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Wann darf ein Wartepflichtiger auf das Abbiegen des Vorfahrtsberechtigten vertrauen?


Oberlandesgericht Dresden

Az: 7 U 1876/13

Urteil vom 20.08.2014


Anmerkung des Bearbeiters

Darf ein Wartepflichtiger sein Fahrzeug in Bewegung setzen und auf die Vorfahrtsstraße auffahren, wenn der Vorfahrtsberechtigte blinkt oder bedarf es zusätzlicher Anzeichen des Abbiegens wie etwa einer Geschwindigkeitsreduzierung oder eines Einordnens?


Tenor

I. Auf die wechselseitigen Berufungen der Parteien wird das Endurteil des Landgerichts Dresden vom 12.11.2013 unter jeweiliger Zurückweisung der weitergehenden Rechtsmittel wie folgt

a b g e ä n d e r t :

1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 2.254,64 € zuzüglich Zinsen hierauf in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 11.06.2013 zu bezahlen.

2. Die Beklagte wird darüber hinaus verurteilt, an den Kläger außergerichtlich entstandene Rechtsanwaltsgebühren in Höhe von 171,71 € zuzüglich Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 11.06.2013 zu bezahlen.

3. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

II. Von den Kosten des Rechtsstreits trägt der Kläger 60 % und die Beklagte 40 %.

III. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.


Beschluss

Der Gebührenstreitwert wird auf bis zu 6.000,00 € festgesetzt.


Gründe

Die wechselseitig erhobenen Berufungen der Parteien sind zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt (§§ 511, 517, 519, 520 ZPO). Sie sind – teilweise – begründet, weshalb das angefochtene Urteil entsprechend abzuändern war.

Von der Darstellung des Sach- und Streitstands wird gemäß §§ 540 Abs. 2, 313a Abs. 1 S. 1 ZPO abgesehen.

Das Landgericht ist im Ansatz zutreffend davon ausgegangen, dass nach der überwiegenden obergerichtlichen Rechtsprechung, der auch der Senat folgt (vgl. ausführlich Beschluss vom 24.04.2014 – Az: 7 U 1501/13), der Wartepflichtige nur dann auf ein Abbiegen des Vorfahrtberechtigten vertrauen darf, wenn über das bloße Betätigen des Blinkers hinaus in Würdigung der Gesamtumstände, sei es durch eine eindeutige Herabsetzung der Geschwindigkeit oder aber einen zweifelsfreien Beginn des Abbiegemanövers, eine zusätzliche tatsächliche Vertrauensgrundlage geschaffen worden ist, die es im Einzelfall rechtfertigt, davon auszugehen, das Vorrecht werde nicht (mehr) ausgeübt (OLG Saarbrücken, a.a.O.; OLG Hamm, Urt. v. 11.03.2003 – 9 U 169/02, NJW-RR 2003, 975; OLG Celle, Urt. v. 22.02.1996 – 5 U 71/95, juris; KG, Urt. v. 13.01.1992 – 12 U 5054/90, juris; OLG Oldenburg, Beschl. v. 25.05.1992 – Ss 130/92, NJW 1993, 149; OLG Düsseldorf, Urt. v. 23.03.1992 – 1 U 99/91, OLGR 1992, 189; OLG Hamm, Beschl v. 22.03.1991 – 2 Ss OWi 230/91, juris; KG, Urt. v. 29.09.1989 – 12 U 4646/88, juris; OLG Saarbrücken, Urt. v. 02.10.1981 – 3 U 109/80, juris; OLG Hamm, Beschl. v. 13.11.1980 – 3 Ss OWi 2478/80, juris; ausdrücklich offengelassen von OLG Düsseldorf, Urt. v. 10.06.1976 – 12 U 135/75, juris; ebenso jetzt wohl auch: OLG München, Urt. v. 06.09.2013 – 10 U 2336/13, SVR 2014, 10); der Wartepflichtige darf also niemals „blindlings“ (so OLG Koblenz, Urt. v. 03.04.1995 – 12 U 761/94, juris) auf das Abbiegen des Blinkenden vertrauen. Anders als das Landgericht (wohl) angenommen hat, ist nicht erforderlich, dass über das Blinken nach rechts hinaus kumulativ neben einer eindeutigen Geschwindigkeitsreduktion, die auf ein Abbiegen hindeutet, zusätzlich ein Einordnen nach rechts gegeben sein muss. Dies wird zwar – erst recht – den Schluss rechtfertigen, dass der Blinkende ein Abbiegen plant, doch ist lediglich erforderlich, dass neben dem Blinken zumindest ein weiteres deutliches Anzeichen dafür gegeben ist, dass der Vorfahrtberechtigte tatsächlich vor dem Wartepflichtigen abbiegt.

Gemessen daran war der Behauptung der Beklagten, der Kläger habe neben einem eindeutigen Blinken nach rechts auch seine Geschwindigkeit maßgeblich reduziert, so dass bei dem hinter dem Kläger fahrenden Zeugen P. der Eindruck entstanden sei, der Vorausfahrende würde nun nach rechts abbiegen, im Wege der Beweisaufnahme nachzugehen. Zwar haben die Beklagten keine exakten (d.h. bezifferten) Angaben zur behaupteten „deutlichen“ Geschwindigkeitsverminderung gemacht, doch genügt dies – regelmäßig – für einen dem Beweis zugänglichen substantiierten Sachvortrag, zumal der Wartepflichtige andernfalls genötigt würde, vermeintlich genau bezifferte Angaben zur Geschwindigkeitsreduktion ins Blaue hinein aufzustellen. Erforderlich, aber auch genügend ist in diesen Fällen, wenn der Wartepflichtige darlegt und und unter Beweis stellt, dass der Vorfahrtberechtigte seine Geschwindigkeit so deutlich verringerte, dass bei objektiver Würdigung der Eindruck bei dem Wartepflichtigen entstehen musste, er könne gefahrlos auf die Vorfahrtstraße auffahren.

Nach der Rechtsprechung sind zwar Zeugenangaben zu gefahrenen Geschwindigkeiten, von eng umgrenzten Ausnahmefällen abgesehen, regelmäßig ohne großen Beweiswert. Anderes gilt nach Überzeugung des Senats aber für die Frage, ob ein Pkw im oben genannten Sinne seine Geschwindigkeit maßgeblich reduziert. Dies gilt jedenfalls für jene Zeugen, die sich in einer Position befinden, aus der heraus sich diese Verminderung der Geschwindigkeit gut beobachten lässt. Insbesondere gilt dies für Zeugen, die hinter dem abbremsenden Vorfahrtberechtigten fahren und selbst auf dieses Abbremsen reagieren (müssen).

Im Ergebnis der deshalb ergänzend durchgeführten Vernehmung der wechselseitig aufgebotenen Zeugen steht zur vollen Überzeugung des Senats fest, dass der Kläger über das bloße Blinken nach rechts hinaus auch seine Geschwindigkeit in Annäherung an die wartende Wartepflichtige so maßgeblich reduzierte, dass bei dieser nachvollziehbar der Eindruck entstand, der Kläger wolle vor ihr nach rechts (in den dort befindlichen Lebensmittelmarkt) einbiegen.

Zwar konnte die als Zeugin vernommene Fahrerin des Beklagten-Pkw, die Zeugin Z., letztlich lediglich bekunden, dass der Kläger rechts blinkte. Ob er auch seine Geschwindigkeit maßgeblich reduzierte, konnte sie nicht sicher sagen. Der Kläger hat ein dergestalt missverständliches Blinken (noch vor der Einfahrt) im Rahmen seiner informatorischen Anhörung auch nicht bestritten, sondern konnte sich hieran nicht mehr erinnern. Angesichts der vorgelegten Lichtbilder geht der Senat davon aus, dass auch mit Blick auf die spätere Aufteilung der Fahrbahn in zwei Spuren (für Rechts- und Linksabbieger) ein Blinken nach rechts vor Passieren der Einfahrt verfrüht und deshalb objektiv geeignet war, Missverständnisse bei den Wartepflichtigen auszulösen. Der Zeuge P. hat darüber hinaus detailreich, sachlich und ohne jedweden Belastungseifer, für den Senat in jeder Hinsicht überzeugend, geschildert dass er aufgrund der verlangsamten Fahrweise des Klägers noch weit vor Erreichen der Einfahrt zum Lebensmittelmarkt letztlich den Eindruck gewonnen hatte, dass dieser in den Lebensmittelmarkt einfahren wolle, nachdem er zuvor noch angenommen hatte, der Kläger habe versehentlich vergessen, seinen Blinker zurückzusetzen. Auch aus seiner Sicht war das Blinken nach rechts deshalb irreführend. Auf mehrfachen Vorhalt des Senats ist er – im Kern – letztlich bei seiner Schilderung verblieben, dass für ihn mit Blick auf die nahende Einfahrt der Eindruck entstanden war, der Kläger wolle nach rechts abbiegen, nicht nur wegen des Blinkens nach rechts, sondern auch wegen einer von ihm wahrgenommenen deutlichen Geschwindigkeitsverringerung, wie diese angesichts der vorausliegenden Einfahrt angezeigt gewesen wäre. Demgegenüber konnte die ebenfalls als Zeugin vernommene Ehefrau des Klägers, die den Unfall als Beifahrerin im klägerischen Pkw erlebt hat, letztlich (nachvollziehbar) keinerlei detaillierten Angaben zu dem Geschehen vor dem eigentlichen Unfall machen. In der Gesamtschau ist der Beklagten deshalb der Nachweis eines unfallmitursächlichen, missverständlichen Verkehrsverhaltens des Klägers, mithin eines Verstoßes gegen § 1 Abs. 2 StVO, geglückt.

Im Ergebnis dessen sind die wechselseitigen Verursachungs- und Verschuldensbeiträge gemäß § 17 Abs. 1 StVG gegeneinander abzuwägen. Nach der Rechtsprechung des Senats (vgl. Beschl. v. 24.04.2014, a.a.O.) trägt bei einem Aufeinandertreffen von Vorfahrtverstoß (§ 8 StVO) einerseits und missverständlichem Verhalten (§ 1 Abs. 2 StVO) andererseits derjenige Unfallbeteiligte die Hauptverantwortung, dem der Vorfahrtverstoß zur Last fällt. Insoweit hält der Senat auch im vorliegenden Fall eine Haftungsverteilung von 70:30 zulasten der Beklagten, die sich die Vorfahrtverletzung ihrer Versicherten zurechnen lassen muss, für insgesamt angemessen und sachgerecht (vgl. auch OLG Hamm, Urt. v. 11.03.2003, a.a.O. und OLG München, Urt. v. 06.09.2013 – 10 U 2336/13, SVR 2014, 105).

Was die eingeklagten Schadensbeträge anlangt, sind der vom Landgericht berücksichtigte Reparaturaufwand (7.516,40 €) und der geltend gemachte Nutzungsausfall (850,00 €) in der Berufungsinstanz nicht weiter angegriffen worden.

Die Beklagte rügt allerdings zu Recht, dass das Landgericht entgegen der ständigen Rechtsprechung des Senats eine Kostenpauschale von 30,00 €, statt richtig 25,00 €, zugrunde gelegt hat. Soweit einem Geschädigten weitere, besondere Kosten im Rahmen der Schadensbeseitigung entstehen, steht es ihm frei, dies nicht über die Kostenpauschale, sondern durch konkrete Schadensdarlegung geltend zu machen.

Soweit die vom Landgericht angenommene Höhe der Wertminderung (700,00 €) angegriffen worden ist, dringt die Berufung nicht durch. Die Parteien haben sich insoweit wechselseitig auf divergierende Privatsachverständigengutachten bezogen. Solche sind regelmäßig nur konkretisierter Sachvortrag der Parteien, ersetzen also einen Beweisantritt nicht. Es ist auch nicht zu beanstanden, dass angesichts der hier im Raum stehenden Größenordnung das Landgericht unter Hinweis auf § 287 ZPO einen zwischen den dargelegten Größenordnungen liegenden Wertansatz gewählt hat. Dass dieser Wert nicht (mathematisch exakt) das arithmetische Mittel zwischen beiden Größen darstellt (sondern geringfügig hiervon abweicht), ist ebenfalls nicht zu beanstanden, nachdem § 287 ZPO dem Tatrichter insoweit ein weites Schätzermessen eröffnet.

Rechtsfehlerhaft hat das Landgericht allerdings die von der Klage geltend gemachten, unstreitig in Rechnung gestellten, Sachverständigenkosten nicht in Gänze berücksichtigt. Abgesehen davon, dass eine – unterstellt – fehlerhafte Abrechnung des Privatsachverständigen letztlich eine Rechts-, nicht eine der Schätzung unterfallende Tatsachenfrage darstellen würde, ist hier allein maßgeblich, dass ausweislich der – auch nicht in Zweifel gezogenen – Anlage K1 dem Kläger unfallbezogen exakt der mit der Klage geltend gemachte Betrag in Rechnung gestellt worden ist. Der Kläger als Geschädigter hatte demnach zunächst einen Freistellungsanspruch, der sich nach Fristsetzung bzw. Weigerung des Ersatzpflichtigen automatisch in einen Anspruch auf Zahlung der zur Freistellung erforderlichen Summe wandelt (§ 250 BGB). Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger hätte erkennen können oder müssen, dass dieser Betrag (unterstellt) zu hoch angesetzt ist (Gedanke der Schadensminderung, vgl. § 254 Abs. 2 Satz 1 BGB), sind nicht vorgetragen worden.

Zusammenfassend ergibt sich deshalb folgende Schadensaufstellung:

 Reparaturkosten: 7.516,40 €

Wertminderung: 700,00 €

Sachverständigenkosten: 1.011,95 €

Nutzungsausfall: 850,00 €

Kostenpauschale: 25,00 €

insgesamt: 10.103,35 €

Hieraus folgt bei einer Quote von 70 % (vgl. oben) ein ersatzfähiger Betrag von 7.072,34 €, abzüglich der bereits bezahlten 4.817,70 € ergibt sich der titulierte Betrag.

Unter Berücksichtigung des dergestalt angemessenen Gegenstandswerts (bis zu 8.000,00 €) errechnet sich auch der vom landgerichtlichen Urteil abweichende Anspruch auf Ersatz vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten. Im Übrigen ist der Ausspruch des Landgerichts zu den geschuldeten Verzugszinsen nicht angegriffen worden.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 92 Abs. 1, 97 Abs. 1 ZPO, der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit aus §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO, 26 Nr. 8 EGZPO. Die Festsetzung des Gebührenstreitwerts beruht unter Berücksichtigung der wechselseitig eingelegten Rechtsmittel auf §§ 3 ZPO, 47, 45 GKG. Gründe, die Revision zuzulassen (§ 543 Abs. 2 ZPO), bestehen nicht.


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