Zusammenfassung:
Unter welchen Voraussetzungen kann ein Bürger bzw. Anlieger einen Anspruch auf Einrichtung einer Tempo-30-Zone wegen erheblicher Lärmbelastung haben? Ab welchem Grad der Lärmbelastung kann von so erheblichen Beeinträchtigungen ausgegangen werden, dass eine Reduzierung der zulässigen Geschwindigkeit des durchfahrenden Verkehrs angezeigt ist?
Bayerischer Verwaltungsgerichtshof
Az: 11 ZB 14.1991
Beschluss vom 10.03.2015
Tenor
I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.
Gründe
I.
Der Kläger ist Miteigentümer einer an der Staatsstraße St … (G… Straße) gelegenen Doppelhaushälfte in S… in der er mit seiner Tochter wohnt. Mit Schreiben vom 18. Dezember 2013 beantragte er beim Landratsamt S… die zulässige Höchstgeschwindigkeit in einem Streckenabschnitt dieser Straße aus Gründen des Lärmschutzes und der Verkehrssicherheit auf 30 km/h zu begrenzen. Diesen Antrag lehnte das Landratsamt mit Bescheid vom 14. Februar 2014 ab.
Hiergegen hat der Kläger beim Verwaltungsgericht München Klage erhoben mit dem Antrag, den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 14. Februar 2014 zu verpflichten, die zulässige Höchstgeschwindigkeit im fraglichen Bereich der G… Straße für beide Fahrtrichtungen auf 30 km/h zu begrenzen, hilfsweise über das Begehren erneut zu entscheiden. Mit Urteil vom 27. Mai 2014 hat das Verwaltungsgericht den Beklagten unter Abweisung der Klage im Übrigen verpflichtet, den Antrag des Klägers auf Anordnung einer Geschwindigkeitsbegrenzung auf 30 km/h unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu verbescheiden. Die Klage sei im Hauptantrag unbegründet. Nach den Lärmberechnungen des Staatlichen Bauamts W… seien die Grenzwerte der Verkehrslärmschutzverordnung beim klägerischen Anwesen tagsüber nicht und nachts nur leicht um 1,5 dB(A) überschritten. Der Kläger habe trotz der Lärmbelastung keinen Anspruch auf Anordnung der begehrten Geschwindigkeitsbegrenzung, da nicht davon ausgegangen werden könne, dass die Interessen anderer Verkehrsteilnehmer an der Verkehrsflüssigkeit hinter die klägerischen Belange zurücktreten müssten. Außerdem seien auch andere verkehrsbeschränkende Maßnahmen denkbar. Der Kläger könne jedoch eine ermessensfehlerfreie Entscheidung über seinen Antrag verlangen, die das Landratsamt bislang nicht getroffen habe.
Zur Begründung des hiergegen eingereichten Antrags auf Zulassung der Berufung, dem der Beklagte entgegentritt, macht der Kläger ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils, besondere tatsächliche und rechtliche Schwierigkeiten und Verfahrensmängel geltend.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen sowie auf die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
II.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
1. Aus der Antragsbegründung ergeben sich weder ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) noch Verfahrensmängel, auf denen die Entscheidung beruhen kann (§ 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO). Insbesondere hat das Verwaltungsgericht weder einen Beweisantrag des Klägers in fehlerhafter Weise abgelehnt noch seine Amtsermittlungspflicht verletzt.
Der Kläger trägt insoweit vor, das Erstgericht habe seinen in der mündlichen Verhandlung gestellten Beweisantrag auf Einholung eines Lärmbelastungsgutachtens zu Unrecht abgelehnt. Die aus dem Jahre 2010 stammenden abstrakten Lärmberechnungen des Beklagten könnten im Jahr 2014 nicht mehr relevant sein. Außerdem weiche das konkrete Verkehrsaufkommen und damit die konkrete Lärmbelastung der Wohnung im fraglichen Bereich stark von den Durchschnittsberechnungen nach oben ab, was eine erhebliche Überschreitung der Lärmbelastungs-Grenzwerte zur Folge habe.
Mit diesem Vorbringen kann der Kläger nicht durchdringen. Die Befugnis der Straßenverkehrsbehörden, die Benutzung bestimmter Straßen oder Straßenstrecken zum Schutz der Wohnbevölkerung vor Lärm und Abgasen gemäß § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StVO zu beschränken, wird durch § 45 Abs. 9 Satz 2 StVO dahin modifiziert, dass Voraussetzung für Beschränkungen des fließenden Verkehrs eine besondere örtliche Gefahrenlage ist, die das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung der Wohnbevölkerung durch Lärm und Abgase erheblich übersteigt. Hierzu müssen Lärm oder Abgase Beeinträchtigungen mit sich bringen, die jenseits dessen liegen, was unter Berücksichtigung der Belange des Verkehrs im konkreten Fall als ortsüblich hingenommen werden muss und damit zugemutet werden kann. Für die Beurteilung der Frage, wann die Zumutbarkeit einer Lärmbelastung überschritten wird, können die Immissionsgrenzwerte des § 2 Abs. 1 der Verkehrslärmschutzverordnung (16. Verordnung zum Bundes-Immissionsschutzgesetz – 16. BImSchV) als Orientierungspunkte herangezogen werden. Wenn diese Schwelle der Lärmbelastung überschritten ist, sind die tatbestandlichen Voraussetzungen für ein Tätigwerden der Straßenverkehrsbehörde erfüllt und die Behörde hat dann unter Gebrauch ihres Ermessens über Beschränkungen des fließenden Verkehrs zu entscheiden bzw. ist auf entsprechenden Antrag hin zu einer Ermessensentscheidung verpflichtet (st. Rspr., zuletzt BayVGH, B.v. 27.2.2015 – 11 ZB 14.309 – juris Rn. 18 m.w.N.).
Da das Landratsamt eine solche Ermessensentscheidung bisher nicht getroffen hat, hat das Verwaltungsgericht dem Hilfsantrag des Klägers stattgegeben und den Beklagten verpflichtet, den Antrag des Klägers auf Anordnung einer Geschwindigkeitsbegrenzung auf 30 km/h unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu verbescheiden. Für die Entscheidung über den Hauptantrag hat es die vom Staatlichen Bauamt W… vorgelegten und von einem Vertreter des Bauamts in der mündlichen Verhandlung nochmals erläuterten Lärmberechnungen herangezogen. Diese hat das Bauamt ausweislich der übermittelten Vorgänge auf Anforderung des Landratsamts vom 23. Dezember 2013 auf der Basis der „Verkehrsmengenkarte“ aus dem Jahr 2010 erstellt und dem Landratsamt am 7. Januar 2014 übermittelt.
Das Verwaltungsgericht war nicht verpflichtet, ein ergänzendes Lärmgutachten eines Sachverständigen einzuholen. Bei dem protokollierten Antrag des Klägers in der mündlichen Verhandlung, ein Lärmbelastungsgutachten einzuholen, handelte es sich nicht um einen Beweisantrag im Sinne von § 86 Abs. 2 VwGO, sondern um einen von dieser Vorschrift nicht erfassten Beweisermittlungsantrag (vgl. Geiger in Eyermann, VwGO, 14. Auflage 2014, § 86 Rn. 27). Diesen hat das Verwaltungsgericht mit der Begründung abgelehnt, der Kläger habe kein konkretes Beweisthema benannt und es sei auch nicht dargetan oder ersichtlich, dass die Lärmberechnung offensichtlich unrichtig wäre. In seinem Urteil hat das Verwaltungsgericht nochmals eingehend ausgeführt, weshalb es die Lärmberechnung des Staatlichen Bauamts für die Einschätzung der Zumutbarkeit der Lärmbelastung im klägerischen Anwesen für ausreichend hält.
Den Ausführungen des Verwaltungsgerichts, wonach keine begründeten Zweifel an den Lärmberechnungen des Bauamts bestehen und diese insbesondere auf einer ausreichenden, seit ihrer Erhebung im Wesentlichen unveränderten Datenbasis beruhen, ist der Kläger weder in der mündlichen Verhandlung noch in der Begründung des Zulassungsantrags substantiiert entgegengetreten. Er hat keine Anhaltspunkte oder Zahlen für seine Behauptung dargelegt, das konkrete Verkehrsaufkommen und damit die Lärmbelastung der Wohnung weiche stark von den Durchschnittsberechnungen nach oben ab. Nur in einem solchen Fall hätte für das Verwaltungsgericht Anlass bestehen können, im Hinblick auf eine etwaige Ermessensreduzierung zugunsten des Klägers der Frage, ob die Lärmberechnungen zutreffend sind, durch Einholung eines Sachverständigengutachtens nachzugehen. Das pauschale Bestreiten der Richtigkeit der Lärmberechnung ist jedoch für die Annahme einer verfahrensfehlerhaft unterlassenen Beweiserhebung nicht ausreichend. Allein die nicht näher untermauerte Behauptung des Klägers, die Zahlen, auf denen die Berechnung beruht, seien überholt, führt nicht dazu, dass sich die Einholung eines Lärm-Sachverständigengutachtens dem Verwaltungsgericht im Wege seiner Amtsaufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO) hätte aufdrängen müssen.
2. Die Berufung ist auch nicht wegen besonderer tatsächlicher oder rechtlicher Schwierigkeiten der Rechtssache zuzulassen (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO). Hierzu hätte der Kläger darlegen müssen, dass die Beantwortung der für die Entscheidung erheblichen Fragen in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht voraussichtlich das durchschnittliche Maß nicht unerheblich überschreitende Schwierigkeiten bereitet, sich also wegen seiner Komplexität und abstrakten Fehleranfälligkeit aus der Mehrzahl der verwaltungsgerichtlichen Verfahren heraushebt. Dies lässt sich der Antragsbegründung jedoch nicht entnehmen.
3. Als unterlegener Rechtsmittelführer hat der Kläger die Kosten des Verfahrens zu tragen (§ 154 Abs. 2 VwGO).
4. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 und § 52 Abs. 2 GKG i.V.m. Nr. 46.15 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der 2013 aktualisierten Fassung.
5. Dieser Beschluss, mit dem die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig wird (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO), ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).