Arbeitsgericht Frankfurt am Main
Az.: 9 Ca 5281/02
Verkündet am 18.12.2002
In dem Rechtsstreithat das Arbeitsgericht Frankfurt am Main – Kammer 9 -auf die mündliche Verhandlung vom18.12.2002 für Recht erkannt:
Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien weder durch die Kündigung des Beklagten vom 27.05.2002 noch durch die Kündigung vom 01.09.2002 beendet worden ist.
Der Beklagte wird verurteilt, den Kläger zu unveränderten Arbeitsbedingungen weiterzubeschäftigen.
Der Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreites zu tragen.
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf € 7.170,72 festgesetzt.
Tatbestand
Die Parteien streiten um den Bestand ihres Arbeitsverhältnisses.Der am XXXXX geborene, verheiratete Kläger ist seit 04.03.1991 bei der Arbeitgeberin beschäftigt. Als Helfer im Garten- / Landwirtschaftsbau betrug sein Bruttomonatseinkommen € 1.792,68.
Am 02.04.2002 wurde das Insolvenzverfahren eröffnet und der Beklagte zum Insolvenzverwalter bestellt. Die Betriebsparteien schlossen am 04.04.2002 einen Interessenausgleich aus Anlass der Betriebsänderung vom März 2002, auf dessen Wortlaut nebst Namensliste der zu kündigenden Arbeitnehmer und nebst Tabellen zur Sozialauswahl Bezug genommen wird (Bl. 19-28 d. A.).
Der Kläger, der arbeitsunfähig gewesen war, erschien am 14.05.2002 um 7.00 Uhr zur Arbeit. Zu diesem Zeitpunkt hatten alle Kolonnen bereits das Gelände verlassen. Der Beklagte teilte dem Kläger mit, er solle sich am folgenden Tag um 7.30 Uhr im Büro melden.
Am 15.05.2002 überreichte der Kläger eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (Erstbescheinigung) und am 17.05.2002 eine weitere Erstbescheinigung. Hierbei handelte es sich um die vierte Erstbescheinigung, ausgestellt von einem vierten Arzt.
Der Beklagte sprach mit Schreiben vom 27.05.2002, welches von den drei Betriebsratsmitgliedern abgezeichnet ist, die außerordentliche Kündigung, vorsorglich die ordentliche Kündigung zum 31.08.2002 aus (Wortlaut Bl. 17 f. d. A.). Das Kündigungsschreiben ging dem Kläger am 31.05.2002 zu. Mit Schreiben vom 31.05.2002 (Bl. 7 d. A.) stellte der Beklagte den Kläger von seiner Arbeitspflicht frei.
Gegen diese Kündigung wendet sich der Kläger mit seiner am 05.06.2002 bei Gericht eingegangenen Klage.
Am 01.09.2002 sprach der Beklagte die vorsorgliche betriebsbedingte Kündigung aus (Bl. 8 d. A.), die der Kläger mit seiner am 17.09.2002 bei Gericht eingegangenen Klageerweiterung angreift. Er meint, die Kündigungen seien durch keinen (wichtigen) Grund gedeckt und bezweifelt hinsichtlich beider Kündigungen eine den gesetzlichen Anforderungen entsprechende Betriebsratsanhörung.
Er beantragt,
1. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien weder durch die außerordentliche noch durch die ordentliche Kündigung vom 25.05.2002 be-‚ endet wird,
2. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht durch die Kündigung vom 01.09.2002 zum 31.1Zoeendet wird,
3. die Beklagte zu verurteilen, den Kläger zu unveränderten Bedingungen weiter zu beschäftigen.
Der Beklagte beantragt,die Klage abzuweisen.Die Kündigung vom 27.05.2002 stützt er darauf, dass der Kläger sich Krankmeldungen erschlichen habe, was aus Erstbescheinigungen vier unterschiedlicher Ärzte folge.
Nach seiner Auffassung ist die Kündigung auch als personenbedingte wirksam, weil der Kläger-unstreitig – im Jahr 2001 an 136 Tagen und bis zum 13.05.2002 an 57 Tagen wegen Arbeitsunfähigkeit gefehlt hat. Hieraus lasse sich schließen, dass der Kläger dem Betrieb nicht mehr dauerhaft zur Verfügung stehe (Beweis: Sachverständigengutachten). Die Arbeitskollegen des Klägers weigerten sich, mit diesem zusammenzuarbeiten, wodurch eine Störung des Betriebsfriedens eingetreten sei. Der Beklagte behauptet, den Betriebsrat zum Ausspruch der Kündigung angehört zu haben, dieser habe die Zustimmung erteilt.
Die betriebsbedingte Kündigung beruhe auf der in Ziff. 6 des Sozialplanes zugelassenen Möglichkeit, im Falle eines weiteren Personalabbaus weitere Kündigungen auszusprechen. Es hätten von 32 Arbeitsplätzen 14 Arbeitsplätze gestrichen werden müssen. Fünf Kolonnen mit je fünf Arbeitnehmern seien auf vier Kolonnen je vier Arbeitnehmer reduziert worden.
Als Helfer sei neben dem Kläger nur noch Herr X beschäftigt, der nach dem Punkteschema 36 Punkte aufweise. Damit seien beide Arbeitnehmer vergleichbar. Der Kläger sei kinderlos, Herr X einem Kind unterhaltspflichtig.Nach der Behauptung des Beklagten hat der Betriebsrat der betriebsbedingten Kündigung zugestimmt.
Nach Auffassung des Klägers ist durch den Umstand, dass verschiedene Ärzte Erstbescheinigungen ausgestellt haben, die Beweiskraft der ärztlichen Bescheinigungen nicht erschüttert. Er habe in der Zeit vom 03.04. bis 10.07.2002 an einer akuten und sehr schmerzhaften Radikulopathie gelitten und deshalb verschiedene Ärzte aufgesucht.
Die Erkrankungen, deretwegen er im Jahr 2001 und 2002 arbeitsunfähig war, sind nach der Behauptung des Klägers auskuriert. Er beanstandet, dass der Beklagte keine Beeinträchtigung betrieblicher Belange vorgetragen habe.
Die betriebsbedingte Kündigung ist nach Auffassung des Klägers sozial nicht gerechtfertigt. Einen betrieblichen Anlass habe der Beklagte nicht vorgetragen. Im Gegenteil sei die im Sozialplan vorgesehene Reduzierung der Gruppe der Helfer bereits übererfüllt worden, nachdem lediglich noch zwei Helfer verblieben seien. Jedenfalls aber sei der Kläger sozial schwächer als Herr X, wie die vom Beklagten errechnete Punktezahl ergebe, an welche der Beklagte gebunden sei.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist begründet.
1. Die Kündigung vom 27.05.2002 ist sowohl als außerordentliche verhaltensbedingte als auch als ordentliche personenbedingte unwirksam.
a) Es fehlt an einem wichtigen Grund im Sinne des § 626 Abs. 1 BGB. Zwar ist das Erschleichen einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung geeignet, einen wichtigen Grund im Sinne der genannten Vorschrift darzustellen. Dass der Kläger aber in Wahrheit gesund gewesen sei und sich die ärztlichen Bescheinigungen erschlichen habe, hat der Beklagte nicht schlüssig dargelegt. Grundsätzlich stellen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen das gesetzlich vorgesehene Beweismittel dar, dass der Arbeitnehmer arbeitsunfähig war. Die Beweiskraft hat der Beklagte nicht zu erschüttern vermocht. Allein der Umstand, dass vier verschiedene Ärzte Erstbescheinigungen ausgestellt haben, zwingt nicht zu dem Schluss, der Kläger sei in Wahrheit gar nicht arbeitsunfähig gewesen. Allenfalls ist dieser Umstand geeignet, den Verdacht einer erschlichenen Krankschreibung zu erwecken. Eine Verdachtskündigung hat der Beklagte aber nicht ausgesprochen und auch nicht – was Voraussetzung einer wirksamen Verdachtskündigung wäre – den Kläger vor Ausspruch der Kündigung angehört.
Der Arbeitgeber ist Arbeitnehmern, die sich Krankmeldungen erschleichen und zu diesem Zweck häufig die behandelnden Ärzte wechseln, auch nicht hilflos ausgeliefert, wie der Beklagte meint. Es steht dem Arbeitgeber, wenn er Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit hegt, frei, den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung gemäß § 275 SGB V einzuschalten.
b) Die Kündigung vom 14.05.2002 ist auch nicht als krankheitsbedingte Kündigung wirksam im Sinne des § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG.
Zwar weist der Kläger im Jahr 2001 und bis zum Ende des Jahres 2002 erhebliche krankheitsbedingte Fehlzeiten auf. Der Beklagte hat aber bereits eine negative Gesundheitsprognose nicht schlüssig vorgetragen. Eine solche muss sich auf einen Zeitraum stützen, der repräsentativ ist und der bei – wie hier – länger bestehenden Arbeitsverhältnissen mit mindestens zwei Jahren anzusetzen ist (KR-Etzel, 5. Aufl., RdN. 354 zu § 1 KSchG m. w. N.). An einem solchen repräsentativen Zeitraum fehlt es vorliegend.
Darüber hinaus sind Beeinträchtigungen betrieblicher Belange nicht vorgetragen. Zur Höhe von Entgeltfortzahlungskosten hat der Beklagte keine Ausführungen gemacht- Betriebliche Ablaufstörungen sind allein mit einer pauschalen Behauptung, dass Arbeitskollegen die Zusammenarbeit mit dem Kläger verweigerten, nicht schlüssig dargelegt.
c) Die Kündigung ist auch unter dem Gesichtspunkt des§ 102 Abs. 1 Satz 1 BetrVG unwirksam. Der Beklagte hat nicht dargelegt, welche Kündigungsgründe im Sinne des § 102 Abs. 1 Satz 2 BetrVG er dem Betriebsrat wann und in welcher Form unterbreitet hat. Unabhängig davon, ob die Unterschriftsleistung der Betriebsratsmitglieder unter die ausgesprochene Kündigung eine Zustimmung zur Kündigung ausdrückt, kommt es nicht auf eine Zustimmung des Betriebsrates an, sondern darauf, dass der Arbeitgeber den Betriebsrat in der gesetzlich gebotenen Weise unterrichtet hat.
2. Die Kündigung vom 01.09.2002 ist als betriebsbedingte sozial nicht gerechtfertigt im Sinne des § 1 Abs. .2 Satz 1 KSchG.
a) Zutreffend ist, dass der Sozialplan weiteren Streichungen von Arbeitsplätzen nicht entgegensteht. Welches die dringenden betrieblichen Gründe waren, die einer Weiterbeschäftigung des Klägers entgegenstehen, hat der Beklagte aber nicht vorgetragen. Immerhin hatte er die im Sozialplan vorgesehene Reduzierung der Gruppe der Helfer bereits erfüllt (oder sogar übererfüllt) gehabt. Welche neue unternehmerische Entscheidung oder welche neuen externen Gründe den Bedarf für die Beschäftigung eines weiteren Helfers entfallen ließen, ist nicht vorgetragen.
Unabhängig hiervon hat der Beklagte bei der Auswahl der Arbeitnehmer soziale Gesichtspunkte nicht ausreichend berücksichtigt; § 1 Abs. 3 Satz 1 1. Halbsatz KSchG. Der Beklagte hat mit dem Betriebsrat unter Ziff. III) des Interessenausgleichs eine Gewichtung der sozialen Auswahlkriterien vorgenommen. An diese Gewichtung ist er gebunden. Dass eine einzelfallbezogene Abschlussprüfung einer Anwendung des Punkteschemas entgegensteht (zum Bewertungsspielraum des Arbeitgebers in einem Punkteschema GK-Kiel, RdN. 728 zu § 1 KSchG), hat der Beklagte selbst nicht vorgetragen.
b) Eine Anhörung des Betriebsrates hat der Beklagte auch hinsichtlich der zweiten Kündigung nicht ansatzweise vorgetragen, weshalb die ausgesprochene Kündigung auch aus diesem Grunde unwirksam ist.
Entgegen der Auffassung des Beklagten kommen ihm nicht die in § 125 Abs. 1 InsO statuierten Beweiserleichterungen zu Gute. Weder der Kläger noch der Arbeitnehmer sind in der Liste der zu kündigendenArbeitnehmer namentlich bezeichnet. Seine Rüge gemäß § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG stützt der Kläger im Gegenteil auf die Nichteinhaltung des vom Beklagten mit dem Betriebsrat vereinbarten Punkteschemas.
2. Der Beklagte hat den Kläger, da das Arbeitsverhältnis fortbesteht, entsprechend der Entscheidung des BAG (U. v. 27,02.1985 – GS 1/84 NJW1985, 2968), deren Begründung sich die Kammer anschließt, weiter zu beschäftigen.
Der Beklagte hat, da er im Rechtsstreit unterlegen ist, dessen Kosten zu tragen, § 91 Abs.1 Satz 1 ZPO.
Der Wert des Streitgegenstandes ist gemäß § 61 Abs. 1 ArbGG im Urteil festzusetzen. Entsprechend der Rechtsprechung des Hess. LAG zur Bewertung von Mehrfachkündigungen, welcher das erkennende Gericht folgt, waren die beiden Kündigungen mit insgesamt vier Monatseinkommen und der Weiterbeschäftigungsantrag mit einem weiteren Monatseinkommen zu bewerten.