KG Berlin, Az.: 3 Ws (B) 531/15 – 162 Ss 110/15, Beschuss vom 30.11.2015
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten in Berlin vom 21. Juli 2015 im Rechtsfolgenausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird im Umfang der Aufhebung zu neuer Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde – an das Amtsgericht zurückverwiesen.
Gründe
![Rotlichtverstoß im Kreuzungsbereich – Mitzieheffekt](https://b359508.smushcdn.com/359508/wp-content/uploads/2019/08/shutterstock_1174863358-500x341.jpg?lossy=1&strip=1&webp=1)
Das Amtsgericht Tiergarten in Berlin hat den Betroffenen wegen Verstoßes gegen §§ 37 Abs. 2 Nr. 1 Satz 7, 49 Abs. 3 Nr. 2 StVO nach § 24 StVG zu einer Geldbuße von 150,00 Euro verurteilt, nach § 25 Abs. 1 StVG ein einmonatiges Fahrverbot verhängt und nach § 25 Abs. 2 a StVG eine Bestimmung über dessen Wirksamwerden getroffen. Dagegen richtet sich die auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Rechtsbeschwerde des Betroffenen. Sie hat (vorläufigen) Erfolg.
Ein Rechtsmittel kann grundsätzlich auf bestimmte Beschwerdepunkte beschränkt werden, wenn ein für eine selbständige Nachprüfung geeigneter Urteilsteil angegriffen wird, sofern er nicht durch eine untrennbare Wechselwirkung mit dem nicht angegriffenen Teil des Urteils verbunden ist (vgl. BGHSt 38, 362 ff.). Voraussetzung der Wirksamkeit der Rechtsmittelbeschränkung auf den Rechtsfolgenausspruch ist, dass dieser nach dem inneren Zusammenhang des Urteils in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht unabhängig von der Schuldfrage beurteilt werden kann. Diese Voraussetzungen liegen hier vor, weil die Urteilsfeststellungen zum Schuldspruch so vollständig sind, dass der Rechtsfolgenausspruch auf sie gegründet werden kann. Insbesondere lassen die Feststellungen zum Schuldspruch erkennen, dass dem Betroffenen ein grob pflichtwidriges Verhalten im Sinne von 132.3 BKat vorzuwerfen ist. Nach den Feststellungen überfuhr der Betroffene die Haltelinie bei schon 11,7 Sekunden andauerndem roten Wechsellicht mit einer Geschwindigkeit von 59 km/h. Die Urteilsgründe lassen ferner erkennen, dass ein „Augenblicksversagen“, welches einer Verhängung des Regelfahrverbots entgegenstehen könnte, angesichts des fast 15 Sekunden andauernden Zeitraums zwischen dem Abstrahlen des gelben Wechsellichts und dem Überfahren der Haltelinie durch den Betroffenen nicht vorliegt.
Auch soweit sich der Betroffene auf einem „Mitzieheffekt“ durch ein bei für Linksabbieger noch grünem Wechsellicht vor ihm in die Kreuzung einfahrenden Fahrzeugs beruft, weisen die Urteilsgründe aus, dass die Voraussetzungen, unter denen in derartigen Fällen nur von leichter Fahrlässigkeit, nicht jedoch von einer groben Nachlässigkeit, Rücksichts- oder Verantwortungslosigkeit auszugehen ist, nicht vorliegen. Allein der Umstand, dass ein in der Linksabbiegerspur schräg vor dem Betroffenen fahrendes Fahrzeug noch bei für diese Fahrspur grünem Signallicht in die Kreuzung eingefahren ist, rechtfertigt die Annahme nur leichter Fahrlässigkeit des Betroffenen angesichts der langen Zeitdauer des für seine Fahrtrichtung roten Wechsellichts nicht. Das Tatbild weicht von dem Durchschnitt der erfahrungsgemäß vorkommenden Fälle in objektiver oder subjektiver Hinsicht nicht so erheblich ab, dass ein „atypischer“ Rotlichtverstoß vorliegt, der es rechtfertigen würde, die vom Verordnungsgeber vorgesehene Regelsanktion als unangemessen erscheinen zu lassen. Diese will gerade die Fälle erfassen, in denen ein Kraftfahrer – häufig wie hier mit überhöhter Geschwindigkeit – das für ihn geltende Wechsellichtzeichen missachtet und die Haltelinie passiert, obwohl sich bei schon länger als eine Sekunde andauernder Rotlichtphase bereits Querverkehr in dem durch Rotlicht gesperrten Fahrbahnbereich befinden kann (so schon Senat, Beschluss vom 3. Juni 1997 – 3 Ws (B) 276/97 – in juris – und in ständiger Rechtsprechung). Ein Mitzieheffekt, der die Regelsanktion als unangemessen erscheinen lässt, kommt nach gefestigter obergerichtlicher Rechtsprechung nur in Fällen in Betracht, in denen ein Kraftfahrer bei für ihn rotem Wechsellicht zunächst ordnungsgemäß anhält, dann aber aufgrund einer momentanen Unachtsamkeit ohne Gefährdung anderer langsam in den geschützten Bereich einfährt (vgl. Senat a.a.O.; Beschluss vom 5. September 2001 – 3 Ws (B) 420/01 – in juris; König in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht 43. Aufl., § 37 StVO Rn. 55 m.N.).
Der Umstand, dass die Urteilsgründe nicht ausweisen, ob das Amtsgericht geprüft hat, ob im vorliegenden Fall eine auch nur abstrakte Gefährdung andere Verkehrsteilnehmer völlig ausgeschlossen war, gefährdet, jedenfalls auf die allein erhobene Sachrüge, den Bestand des Urteils nicht. Der Tatrichter ist nicht verpflichtet, bei Rotlichtverstößen in jedem Fall ein Ampelschaltplan zum Gegenstand der Hauptverhandlung zu machen. Ein solcher ist vielmehr nur dann beizuziehen, wenn ein Ausnahmefall nahe liegt oder es für die Überprüfung von den Betroffenen allein belastenden Zeugenaussagen, die auf der Wahrnehmung von grünem Wechsellicht für den Querverkehr beruhen, notwendig ist (vgl. OLG Hamm, NZV 2002, 577).
Nach den Urteilsfeststellungen liegt es hier jedoch fern, dass die Kreuzung zum Tatzeitpunkt für alle den Weg des Betroffenen kreuzenden anderen Verkehrsteilnehmer gesperrt war. Allein der Umstand, dass für in Fahrtrichtung des Betroffenen fahrende Linksabbieger noch grünes Signallicht aufgeleuchtet hat, legt diese Annahme nicht nahe. Nahe liegend ist in diesem Fall vielmehr, dass auch für andere Verkehrsteilnehmer, z.B. entgegenkommende Linksabbieger oder sonst die Fahrtrichtung des Betroffenen kreuzende Verkehrsteilnehmer, bereits grünes Wechsellicht abgestrahlt wurde. Denn anderenfalls wäre es unverständlich, warum die Fahrtrichtung des Betroffenen schon geraume Zeit durch rotes Wechsellicht gesperrt war, obwohl ein sie kreuzender Verkehr nicht stattfinden konnte.
Der Rechtsfolgenausspruch hat gleichwohl keinen Bestand. Der Tatrichter ist zwar seiner Verpflichtung zur Prüfung nachgekommen, ob ein Absehen von dem Regelfahrverbot bei gleichzeitiger Erhöhung der Geldbuße (§ 4 Abs. 4 BKatV) in Betracht kommt (vgl. BGHSt 38, 125 ff.). Diese Prüfung ist jedoch nicht rechtsfehlerfrei. Denn das Amtsgericht hat diesen Ausnahmefall mit dem Hinweis auf eine einschlägige Voreintragung verneint (UA S. 4). Dies steht im Widerspruch zu den allgemeinen Feststellungen zur Person des Betroffenen, wonach dieser verkehrsordnungsrechtlich nicht in Erscheinung getreten ist. Dieser Widerspruch zwingt wegen der Wechselwirkung zwischen Geldbuße und Fahrverbot zur Aufhebung des gesamten Rechtsfolgenausspruchs.