Landgericht Tübingen
Az.: 7 O 143/01
Urteil vom 16.11.2001
In dem Rechtsstreit wegen Schmerzensgeld hat die 7. Zivilkammer des Landgerichts Tübingen auf die mündliche Verhandlung vom 30. Oktober 2001 für Recht erkannt:
1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger ein Schmerzensgeld in Höhe von 7.000,– DM zu zahlen.
2. Es wird festgestellt, dass die die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger allen materiellen und immateriellen Schaden zu ersetzen, den dieser als Folge des Unfalls vom 22.4.1998 auf dem Gelände … erleiden wird, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger übergegangen sind oder übergehen werden.
3. Im übrigen wird die Klage abgewiesen.
4. Die Kosten des Rechtsstreits werden gegeneinander aufgehoben.
5. Das Urteil ist für den Kläger gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 8.000,– DM vorläufig vollstreckbar.
Streitwerte:
Klagantrag Ziff.1: 20.000,– DM
Klagantrag Ziff.2: 5.000,– DM
Tatbestand:
Der minderjährige Kläger verlangt von der Beklagten wegen Verletzung von Verkehrssicherungspflichten Schmerzensgeld sowie – im Wege der Feststellungsklage – Ersatz künftigen materiellen und immateriellen Schadens.
1.
Der am 2.2.1991 geborene Kläger spielte mit Freunden am 22.4.1998 auf einem im Eigentum der beklagten … stehenden Grundstück in der … Fußball. Bei diesem Gelände handelt es sich um eine Rasenfläche, die unmittelbar an das Gelände des … angrenzt. Das Kindergartengrundstück war damals durch einen ca. 1,70 m hohen Zaun aus Metall gegen die benachbarte Fläche abgegrenzt, der – wie der Vertreter der Beklagten in der mündlichen Verhandlung erläutert hat – hauptsächlich dazu dienen sollte, ein Übersteigen durch Kinder zu verhindern. Ein Zaun aus Maschendraht schien dazu nicht geeignet, weil dieser der Gefahr ausgesetzt gewesen wäre, im Laufe der Zeit „niedergetreten“ zu werden. Der Zaun wurde im Jahre 1992 montiert von einer beauftragten Schlosserei und zwar so, dass an der Oberkante senkrechte Metallstreben mit einer Länge von ca. 2 bis 5 cm überstanden, während der Zaun an der Unterkante mit der Querverstrebung bündig und ohne Überstand abschließt. Wegen der genauen Konstruktion des Zaunes wird auf die vorgelegten Lichtbilder Bezug genommen.
Inzwischen ließ die Beklagte aus Anlass des streitgegenständlichen Unfalls den Zaun in der Weise umdrehen, dass sich die bündige Seite nunmehr oben befindet und dementsprechend eine Verletzungsgefahr nicht mehr besteht.
Während die Beklagte die Einzelheiten des Unfallablauf bestreiten lässt, steht folgendes fest: Als der Ball über den Zaun ins Kindergartengelände geflogen war, wollte der Kläger ihn von dort zurückholen und versuchte den Zaun zu überklettern. Dabei kam er so unglücklich zu Fall, dass er mit Kinn von oben herab in die spitzigen senkrechten und überstehenden Metallstreben fiel, wodurch er sich ein lange Schnittwunde vom einen zu anderen Kieferwinkel zuzog, die heute noch als Narbe sichtbar ist. Unmittelbar im Anschluss an den Unfall war er für 6 Tage in stationärer Behandlung und – eigenem Bekunden zufolge – für 6 Wochen vom Schulbesuch befreit. Ob in der Zukunft eine kosmetische Narbenkorrektur erforderlich sein wird, ist streitig.
2.
Der Kläger begehrt ein Schmerzensgeld in Höhe von 20.000,– DM. Er behauptet, er sei mit den Schuhen / Schnürsenkeln im Zaun hängen geblieben und dadurch zu Fall gekommen. Er ist der Ansicht, die Beklagte habe als Betreiberin des Kindergartens ihre Verkehrssicherungspflichten schuldhaft verletzt, da der Zaun gegen die Bestimmungen der Ziff. 3.3.2 und 3.3.3. der für Kindergärten geltenden Unfallverhütungsbestimmungen des Bundesverbandes der Unfallversicherungsträger verstoße (GUV 16,4. vom Oktober 1992). Danach sind Einfriedungen so zu gestalten, dass ein Klettern erschwert wird. Spitze und scharfe Kanten sind nicht zulässig.
Dementsprechend habe die Beklagte inzwischen auch die Zaunanlage geändert.
Der Kläger hält ein Schmerzensgeld in der Größenordnung von 20.000,– DM für angemessen, da die Narbe auf Dauer sichtbar und entstellend sei und er vielfach von Kameraden auf deren Ursache angesprochen werde, was zumindest unangenehm sei. Außerdem sei eine operative Narbenkorrektur angezeigt, die in einigen Jahren erfolgen werde.
Der Kläger beantragt:
1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger aus dem Unfall vom 22.4.1998 ein angemessenes Schmerzensgeld zu zahlen.
2. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger allen materiellen und immateriellen Schaden zu ersetzen, der dem Kläger aus dem Unfall vom 22.4.1998 entstehen wird, soweit der Anspruch nicht auf Sozialversicherungsträger oder Dritte übergegangen ist.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
3.
Sie bestreitet den Hergang des Unfalls und ist der Ansicht, keine Verkehrssicherungspflichten verletzt zu haben. So sei der Kindergarten im Jahre 1993 durch den Landeswohlfahrtverband überprüft und abgenommen worden. Der Zaun sei durch eine renommierte Fachfirma erstellt worden entsprechend den geltenden Bestimmungen. Mit einem derartigen Fehlverhalten des Klägers habe die Beklagte nicht rechnen müssen, sondern darauf vertrauen dürfen, dass der Kläger bei der Kindergartenleitung vorsprechen würde, um regulär eingelassen zu werden.
Das begehrte Schmerzensgeld sei im übrigen überhöht.
Die Örtlichkeiten wurden in Augenschein genommen, der Kläger wurde angehört. Insoweit wird auf das Sitzungsprotokoll Bezug genommen. Wegen des weiteren Vortrags der Parteien wird auf die gewechselten Schriftsätze mitsamt ihren Anlagen verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist dem Grunde nach gerechtfertigt. Der eingeklagte Schmerzensgeldbetrag ist jedoch der Höhe nach übersetzt. Angemessen erscheinen in Anbetracht aller Umstände 7.000,– DM.
1.
Die Beklagte haftet unter der Gesichtspunkt der schuldhaften Verletzung einer Verkehrssicherungspflicht (§ 823 Abs.1 BGB) dem Kläger auf Schmerzensgeld (§ 847 BGB). Allerdings erscheint der vom Kläger geforderte Betrag von – ungefähr – 20.000,– DM als – weit – übersetzt. Unter Abwägung aller Umstände, insbesondere der Art und Schwere der erlittenen Verletzungen, der damit verbundenen Beeinträchtigung durch die (noch) sichtbare Narbe sowie des (geringen) Verschuldens der Beklagten erscheint der zugesprochene Betrag von 7.000,– DM als angemessen.
a) Die Beklagte hat die ihr obliegenden Verkehrssicherungspflichten fahrlässig verletzt. Sie hätte zum Schutz vor Unfällen wie dem streitgegenständlichen, und zwar nicht nur Kindergartenkinder betreffend, zumindest dafür sorgen müssen, dass der Zaun in der jetzt erfolgten Weise montiert werden würde, da die Montage mit den spitzen Enden nach oben erkennbar die Gefahr auch schwerer Verletzungen heraufbeschwor, wenn Kinder versuchen würden, die Umzäunung zu überklettern. Unfälle wie der streitgegenständliche lagen aus Sicht eines vorausschauenden Beobachters nicht fern.
aa) Allerdings kann nicht auf die vom Kläger zitierten Bestimmungen der Ziff. 3.3.2. und 3.3.3. der Richtlinien des Bundesverbandes der Unfallversicherungsträger der öffentlichen Hand von Oktober 1992 abgestellt werden, da diese – soweit sie im Rahmen des § 823 Abs.1 BGB wirksame Pflichten normieren – lediglich den Schutz der Benutzer des Kindergartens bezwecken, so dass der Kläger nicht in den rechtlichen Schutzbereich der Bestimmungen einbezogen war. Dass die Richtlinien ihm mittelbar zu Gute kommen konnten (Reflexwirkung), genügt zur Begründung eigener Ansprüche nicht.
bb) Die Beklagte haftet aber nach allgemeinen Grundsätzen über die Begründung von Verkehrssicherungspflichten, da sie als Grundstückseigentümerin und Betreiberin des Kindergartens für den Zustand des Grundstücks und damit auch für denjenigen der dazugehörigen Anlagen einzustehen hat (zur Haftung für den Zustand eines Gefahrenbereichs etwa BGH NJW 1994, 3348; NJW RR 1990, 409; NJW 1999, 2364; Staudinger-Hager, 1999, § 823 BGB, E 16). Dies gilt zwar grundsätzlich nur gegenüber den befugten Benutzern und insoweit auch nur, soweit sich die Benutzung im Rahmen des bestimmungsgemäßen Gebrauchs bewegt (BGH NJW 1985, 1078; OLG Jena VersR 1998, 903).
Gegenüber Kindern geht die Rechtsprechung aber seit jeher davon aus, dass eine Verpflichtung zum Schutz vor Gefahren auch dort besteht, wo die Benutzung zwar „unbefugt“ und bestimmungswidrig erscheint, mit ihr aber deshalb gerechnet werden muss, weil Kinder erfahrungsgemäß aus Spieltrieb, Unerfahrenheit und Leichtsinn Gefahren nicht zutreffend einzuschätzen vermögen und zugleich die Neigung in Rechnung zu stellen ist, Verbote zu missachten ( BGH NJW 1980, 1159; 1991, 2340; 1994, 3348). Der Einwand der Beklagten, der Kläger habe das Gelände des Kindergartens nicht betreten dürfen und er habe sich grob sorgfaltswidrig verhalten, ist daher verfehlt.
(1) Es ist daher unerheblich, dass es sich bei dem Zaun um ein handelsübliches Modell handeln mag, wie es – auch in öffentlichen Anlagen (etwa im Alten Botanischen Garten in Tübingen) – zur Anwendung gelangt ist. Nicht entscheidend ist auch, ob der Zaun überhaupt korrekt montiert war oder ob eine fachgerechte Montage nicht von vorne herein in der jetzigen Form (überstehende Drähte nach unten) hätte erfolgen müssen.
(2) Nicht zu entscheiden ist auch, ob derart gefährliche Umfriedungen an Privatgrundstücken zu dulden wären, da die dortige Interessenlage (etwa ein gewisser Schutz gegen Einbrecher und andere Unbefugte) eine andere ist.
(3) Entscheidend ist vielmehr folgendes: Die Beklagte hatte – wie ihr Vertreter in der mündlichen Verhandlung berichtet hat – die Benutzung der angrenzenden Wiese durch fußballspielende Kinder wissentlich geduldet. Damit war aber in hohem Maße wahrscheinlich, in jedem Falle aber vorhersehbar, dass ein Ball versehentlich in das umzäunte Gelände fallen würde und dass die Kinder versuchen würden, diesen unter Überkletterung des Zaunes zurückzuholen. Darauf, dass Kinder gegebenenfalls warten würden bis ihnen regulärer Einlass gewährt würde, konnte und durfte die Beklagte nicht vertrauen, zumal der Kindergarten nicht rund um die Uhr personell besetzt war.
Damit war aber auch vorhersehbar, dass beim Überklettern des Zaunes eine nicht unerhebliche Unfallgefahr bestand, mag es sich bei dem streitgegenständlichen Vorfall auch um eine Verkettung unglücklicher Umstände gehandelt haben. Dieser Gefahr konnte die Beklagte ohne besonderen finanziellen oder arbeitstechnischen Aufwand dadurch begegnen, dass sie den Zaun – notfalls auch nachträglich – in der jetzigen Form montieren ließ. Soweit sie hierzu nicht bereit war, hätte sie die Benutzung des Geländes unterbinden müssen.
Dadurch, dass die Beklagte aber einerseits die Benutzung duldete, andererseits aber den erkennbar gefährlichen Zaun nicht beseitigte, hat sie die ihr gegenüber dem Kläger obliegenden Verkehrssicherungspflichten verletzt.
cc) Das fahrlässige Verschulden ergibt sich daraus, dass die Unfallgefahren für einen durchschnittlichen Beobachter erkennbar waren und der streitgegenständliche Vorfall gleichfalls vorherzusehen war.
b) Die Vorstellungen des Klägers sind aber der Höhe nach deutlich übersetzt.
Auf der einen Seite sind zwar die erheblichen Schmerzen sowie der sechstägige Krankenhausaufenthalt des Klägers ebenso zu berücksichtigen wie der Umstand, dass der Kläger mit einer gewissen „Verunstaltung“ durch die zurückgebliebene Narbe möglicherweise wird leben müssen.
Andererseits hat sich die Narbe inzwischen soweit zurückgebildet, dass sie einem nicht besonders „sensibilisierten“ Betrachter kaum mehr ins Auge fällt und sie sich darüber hinaus an einer Stelle befindet, wo sie weitgehend durch die dortigen Hautfalten verdeckt wird.
Schließlich ist zu berücksichtigen, dass das Verschulden der Beklagten sich im Bereich leichter Fahrlässigkeit bewegt.
Vor diesem Hintergrund erscheint der zugesprochene Betrag von 7.000,– DM angemessen.
2.
Die Feststellungsklage ist in vollem Umfang gerechtfertigt. Ob der Kläger eine operative Korrektur der Narbe wird durchführen lassen (müssen) hängt von dem derzeit nicht abschätzbaren Heilungsverlauf sowie von anderen nicht feststehenden Faktoren (etwa das Bedürfnis nach weiterer Besserung) ab. Sollte eine Operation notwendig werden, so drohen dem Kläger weitere materielle und immaterielle Schäden.
3.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 92 Abs. 1 ZPO, die über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus § 709 Satz 1 ZPO.