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Sachverständiger (ärztlicher) – Befangenheit

Oberlandesgericht Frankfurt/Main

Az: 8 W 7/10

Beschluss vom 15.02.2010


Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Landgerichts Wiesbaden vom 11. Dezember 2009 abgeändert.

Das Ablehnungsgesuch der Antragstellerin gegen den Sachverständigen Dr. SV1 wird für begründet erklärt.

Der Streitwert des Beschwerdeverfahrens beträgt 7.000 €.

Gründe

I.
Die Antragstellerin war von 18. 3. 2005 bis 20. 8. 2007 Patientin in der von der Antragsgegnerin und dem Zahnarzt Dr. X betriebenen zahnärztlichen Gemeinschaftspraxis. Sie wurde dort von beiden Praxisinhabern umfassend implantologisch und prothetisch versorgt.

Die Antragsgegnerin hat ein selbständiges Beweisverfahren angestrengt, um klären zu lassen, ob die von der Antragstellerin eingegliederte Oberkiefer- und Unterkieferprothese nach den Regeln der ärztlichen Kunst hergestellt worden ist. Sie wirft der Antragsgegnerin u. a. vor, die Oberkieferprothese nicht passgenau hergestellt und eine Klammer an der Unterkieferprothese bei Zahn 43 entfernt zu haben.

Das Landgericht hat ein Gutachten des Sachverständigen Dr. SV1 eingeholt. Auf dessen Inhalt wird verwiesen (Bl. 82 ff. d. A.). Innerhalb der verlängerten Stellungnahmefrist hat die Antragstellerin den Gutachter wegen der Besorgnis der Befangenheit abgelehnt. Er habe es ohne vorherige Absprache mit dem Gericht und den Verfahrensbevollmächtigten zugelassen, dass Dr. X bei der zahnärztlichen Untersuchung der Kläger zugegen gewesen sei und er habe sich mit ihm über den Fall fachlich ausgetauscht. Ferner hat die Klägerin inhaltliche Einwände gegen das Gutachten sowie ergänzende Fragen vorgebracht.

Der Sachverständige hat sich in einer ergänzenden Stellungnahme zum Vorwurf der Befangenheit sowie zu den Ergänzungsfragen der Antragstellerin geäußert (Bl. 148 ff. d. A.). Hierauf hat die Antragsstellerin erwidert und aus der Stellungnahme weitere Gründe für die Voreingenommenheit des Gutachters abgeleitet (Bl. 170 f. d. A.).

Das Landgericht hat den Befangenheitsantrag nach entsprechendem Hinweis zurückgewiesen (Bl. 172; 179 f. d. A.). Der form- und fristgerecht eingelegten Beschwerde ist nicht abgeholfen worden.

II.

Das Rechtsmittel ist zulässig (§§ 406 Abs. 4, 567, 569 ZPO). Es führt in der Sache selbst zum Erfolg:

1. Das Ablehnungsgesuch ist rechtzeitig gestellt worden (§ 406 Abs. 2 S. 2 ZPO).

Das Landgericht hat zwar mit Recht darauf hingewiesen, dass die Ablehnung eines ohne Rüge ernannten Sachverständigen nur noch möglich ist, wenn der Verfahrensbeteiligte unverzüglich nach Kenntnis eines später aufgetretenen Ablehnungsgrundes sein Gesuch einreicht (vgl. Zöller- Greger, ZPO, 27. Aufl., Rn 11 zu § 406 ZPO). Ergeben sich die Ablehnungsgründe aus dem Inhalt des Gutachtens, kann der Antragsteller die vom Gericht gesetzte Stellungnahmefrist ausnutzen (BGH NJW 2005, 1869). Wenn – wie hier – der Ablehnungsgrund bereits aus dem Verhalten des Gutachters während der ärztlichen Untersuchung abgeleitet wird, so kann man darüber streiten, ob der Verfahrensbeteiligte nicht schon unmittelbar nach diesem Termin sein Gesuch einreichen muss.

Im Ergebnis spielt diese Frage hier keine Rolle, weil sich das Ablehnungsgesuch nicht allein auf das Verhalten des Gutachters bei der ärztlichen Untersuchung stützt. Die Antragstellerin beruft sich in ihrem Schriftsatz vom 10. 11. 2009 ergänzend auf den Inhalt der undatierten, am 9. 10. 2009 eingegangenen Stellungnahme des Gutachters (Bl. 171 d. A.). Sie bringt damit fristgerecht weitere Ablehnungsgründe vor, die ihr erst durch diese Stellungnahme bekannt geworden sind.

2. Das Ablehnungsgesuch ist begründet (§§ 406 Abs. 1, 42 ZPO).

Es kommt nicht darauf an, ob der Sachverständige Dr. SV1 tatsächlich befangen ist. Ein Ablehnungsgrund ist schon dann gegeben, wenn in den Augen einer besonnenen Partei ein Grund gegeben ist, der bei verständiger Würdigung geeignet ist, Misstrauen der Partei in die Unparteilichkeit des Gutachters zu rechtfertigen. Das ist hier der Fall.

a) Die Antragsstellerin hat folgenden Sachverhalt glaubhaft gemacht:

Der Sachverständige hat die Parteien persönlich zu den Untersuchungsterminen vom 7. Juli und vom 7. August 2009 geladen. Eine Benachrichtigung des Gerichts und der Prozessbevollmächtigten ist unterblieben. Zu beiden Terminen erschien Dr. X in Vertretung der Antragsgegnerin. Der Sachverständige hat am 7. August 2009 die Anamnese in Abwesenheit von Dr. X erhoben. Er hat die Antragstellerin darauf hingewiesen, dass dem behandelnden Arzt, d. h. auch Herrn Dr. X, das Recht zusteht, der Begutachtung beizuwohnen, worauf Herr Dr. X bei der zahnärztlichen Untersuchung der Antragstellerin zugegen war. Der Sachverständige hat sich während des Untersuchungstermins in fachlicher Hinsicht mit Dr. X über den Fall unterhalten. Er hat den Behandlungsablauf nach dem Computerauszug der Antragsgegnerin ausgewertet (S. 12 ff. des Gutachtens – Bl. 93 d. A.). Darin wird u. a. unter dem 16. 1. 2005 dokumentiert: „ … 16. 1. 2005 N.N. Behandlungsvorschlag: OK gaumenfreie, herausnehmbare Prothese.. „. Auf die Frage der Antragstellerin, ob nicht eine gaumengeschlossene aktivierbare Teleskopprothese mit metallischen Primärkronen das Mittel der Wahl gewesen wäre, hat der Sachverständige in der ergänzenden Stellungnahme u. a. geantwortet: „.. Es war auch der ausdrückliche Wunsch der Antragstellerin, eine gaumenfreie Prothese zu erhalten …(S. 3, Bl. 150 d. A.)“. Eine Quelle für diese Erkenntnis wird nicht genannt. Sie ergibt sich nicht aus der Akte.

b) Schon das Vorgehen des Gutachters beim Untersuchungstermin war fragwürdig. Zwar ist die Beweisaufnahme im selbständigen Beweisverfahren grundsätzlich parteiöffentlich, d. h. beide Parteien haben das Recht, bei einem Beweisaufnahmetermin des Gutachters anwesend zu sein (§§ 493 Abs. 3, 357 ZPO). Das gilt aber nicht uneingeschränkt für die ärztliche Untersuchung eines Antragstellers durch den Gutachter. Eine solche Untersuchung ist generell ein so starker Eingriff in die persönlichkeitsgebundene Intimsphäre des Patienten, dass die Anwesenheit des Prozessgegners oder eines Dritten nur mit ausdrücklicher Einwilligung des Patienten gestattet werden kann (vgl. u. a. OLG München NJW-RR 1991, 896; OLG Köln NJW 1992, 1568; OLG Hamm MedR 2004, 60; Zöller-Greger, ZPO, 27. Aufl., Rn 5 zu § 406 ZPO; Martis-Winkhart, Arzthaftpflichtrecht, 3. Aufl, Kapitel S Rn 128 m . w. N.).

Nach eigener Darstellung des Gutachters hat die Antragstellerin ihre Einwilligung zur Anwesenheit von Dr. X erst erteilt, nachdem er – der Sachverständige – sie darauf hingewiesen hatte, dass Herr Dr. X seines Erachtens ohnehin berechtigt ist, der Begutachtung beizuwohnen (Bl. 148 d. A.). Da es der Gutachter versäumt hatte, die Prozessbevollmächtigte der Antragstellerin von dem Untersuchungstermin zu benachrichtigen – wozu er verpflichtet gewesen wäre (§ 176 ZPO – vgl. dazu Wita MDR 2000, 1363) – konnte sich die Antragstellerin nicht unmittelbar rechtlichen Rat einholen und hat offenbar der falschen Auskunft des Gutachters vertraut. Sein Hinweis, als Nichtjurist könne er keinen Verstoß gegen die „Gutachterordnung“ erkennen, kann sein Verhalten nicht rechtfertigen. Da ein gerichtlicher Gutachter besonderes Vertrauen der Verfahrensbeteiligten in Anspruch nimmt, muss er sich vor der Begutachtung mit den rechtlichen Rahmenbedingungen seines Handelns vertraut machen oder zumindest damit auseinander setzen. Dies ist hier offenbar nicht geschehen. Auch eine Rückfrage beim Landgericht hat der Sachverständige nicht für erforderlich gehalten.

Wenn der Sachverständige darüber hinaus einräumt, dass er sich anlässlich dieses Termins mit Dr. X fachlich über den Fall ausgetauscht hat, so musste das die Befürchtungen der Antragstellerin an der Voreingenommenheit des Gutachters verstärken. Dr. X war zwar an dem selbständigen Beweisverfahren nicht beteiligt, wohl aber in die Behandlung eingebunden, so dass er in einem etwaigen Arzthaftungsprozess als Zeuge oder Beklagter in Betracht kommt und seine Aussagen als Parteivortrag zu werten sind. Da das Gutachten des Sachverständigen SV1 als Beweismittel im Arzthaftungsprozess verwertbar ist (§ 493 Abs. 1 ZPO), musste er jeden Eindruck vermeiden, durch einseitige Aufklärung des Sachverhalts das Beweisergebnis vorzugeben. Das ist hier nicht geschehen.

Dem stehen auch die Erwägungen des Landgerichts nicht entgegen. Es macht aus Sicht eines verständigen Patienten durchaus einen großen Unterschied, ob sich der Gutachter lediglich die Behandlungsunterlagen des Arztes verschafft bzw. sich in schriftlicher Form über den Behandlungsverlauf informieren lässt und seine Quellen im Gutachten offenbart oder ob er sich mit dem Behandler in einem Fachgespräch, dessen Inhalt und Zielrichtung der Patient regelmäßig nur eingeschränkt nachvollziehen kann, über den Fall austauscht. Im ersten Fall ist die Informationsbeschaffung des Gutachters transparent und überprüfbar (vgl. zu dieser Problematik Martis-Winkhart a.a.O. Kapitel S 130 – 132 m. w. N.). Bei dem vom Sachverständigen Dr. SV1 praktizierten Verfahren muss der Patient dagegen befürchten, dass sich der Gutachter schon bei der Zusammenstellung seiner Anknüpfungstatsachen einseitig vom Vortrag des Behandlers leiten lässt.

Zuletzt verdichten sich die Befangenheitsgründe durch die oben zitierte Aussage des Sachverständigen in seiner ergänzenden Stellungnahme. Der Gutachter hat nicht erklärt, woher er seine Erkenntnis, die Antragstellerin habe ausdrücklich eine gaumenfreie Prothese gewünscht, zieht. Die Antragstellerin muss nach der Vorgeschichte befürchten, dass er seine Feststellung auf das Gespräch mit Dr. X gründet, denn dokumentiert ist dieser vermeintliche Patientenwunsch nicht.

Wenn sich ein Sachverständiger wichtige Anknüpfungspunkte einseitig besorgt und im Gutachten nicht offenlegt, woher er sie bezieht bzw. wenn der Sachverständige streitigen Vortrag zu Lasten einer Partei für erwiesen hält, dann kann u. U. schon das allein die Besorgnis seiner Befangenheit rechtfertigen (OLG Saarbrücken MDR 2008, 527, 529; OLG München VersR 2006, 1709; Martis-Winkhart a. a. O. Kap. S Rn 111). Hier führt die Gesamtschau der Vorgehensweise und der Aussagen des Sachverständigen zum Erfolg des Befangenheitsgesuchs.

Eine Kostenentscheidung ergeht nicht, weil die Kosten der erfolgreichen Beschwerde im Ablehnungsverfahren Kosten des Rechtsstreits sind, über die nach §§ 91 ff zu entscheiden sein wird.

Hinsichtlich des Beschwerdewerts folgt der Senat der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, wonach der Wert des Ablehnungsverfahrens demjenigen der Hauptsache entspricht (Beschluss vom 17.1.1968 – IV ZB 3/68 – NJW 1968, 796).

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