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Corona-Pandemie – Verbot der Ausübung der Prostitution angemessen?

OVG Lüneburg – Az.: 13 MN 298/21 – Beschluss vom 08.06.2021

§ 10c der Niedersächsischen Verordnung zur Eindämmung des Corona-Virus SARS-CoV-2 (Niedersächsische Corona-Verordnung) vom 30. Mai 2021 (Nds. GVBl. S. 297), zuletzt geändert durch Verordnung zur Änderung der Niedersächsischen Corona-Verordnung vom 4. Juni 2021 (eilverkündet unter www.niedersachsen.de/verkuendung), wird vorläufig außer Vollzug gesetzt.

Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Streitwert wird auf 5.000 EUR festgesetzt.

Gründe

I. Der sinngemäß gestellte Antrag (vgl. Schriftsatz des Antragstellers v. 2.6.2021, S. 2),

§ 10c der (9.) Niedersächsischen Verordnung zur Eindämmung des Corona-Virus SARS-CoV-2 (Niedersächsische Corona-Verordnung) vom 30. Mai 2021 (Nds. GVBl. S. 297), zuletzt geändert durch Verordnung zur Änderung der Niedersächsischen Corona-Verordnung vom 4. Juni 2021 (eilverkündet unter www.niedersachsen.de/verkuendung), im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO vorläufig außer Vollzug zu setzen,

hat Erfolg.

Der zulässige Antrag ist begründet (1.) und führt zur vorläufigen Außervollzugsetzung der Verordnungsbestimmung mit allgemeinverbindlicher Wirkung (2.).

Diese Entscheidung, die nicht den prozessrechtlichen Vorgaben des § 47 Abs. 5 VwGO unterliegt (vgl. Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 7. Aufl. 2017, Rn. 607; Hoppe, in: Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 47 Rn. 110 ff.), trifft der Senat ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss (vgl. Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 12.6.2009 – 1 MN 172/08 -, juris Rn. 4 m.w.N.) und gemäß § 76 Abs. 2 Satz 1 NJG ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richterinnen und Richter.

1. Nach § 47 Abs. 6 VwGO kann das Gericht in Normenkontrollverfahren auf Antrag eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist. Prüfungsmaßstab im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO sind zunächst die Erfolgsaussichten eines Normenkontrollantrages im Hauptsacheverfahren, soweit sich diese im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bereits absehen lassen. Ergibt diese Prüfung, dass der Normenkontrollantrag voraussichtlich unzulässig oder unbegründet sein wird, ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht im Sinne von § 47 Abs. 6 VwGO zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten. Erweist sich dagegen, dass der Antrag voraussichtlich Erfolg haben wird, so ist dies ein wesentliches Indiz dafür, dass der Vollzug bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache suspendiert werden muss. In diesem Fall kann eine einstweilige Anordnung ergehen, wenn der (weitere) Vollzug vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren Nachteile befürchten lässt, die unter Berücksichtigung der Belange des Antragstellers, betroffener Dritter und/oder der Allgemeinheit so gewichtig sind, dass eine vorläufige Regelung mit Blick auf die Wirksamkeit und Umsetzbarkeit einer für den Antragsteller günstigen Hauptsacheentscheidung unaufschiebbar ist. Lassen sich die Erfolgsaussichten des Normenkontrollverfahrens nicht abschätzen, ist über den Erlass einer beantragten einstweiligen Anordnung im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden. Gegenüberzustellen sind im Rahmen der sog. „Doppelhypothese“ die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, der Normenkontrollantrag aber Erfolg hätte, und die Nachteile, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Normenkontrollantrag aber erfolglos bliebe. Die für den Erlass der einstweiligen Anordnung sprechenden Gründe müssen die gegenläufigen Interessen deutlich überwiegen, mithin so schwer wiegen, dass der Erlass der einstweiligen Anordnung – trotz offener Erfolgsaussichten der Hauptsache – dringend geboten ist (vgl. BVerwG, Beschl. v. 30.4.2019 – BVerwG 4 VR 3.19 -, juris Rn. 4 (zur Normenkontrolle eines Bebauungsplans); OVG Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 22.10.2019 – 6 B 11533/19 -, juris Rn. 5 (zur Normenkontrolle einer Rechtsverordnung über die Freigabe eines verkaufsoffenen Sonntags); Sächsisches OVG, Beschl. v. 10.7.2019 – 4 B 170/19 -, juris Rn. 20 (zur Normenkontrolle einer Rechtsverordnung zur Bildung und Arbeit des Integrationsbeirats); Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 11.5.2018 – 12 MN 40/18 -, juris Rn. 24 ff. (zur Normenkontrolle gegen die Ausschlusswirkung im Flächennutzungsplan) jeweils m.w.N.).

Unter Anwendung dieser Grundsätze hat der Antrag auf vorläufige Außervollzugsetzung des § 10c der (9.) Niedersächsischen Corona-Verordnung, der lautet:

㤠10c

Prostitution

1Der Betrieb von Prostitutionsstätten nach § 2 Abs. 3 Nr. 1 des Prostituiertenschutzgesetzes (ProstSchG) und Prostitutionsfahrzeugen nach § 2 Abs. 3 Nr. 2 ProstSchG ist untersagt. 2Über Satz 1 hinaus sind die Durchführung und der Besuch von Prostitutionsveranstaltungen nach § 2 Abs. 3 Nr. 3 ProstSchG, die Erbringung und Inanspruchnahme sexueller Dienstleistungen im Sinne des § 2 Abs. 1 ProstSchG einschließlich der Durchführung der Prostitutionsvermittlung nach § 2 Abs. 3 Nr. 4 ProstSchG, die Durchführung erotischer Massagen in einer Prostitutionsstätte oder einem Prostitutionsfahrzeug im Sinne des Satzes 1 sowie die Straßenprostitution untersagt.“,

Erfolg. Der in der Hauptsache gestellte Normenkontrollantrag des Antragstellers wäre voraussichtlich begründet (a.). Zudem überwiegen die gewichtigen Belange des Antragstellers und betroffener Dritter die für den weiteren Vollzug der Verordnung bis zu einer Entscheidung in einem Hauptsacheverfahren sprechenden Gründe (b.).

a. Im Hauptsacheverfahren (13 KN 297/21) ist auf den Antrag des Antragstellers voraussichtlich § 10c der Niedersächsischen Corona-Verordnung gemäß § 47 Abs. 5 Satz 2 VwGO für unwirksam zu erklären. Diese Verordnungsregelung ordnet keine rechtmäßige notwendige Infektionsschutzmaßnahme an (aa.) und ist auch mit dem allgemeinen Gleichheitssatz nicht zu vereinbaren (bb.).

aa. Das umfassende Verbot der Ausübung der Prostitution und der Erbringung von Dienstleistungen im Zusammenhang mit der Prostitution, wie es in § 10c der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordnet wurde, ist gemessen an den sich aus §§ 28 Abs. 1, 28a Abs. 1, 3, 5 und 6, 32 IfSG ergebenden Voraussetzungen (vgl. hierzu im Einzelnen bspw.: Senatsbeschl. v. 14.4.2021 – 13 MN 161/21 -, juris Rn. 11 ff.; v. 30.11.2020 – 13 MN 519/20 -, juris Rn. 26 ff.) keine rechtmäßige Schutzmaßnahme.

Unter Berücksichtigung des aktuellen Infektionsgeschehens (vgl. hierzu die Angaben im täglichen Situationsbericht des Robert Koch-Instituts unter www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Gesamt.html und die Angaben des Antragsgegners unter www.niedersachsen.de/Coronavirus/aktuelle_lage_in_niedersachsen/niedersachsen-aktuelle-fallzahlen-niedersachsen-200093.html) und der Relevanz der Prostitutionsausübung für dieses Infektionsgeschehen (vgl. hierzu Senatsbeschl. v. 28.8.2020 – 13 MN 307/20 -, juris Rn. 21 ff.) ist das umfassende und ausnahmslose Verbot der Ausübung der Prostitution und der Erbringung von Dienstleistungen im Zusammenhang mit der Prostitution, wie es in § 10c der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordnet wurde, offensichtlich nicht mehr erforderlich, weil den zulässigen Regelungsadressaten mildere Beschränkungen auferlegt werden können, die gleichermaßen zur Förderung des legitimen öffentlichen Zwecks „Gesundheitsschutz“ (eines auch mit Blick auf Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG überragend wichtigen Gemeinwohlbelangs (vgl. BVerfG, Urt. v. 30.7.2008 – 1 BvR 3262/07 u.a. -, BVerfGE 121, 317, 350 – juris Rn. 119 m.w.N.)) geeignet wären (vgl. hierzu bereits im Einzelnen: Senatsbeschl. v. 28.8.2020 – 13 MN 307/20 -, juris Rn. 26 ff. (betreffend die vorläufige Außervollzugsetzung der Schließung von Prostitutionsstätten, Bordellen und ähnlichen Einrichtungen sowie der Untersagung der Straßenprostitution nach dem Ende der sog. 2. Coronawelle in Deutschland)).

Corona-Pandemie - Verbot der Ausübung der Prostitution angemessen?
(Symbolfoto: Von Victor Moussa/Shutterstock.com)

bb. Darüber hinaus verletzt das umfassende Verbot der Ausübung der Prostitution und der Erbringung von Dienstleistungen im Zusammenhang mit der Prostitution, wie es in § 10c der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordnet wurde, den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG (vgl. zu den insoweit bestehenden Anforderungen: Senatsbeschl. v. 20.5.2021 – 13 MN 263/21 -, juris Rn. 38 f. m.w.N.). Unter Berücksichtigung des infektionsschutzrechtlichen Gefahrengrades der verbotenen Tätigkeiten und auch aller sonstigen relevanten Belange bestehen insbesondere mit Blick auf die sonstigen körpernahen Dienstleistungen, wie sie in § 10b der Niedersächsischen Corona-Verordnung behandelt worden sind, keine für den Senat nachvollziehbaren sachlichen Gründe, die eine weitere Aufrechterhaltung des umfassenden und ausnahmslosen Verbots gerade und nur betreffend die Ausübung der Prostitution und der Erbringung von Dienstleistungen im Zusammenhang mit der Prostitution rechtfertigen könnten (vgl. dahingehend auch OVG Saarland, Beschl. v. 6.8.2020 – 2 B 258/20 -, juris Rn. 13 ff.).

b. Die konstatierten Freiheits- und Gleichheitsverstöße führen zu einer Verletzung des Antragstellers in seinen Grundrechten aus Art. 12 Abs. 1, 2 Abs. 1, 3 Abs. 1 GG und begründen mit Blick auf die Verletzung der Berufsfreiheit der Betreiberinnen und Betreiber von Prostitutionsstätten und Prostitutionsfahrzeugen, der Veranstalterinnen und Veranstalter von Prostitutionsveranstaltungen, der Erbringerinnen und Erbringer von sexuellen Dienstleistungen, von Leistungen der Prostitutionsvermittlung sowie von erotischen Massagen in einer Prostitutionsstätte oder einem Prostitutionsfahrzeug sowie den in der Straßenprostitution Tätigen aus Art. 12 Abs. 1 GG zugleich einen gewichtigen Nachteil, der eine vorläufige Außervollzugsetzung des § 10c der Niedersächsischen Corona-Verordnung in Gänze nach § 47 Abs. 6 VwGO gebietet.

Eine Unterminierung der fraglos komplexen Pandemiebekämpfungsstrategie des Antragsgegners steht demgegenüber nicht zu befürchten. Denn die vorläufige Außervollzugsetzung durch den vorliegenden Senatsbeschluss hat zwar zur Folge, dass das umfassende Verbot der Prostitutionsausübung nach § 10c der Niedersächsischen Corona-Verordnung als solches nicht mehr zu beachten ist. Bis zu einer etwaigen Neuregelung durch den Verordnungsgeber sind aber die allgemeinen Beschränkungen des § 10b der Niedersächsischen Corona-Verordnung zu beachten, die für die Erbringung aller körpernahen Dienstleistungen gelten (vgl. hierzu bereits den Senatsbeschl. v. 28.8.2020 – 13 MN 307/20 -, juris Rn. 35). Zudem ist das umfassende Verbot der Prostitutionsausübung nach § 10c der Niedersächsischen Corona-Verordnung keine zwischen allen Bundesländern abgestimmte Maßnahme eines bundesweiten Gesamtkonzepts.

2. Die vorläufige Außervollzugsetzung wirkt nicht nur zugunsten des Antragstellers in diesem Verfahren; sie ist allgemeinverbindlich (vgl. Senatsbeschl. v. 28.8.2020 – 13 MN 307/20 -, juris Rn. 36; Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 7. Aufl. 2017, Rn. 611). Der Antragsgegner hat die hierauf bezogene Entscheidungsformel in entsprechender Anwendung des § 47 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 VwGO unverzüglich im Niedersächsischen Gesetz- und Verordnungsblatt zu veröffentlichen.

II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

III. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG. Es entspricht der ständigen Praxis des Senats, in Normenkontrollverfahren in der Hauptsache nach § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO grundsätzlich den doppelten Auffangwert im Sinne des § 52 Abs. 2 GKG, mithin 10.000 EUR, als Streitwert anzusetzen (vgl. Senatsbeschl. v. 31.1.2019 – 13 KN 510/18 -, Nds. Rpfl. 2019, 130 f. – juris Rn. 29). Dieser Streitwert ist für das Verfahren auf sofortige Außervollzugsetzung der Verordnung nach § 47 Abs. 6 VwGO zu halbieren.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5 in Verbindung mit 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).

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