarer Körperfunktionen allein zur Befriedigung eines sonstigen allgemeinen Grundbedürfnisses des täglichen Lebens (z.B. Kommunikation; Schaffung eines geistigen und körperlichen Freiraums; selbstständiges Wohnen; Bewegung im Nahbereich der Wohnung; Teilhabe am gesellschaftlichen Leben), bemisst sich der Umfang der Leistungspflicht der Krankenkasse nicht nach dem technisch Machbaren. Die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben setzt bei einer Frau nicht voraus, dass ihr ursprüngliches Aussehen durch die Perücke so weit wie möglich wiederhergestellt wird; Ziel der Hilfsmittelversorgung ist nicht die möglichst umfassende Rekonstruktion des verloren gegangenen früheren Zustands („Naturalrestitution“), sondern nur die Gewährleistung der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Daraus folgt, dass auch der Wunsch der Versicherten nach einer bestimmten Frisur dann nicht maßgeblich ist, wenn er – wie hier – mit Mehrkosten verbunden ist. Somit umfasst der Behinderungsausgleich nur die Versorgung, die notwendig ist, um den Verlust des natürlichen Haupthaares für einen unbefangenen Beobachter nicht sogleich erkennbar werden zu lassen. Denn die freie Bewegung unter den Mitmenschen ist bereits dann gewährleistet; es bedarf dazu keiner kompletten „Nachbildung“ des ursprünglichen Aussehens, das ohnehin, insbesondere wenn der Haarverlust wie hier schon jahrelang zurück liegt, nur noch den wenigsten Menschen bekannt und gegenwärtig sein dürfte. Andererseits ist es auch bei einer möglichst naturgetreuen Rekonstruktion nicht zu verhindern, das ein geschulter Beobachter den Haarersatz als solchen erkennt. Ein ausreichender Behinderungsausgleich wird bei der Perückenversorgung nicht bereits in Frage gestellt, wenn einige wenige vertraute Personen oder Fachleute das Haupthaar als „künstlich“ erkennen. Das wäre erst dann der Fall, wenn dies auch jedem unbefangenen Beobachter nach kurzem Blick auffiele.
Das LSG wird nunmehr festzustellen haben, ob die von der Beklagten angebotene Perücke oder nur die von der Klägerin begehrte Perücke diesen Anforderungen genügt. Die dazu erforderlichen Beweismittel – etwa Augenscheinsbeweis oder Sachverständigengutachten – bleiben dem tatrichterlichen Ermessen vorbehalten.
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.