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Revision – bei verspätet abgesetzten Berufungsurteil – sofortige Beschwerde 

BAG

Az: 4 AZN 716/06

Beschluss vom 02.11.2006


In Sachen hat der Vierte Senat des Bundesarbeitsgerichts am 2. November 2006 beschlossen:

1. Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg vom 19. Januar 2006 – 21 Sa 47/05 – wird als unzulässig verworfen.

2. Der Kläger hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.

3. Der Streitwert wird auf 27.904,00 Euro festgesetzt.

Gründe:

I. Die Parteien streiten um die Wirksamkeit von vier Kündigungen, welche die Beklagte am 23. und 26. März 2004 sowie am 3. Mai 2004 und am 25. August 2004 dem bei ihr langjährig beschäftigten Kläger gegenüber ausgesprochen hat, sowie um die Verpflichtung der Beklagten, den Kläger unverändert weiterzubeschäftigen. Die Beklagte hat neben dem Antrag auf Klageabweisung in zwei Hilfsanträgen beantragt, das Arbeitsverhältnis gegen Zahlung einer Abfindung zum 30. September 2004 oder 31. März 2005 aufzulösen.

Das Arbeitsgericht hat den Kündigungsschutzanträgen und dem Weiterbeschäftigungsanspruch entsprochen und die Auflösungsanträge der Beklagten zurückgewiesen. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landesarbeitsgericht unter deren Zurückweisung im Übrigen das Arbeitsverhältnis gegen Zahlung einer Abfindung in Höhe von 41.856,00 Euro aufgelöst und die Revision gegen sein Urteil nicht zugelassen. Das am 19. Januar 2006 verkündete Urteil des Landesarbeitsgerichts ist vollständig abgefasst und mit den Unterschriften sämtlicher Mitglieder der Kammer versehen am 30. Juni 2006 der Geschäftsstelle des Landesarbeitsgerichts übergeben und dem Prozessbevollmächtigten des Klägers zweiter Instanz am 3. Juli 2006 zugestellt worden. Mit am 2. August 2006 beim Bundesarbeitsgericht eingegangener und am 4. September 2006 begründeter Beschwerde hat sich der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision gewendet und sich für eine nachträgliche Zulassung der Revision darauf berufen, eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung sei entscheidungserheblich. Außerdem habe das Landesarbeitsgericht seinen Anspruch auf rechtliches Gehör dadurch verletzt, dass das Urteil erst mehr als fünf Monate nach seiner Verkündung in die Geschäftsstelle gelangt sei und so den Zugang zur Beschwerdeinstanz unzulässig erschwert habe.

II. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist nach § 72b Abs. 1 Satz 2 ArbGG unstatthaft und deshalb unzulässig.

1. Durch das am 1. Januar 2005 in Kraft getretene Gesetz über die Rechtsbehelfe bei Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Anhörungsrügengesetz) ist mit § 72b ArbGG ein neuer Rechtsbehelf in das Arbeitsgerichtsgesetz eingefügt worden. Durch ihn besteht erstmals die Möglichkeit, Entscheidungen von Rechtsstreitigkeiten durch zweitinstanzliche Urteile, die erst später als fünf Monate nach ihrer Verkündung vollständig abgefasst und mit den Unterschriften sämtlicher erkennender Richter versehen zur Geschäftsstelle gelangt sind, fachgerichtlich zu korrigieren. Liegen die Voraussetzungen für eine sofortige Beschwerde nach § 72b ArbGG vor, ist dies der einzige Rechtsbehelf, der gegen ein verspätet abgesetztes Urteil des Landesarbeitsgerichts statthaft ist, in dem die Revision nicht zugelassen worden ist (BAG 15. März 2006 – 9 AZN 885/05 – EzA ArbGG 1979 § 72a Nr. 107; GK-ArbGG/Mikosch Stand September 2006 § 72b Rn. 2, 4). Dies ergibt sich aus dem Wortlaut von § 72b Abs. 1 Satz 2 und § 72a Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 ArbGG, einem Vergleich mit dem Wortlaut des § 73 Abs. 1 Satz 2 ArbGG und der Entstehungsgeschichte der Bestimmung.

§ 72b Abs. 1 Satz 2 ArbGG ordnet an, dass § 72a, also die Bestimmung über die Nichtzulassungsbeschwerde, keine Anwendung findet. Im Zusammenhang mit § 72b Abs. 1 Satz 1 ArbGG kann dies nur bedeuten, dass § 72a insgesamt unanwendbar ist, wenn ein Urteil im Sinne des § 72b verspätet abgesetzt worden ist. Dieses Verständnis wird bestätigt durch die Auslassung des § 547 Nr. 6 ZPO („Urteil ohne Gründe“) in § 72a Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 ArbGG und durch einen Vergleich mit § 73 Abs. 1 Satz 2 ArbGG. Während dort, im Falle einer aufgrund Zulassung statthaften Revision, nur bestimmt wird, die Revision könne nicht auf einen nach allgemeinen Regeln an sich denkbaren Revisionsgrund aus § 72b ArbGG gestützt werden, ordnet § 72b Abs. 1 Satz 2 ArbGG an, im Falle eines verspätet abgesetzten Urteils des Landesarbeitsgerichts finde § 72a ArbGG insgesamt keine Anwendung.

Dieses Auslegungsergebnis wird durch die Entstehungsgeschichte des § 72b ArbGG gestützt, die in den Gesetzesmaterialien einen eindeutigen Niederschlag gefunden hat: Bereits durch Beschluss vom 27. April 1993 hatte der Gemeinsame Senat der Obersten Gerichtshöfe des Bundes (- GmS-OGB 1/92 – BVerwGE 92, 367) darauf erkannt, bei einem Urteil, das erst später als fünf Monate nach Verkündung mit den Unterschriften aller erkennenden Richter versehen zur Geschäftsstelle gekommen sei, handele es sich um ein „Urteil ohne Gründe“ iSd. § 547 Nr. 6 ZPO nF. Das Bundesverfassungsgericht hat durch Beschluss vom 26. März 2001 (- 1 BvR 383/00 – AP GG Art. 20 Nr. 33 = EzA ZPO § 551 Nr. 9) weitergehend entschieden, ein derart verspätetes Urteil verstoße gegen das Rechtsstaatsprinzip; es könne, auch wenn es dann letztlich mit Gründen versehen vorliege, nicht mehr Grundlage für ein Revisionsgericht sein, das Vorliegen von Revisionsgründen in rechtsstaatlicher Weise zu überprüfen. Aus dieser Entscheidung zog der Erste Senat des Bundesarbeitsgerichts für das Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren (1. Oktober 2003 – 1 ABN 62/01 – BAGE 108, 55) die Konsequenz und entschied, gegen eine im Sinne der Rechtsprechung des Gemeinsamen Senats der Obersten Gerichtshöfe des Bundes verspätet abgesetzte Entscheidung eines Landesarbeitsgerichts sei eine Nichtzulassungsbeschwerde in keinem Falle statthaft; es gebe keine auf rechtsstaatlichem Weg zustande gekommenen Entscheidungsgründe, mit denen man sich in der Beschwerdebegründung auseinandersetzen könne. Es blieb hiernach nur noch die Verfassungsbeschwerde gegen verspätet abgesetzte Entscheidungen, in denen die Revision nicht zugelassen worden war. Diese Rechtslage hat der Gesetzgeber des Anhörungsrügengesetzes aufgegriffen und entsprechend dem Auftrag des Bundesverfassungsgerichts im Plenarbeschluss vom 30. April 2003 (- 1 PBvU 1/02 – BVerfGE 107, 395) mit § 72b ArbGG einen Rechtsbehelf geschaffen, mit dessen Hilfe verspätet abgesetzte und deshalb rechtsstaatswidrig zustande gekommene zweitinstanzliche Entscheidungen der Gerichte für Arbeitssachen fachgerichtlich korrigiert werden können. An der Rechtslage im Übrigen sollte sich aber durch diese Neuregelung nichts ändern. Durch § 72b Abs. 1 Sätze 1 und 2 ArbGG „wird deutlich gemacht, dass beim ‚Urteil ohne Gründe‘ nur das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde statthaft ist. Erst wenn ein ‚Urteil mit Gründen‘ vorliegt, soll die Nichtzulassungsbeschwerde in Betracht kommen, wenn das Landesarbeitsgericht die Revision nicht zugelassen hat“ (BR-Drucks. 663/04 S. 50 = BT-Drucks. 15/3706 S. 21).

2. Wie der Kläger selbst festgestellt hat und wie sich aus dem Akteninhalt zweifelsfrei ergibt, ist das anzufechtende Urteil des Landesarbeitsgerichts später als fünf Monate nach seiner Verkündung vollständig abgesetzt und mit allen Unterschriften versehen zur Geschäftsstelle des Landesarbeitsgerichts gelangt. Es ist am 19. Januar 2006 verkündet worden und erst am 30. Juni 2006 in der erforderlichen Form bei der Geschäftsstelle eingegangen. Damit gab es für den Kläger gegen dieses Urteil nicht die von ihm eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde nach § 72a ArbGG, sondern nur die sofortige Beschwerde nach § 72b ArbGG. Sie hätte bis zum 19. Juli 2006 eingelegt und begründet werden müssen (§ 72b Abs. 2 ArbGG).

Da die nicht statthafte Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers erst am 2. August 2006 eingelegt und am 4. September 2006 begründet worden ist, schied auch eine Umdeutung seiner Nichtzulassungsbeschwerde in eine sofortige Beschwerde nach § 72b ArbGG aus. Nachdem der Kläger in der Beschwerdebegründung die verspätete Absetzung des anzufechtenden Urteils angesprochen hatte, wäre eine solche Umdeutung an sich in Betracht gekommen. Sie wäre indes wegen Versäumung der Einlegungs- und Begründungsfrist unzulässig.

III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 ZPO. Der Streitwert ist nach § 63 Abs. 2 GKG festgesetzt, wobei die Kündigungsschutzanträge gegen die Wirksamkeit der vier von der Beklagten ausgesprochenen Kündigungen mit insgesamt sieben Monatsgehältern und der Weiterbeschäftigungsantrag mit einem weiteren Monatsgehalt bewertet worden sind.

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