Skip to content

Verkehrsunfall bei halber Vorfahrt – angepasste Fahrweise

Unfallanalyse: Halbe Vorfahrt und angepasste Fahrweise im Fokus

Das vorliegende Gerichtsurteil befasst sich mit einem Verkehrsunfall, der sich an einer unregulierten Kreuzung ereignet hat. Besondere Beachtung findet dabei das Konzept der „halben Vorfahrt“. Hierbei geht es um die Rechtsfrage, wie sich ein Fahrzeugführer verhalten muss, wenn er sich einer Kreuzung nähert, an der die Vorfahrt nicht besonders geregelt ist. Konkret geht es um einen Fahrer, der sich einer solchen Kreuzung von links nähert. Da für ihn gegenüber dem von links Kommenden die Vorfahrt gilt, gegenüber dem von rechts aber Wartepflicht besteht, wird hier von „halber Vorfahrt“ gesprochen. Im Mittelpunkt des Falls steht, ob der Fahrer seine Geschwindigkeit in ausreichendem Maße angepasst hat.

Weiter zum vorliegenden Urteil Az.: I-7 U 19/19 >>>

Sichtbehinderung und Geschwindigkeitsanpassung

Der Kläger, der sich der Kreuzung näherte, argumentierte, dass ihm aufgrund von Bewuchs und einem rechts gelegenen Gebäude die Sicht auf die Fahrbahn nach rechts erst in einer Entfernung von etwa 15 Metern vor der Kreuzung möglich gewesen sei. Das Landgericht hat in seinem Urteil jedoch keine Berechnungen dazu angestellt, ob es dem Kläger möglich gewesen wäre, nach Erreichen dieses Punktes, bis zum Erreichen der Kreuzung wesentlich zu beschleunigen. Aus Sicht des Klägers hätte das Landgericht nicht ohne weitere Sachaufklärung durch Einholung eines Sachverständigengutachtens entscheiden dürfen.

Sachverständigenbeweis zum Unfallhergang

Das Berufungsgericht zog zur weiteren Klärung des Unfallhergangs einen Sachverständigen hinzu. Dieser erstellte ein unfallanalytisches Gutachten, in dem er unter anderem die Geschwindigkeit des Fahrzeugs des Beklagten zum Zeitpunkt des Zusammenstoßes mit dem SUV des Klägers ermittelte. Anhand einer von ihm durchgeführten Simulation sowie eines Weg-Zeit-Diagramms konnte er nachweisen, dass der Beklagte mit einer Geschwindigkeit von rund 50 km/h ungebremst mit dem klägerischen Fahrzeug kollidierte.

Interpretation des Vertrauensgrundsatzes

Im Zentrum des Urteils steht die Interpretation des Vertrauensgrundsatzes. Nach diesem Grundsatz darf ein Vorfahrtsberechtigter darauf vertrauen, dass ein für ihn nicht sichtbarer Verkehrsteilnehmer sein Vorfahrtsrecht beachten wird. In Fällen von „halber Vorfahrt“, so das Urteil, gilt das jedoch nur, wenn der Vorfahrtsberechtigte mit angepasster Geschwindigkeit fährt.

Das Urteil und seine Auswirkungen

Das Urteil unterstreicht die Notwendigkeit einer angepassten Fahrweise an unregulierten Kreuzungen und die Bedeutung des Vertrauensgrundsatzes im Straßenverkehr. Es zeigt auf, wie wichtig die Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls ist, insbesondere hinsichtlich möglicher Sichtbehinderungen und der Möglichkeit der Geschwindigkeitsanpassung. Zudem betont es die Rolle von Sachverständigengutachten bei der Aufklärung komplexer Verkehrsunfälle.


Das vorliegende Urteil

OLG Hamm – Az.: I-7 U 19/19 – Urteil vom 09.06.2020

Die Berufung der Beklagten gegen das am 27.03.2019 verkündete Urteil des Einzelrichters der 16. Zivilkammer des Landgerichts Münster (16 O 86/18) wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.

Dieses und das angefochtene Urteil sind vorläufig vollstreckbar.

Die Beklagten können die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des jeweiligen Urteils zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Gründe

I.

Verkehrsunfall bei halber Vorfahrt - angepasste Fahrweise
Unfall an unregulierter Kreuzung beleuchtet ‚halbe Vorfahrt‘, angepasste Geschwindigkeit und Vertrauensgrundsatz: Ein Fall von besonderer Relevanz im Straßenverkehr. (Symbolfoto: Dan Race /Shutterstock.com)

Die Parteien streiten um die Haftungsverteilung dem Grunde nach wegen eines Verkehrsunfalls, der sich am 00.00.2015 gegen 11.30 Uhr in N im außerhalb geschlossener Ortschaften gelegenen ungeregelten Kreuzungsbereich Mstraße/Istraße ereignete.

Bei den kreuzenden Straßen handelt es sich um mit Baum- und Buschbestand gesäumte Feldwege. Wegen der Unfallörtlichkeit wird auf die Lichtbilder Bl. 49 ff. d. A. sowie das Luftbild Anlage A 1 zum mündlichen Gutachten des Sachverständigen T vom 09.06.2020 Bezug genommen.

Der Kläger befuhr mit seinem SUV des Typs U ### 0 die Mstraße in südlicher Richtung. Der Beklagte zu 1) kam mit dem von der Beklagten zu 2) gehaltenen, bei der Beklagten zu 3) haftpflichtversicherten Q # aus Sicht des Klägers von links aus der Straße Istraße und kollidierte mit dem Klägerfahrzeug. Durch die Wucht des Aufpralls wurde das Klägerfahrzeug umgeworfen, der Kläger erlitt u.a. Becken- und Rippenbrüche sowie einen Milzriss.

Das Beklagtenfahrzeug wurde durch den Aufprall um 90 Grad nach links herumgerissen.

Für den Beklagten zu 1) galt an der Unfallstelle eine Geschwindigkeitsbegrenzung von 70 km/h, für den Kläger die allgemeine zulässige Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h.

Der Kläger wies nach dem Unfall eine Alkoholisierung von 0,59 Promille auf.

Die Beklagte zu 3) hat mit Schreiben vom 06.07.2018 mit der Wirkung eines feststellenden Urteils gegenüber dem Kläger eine Haftung für die Unfallschäden zu 75% anerkannt, soweit kein Übergang auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte stattgefunden hat. Daran lassen sich die Beklagten im vorliegenden Prozess festhalten.

Streitig ist lediglich, ob dem Kläger eine Mithaftung i.H.v. 25 % anzulasten ist.

Mit der vorliegenden Klage begehrt der Kläger die Feststellung der Ersatzpflicht der Beklagten hinsichtlich aller materiellen und immateriellen Schäden aus dem streitgegenständlichen Verkehrsunfall in voller Höhe.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes einschließlich der erstinstanzlich gestellten Anträge der Parteien wird gemäß § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils (Bl. 67 ff. d. A.) Bezug genommen.

Das Landgericht hat den Kläger sowie den Beklagten zu 1) persönlich angehört und, nachdem der Einzelrichter die Unfallörtlichkeit im Rahmen einer privaten Fahrradtour in Augenschein genommen und auch der Beklagtenvertreter die Unfallstelle besichtigt hatte, der Klage vollumfänglich stattgegeben.

Zur Begründung hat es ausgeführt, das gem. § 256 Abs. 1 ZPO erforderliche Feststellungsinteresse sei wegen der Möglichkeit zukünftiger Schäden und des ernsthaften Bestreitens einer Haftung, die über die bereits anerkannten 75% hinausgehe, gegeben.

Die sich aus §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG sowie aus § 115 Abs. 1 VVG ergebende Haftung der Beklagten sei nicht wegen eines Mitverursachungsbeitrages des Klägers um 25% zu kürzen.

Ein schuldhafter Verursachungsbeitrag des Klägers lasse sich nicht erkennen.

Er habe nicht die Pflicht gehabt, seine Geschwindigkeit erheblich zu verringern, als er in den Kreuzungsbereich hineingefahren sei. Dies gelte auch unter Berücksichtigung des von ihm zu beachtenden Vorrangs von rechts kommender Fahrzeuge, sog. „halbe Vorfahrt“.

Der Vorfahrtsberechtigte müsse sich auch in eine nach rechts unübersichtliche Kreuzung nur dann langsam hineintasten, wenn er die kreuzende Straße nach rechts nicht weit genug einsehen könne.

Aufgrund der erlangten Kenntnis des Gerichts von der Unfallstelle stehe jedoch fest, dass der Kläger ausreichende Sicht auf den von rechts kommenden Verkehr gehabt habe. Sich der Kreuzung nähernde Fahrzeuge seien bereits aus einer Entfernung von 50 Metern vor der Kreuzung durch die Sträucher unproblematisch zu erkennen. Ab einer Entfernung von 10 bis 15 Metern zum Kreuzungsbereich sei die Sicht im Übrigen völlig uneingeschränkt.

Aufgrund dessen habe der Kläger jedenfalls auf diesem letzten Stück vor der Kreuzung wieder stark beschleunigen können, selbst wenn er seine Geschwindigkeit zuvor wegen der Sichtverhältnisse hätte herabsetzen müssen. Der Beklagte zu 1) habe sich daher nicht darauf verlassen können, dass aus seiner Sicht von rechts nur ein langsam fahrendes Fahrzeug die Kreuzung passieren könnte.

Anhaltspunkte für eine Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit seitens des Klägers ergäben sich nicht. Der Umstand, dass das Beklagtenfahrzeug das klägerische Fahrzeug mittig getroffen habe, sowie die Tatsache, dass der Beklagte bereits im Ermittlungsverfahren eingeräumt habe, viel zu schnell gefahren zu sein, spreche dagegen. Aus diesem Grund sei auch die Einholung eines verkehrsunfallanalytischen Sachverständigengutachtens nicht erforderlich.

Sie benötigen eine rechtliche Beratung? Rufen Sie uns an: 02732 791079 und vereinbaren einen Beratungstermin oder fordern Sie unverbindlich unsere Ersteinschätzung online an.

Letztlich lasse sich auch nicht feststellen, dass eine alkoholbedingt verspätete Reaktion des Klägers unfallursächlich geworden sei, da auch der Beklagte zu 1) nicht gebremst habe, was sich aus dem Fehlen ihm zuzuordnender Bremsspuren ergebe.

Wegen der weiteren Einzelheiten der erstinstanzlichen Urteilsgründe wird auf das angefochtene Urteil Bezug genommen.

Gegen das Urteil wenden sich die Beklagten mit ihrer Berufung und verfolgen ihren erstinstanzlich gestellten Klageabweisungsantrag weiter.

Sie meinen, der Kläger sei mit 25 % an der Haftung zu beteiligen, da er unter Berücksichtigung der für ihn eingeschränkten Sicht nach rechts deutlich zu schnell gewesen sei, um das Vorrecht etwaigen von rechts kommenden Verkehrs beachten zu können.

Die Beklagten rügen, das Landgericht habe den Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt. Es sei ihrem Beweisangebot auf Einholung eines Sachverständigengutachtens nicht nachgegangen und habe ohne erkennbare eigene Sachkunde einen Verstoß des Klägers gegen die „halbe Vorfahrt“ ausgeschlossen.

In der Annäherungsphase des Klägers an die Kreuzung lasse sich entgegen der Auffassung des Landgerichts aufgrund des bestehenden Bewuchses sowie eines weiter rechts gelegenen Gebäudes nicht zuverlässig beurteilen, ob die Fahrbahn nach rechts bei Erreichen der Kreuzung frei sei. Dies sei erst in einer Entfernung von etwa 15 m vor der Kreuzung möglich.

Unter Berücksichtigung des notwendigen Bremsweges habe sich der Kläger der Kreuzung mit einer Geschwindigkeit von höchstens 25 km/h nähern dürfen, um rechtzeitig anhalten zu können.

Diese Geschwindigkeit müsse der Kläger deutlich überschritten haben, was sich auch aus dem Umstand, dass das Beklagtenfahrzeug durch den Aufprall um 90 Grad nach links herumgerissen worden und erst weit jenseits der Kreuzung auf der Mstraße in Fahrtrichtung des Klägers zum Stehen gekommen sei, ergebe.

Auch habe das Landgericht keine Berechnungen dazu angestellt, ob es dem Kläger überhaupt möglich gewesen sei, nach Erreichen des Punktes, an dem er zuverlässig beurteilen konnte, ob sich Verkehr von rechts näherte, bis zum Erreichen der Kreuzung wesentlich zu beschleunigen.

Aufgrund dieser Erwägungen habe das Landgericht nicht ohne weitere Sachaufklärung durch Einholung eines Sachverständigengutachtens über die Klage entscheiden dürfen.

Die Beklagten beantragen, das Urteil des Landgerichts Münster abzuändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Er verteidigt das erstinstanzliche Urteil.

Ein Mitverursachungsbeitrag, der zu einer Verkürzung der Haftung der Beklagten führen würde, sei, wie das Landgericht zutreffend feststelle, nicht gegeben. Vielmehr stehe fest, dass der Beklagte zu 1) grob fahrlässig die Vorfahrtsregelung missachtet habe. Ferner habe er gegenüber der Polizei eingeräumt, dass er mit überhöhter Geschwindigkeit in den Kreuzungsbereich eingefahren sei.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.

Der Senat hat den Kläger und den Beklagten zu 1) persönlich gem. § 141 ZPO angehört und ergänzend Beweis erhoben durch Einholung eines mündlichen unfallanalytischen Gutachtens des T.

Wegen des Ergebnisses der Anhörung und der Beweisaufnahme wird auf den Berichterstattervermerk vom 09.06.2020 Bezug genommen.

Die Akte der Staatsanwaltschaft Münster 62 Js 3732/15 war beigezogen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

II.

Die zulässige Berufung ist unbegründet und war daher zurückzuweisen.

1.

Das Landgericht ist im Ergebnis zutreffend davon ausgegangen, dass die Beklagten dem Kläger aufgrund des Verkehrsunfallereignisses vom 03.04.2015 gemäß §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1, 17 Abs. 1 und 2 StVG, bezüglich der Beklagten zu 2) i. V. m. § 115 Abs. 1 Nr. 1 VVG, vollen Ausgleich seiner unfallbedingten Schäden schulden.

a)

Der streitgegenständliche Verkehrsunfall, bei dem unstreitig das im Eigentum des Klägers stehende Fahrzeug beschädigt wurde, hat sich zweifellos beim Betrieb der beteiligten Kraftfahrzeuge ereignet, § 7 Abs. 1 StVG, und beruhte nicht auf höherer Gewalt i. S.d. § 7 Abs. 2 StVG.

b)

Die Beklagten räumen einen Vorfahrtsverstoß durch den Beklagten zu 1) ein und machen so bereits nicht geltend, dass der Unfall für den Beklagten zu 1) unabwendbar i. S. von § 17 Abs. 3 StVG gewesen bzw. von diesem nicht i.S.d. § 18 Abs. 1 Satz 2 StVG verschuldet sei, sondern akzeptieren eine Haftungsquote von 75%.

Ob sich der Unfall für den Kläger als unabwendbar i.S. d. § 17 Abs. 3 StVG dargestellt hat, kann dahinstehen, da jedenfalls die erforderliche Abwägung der wechselseitigen Verursachungsbeiträge gem. § 17 Abs. 1 und 2 StVG zu einer Alleinhaftung der Beklagten führt.

Die Abwägung gem. § 17 Abs. 1 und 2 StVG ist aufgrund aller feststehenden, d.h. unstreitigen, zugestandenen oder bewiesenen Umstände vorzunehmen, die sich auf den Unfall ausgewirkt haben. In erster Linie ist hierbei das Maß der Verursachung von Belang, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben. Ein Faktor bei der Abwägung ist dabei das beiderseitige Verschulden (so der BGH in std. Rspr., vgl. z.B. BGH, Urteil vom 15.05.2018, VI ZR 231/17, r+s 2018, 447, Rn. 10 m.w.N.).

aa)

In Bezug auf den Beklagten zu 1) ist – von den Beklagten insoweit auch nicht angegriffen – in die Abwägung ein Verstoß gegen § 8 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. Abs. 2 Satz 3 StVO einzustellen. Danach hat an Kreuzungen die Vorfahrt, wer von rechts kommt, wenn die Vorfahrt nicht durch Verkehrszeichen besonders geregelt ist.

Der Beklagte zu 1), für den der Kreuzungsbereich unstreitig schwer einsehbar war, durfte sich gem. § 8 Abs. 2 Satz 3 StVO lediglich vorsichtig in die Kreuzung hineintasten, bis die Übersicht gegeben war. Dies bedeutet, dass er so langsam fahren musste, dass er beim Ansichtigwerden eines vorfahrtsberechtigten Verkehrsteilnehmers auf der Stelle anhalten konnte (BGH, Urt. v. 21.05.1985, VI ZR 201/83 – juris; KG Berlin, Urt. v. 28.01.2010, 12 U 40/09 – juris Rn. 10; König, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 45. Aufl. 2019, § 8 StVO Rn. 58).

Aufgrund der in sich schlüssigen Ausführungen des vom Senat ergänzend zur Erstattung eines mündlichen unfallanalytischen Gutachtens herangezogenen Sachverständigen T, der dem Senat als besonders kompetent und langjährig erfahren bekannt ist, steht zur Überzeugung des Senats fest, dass der von dem Beklagten zu 1) geführte Q mit einer Geschwindigkeit von rund 50 km/h ungebremst mit dem klägerischen SUV kollidierte.

Dies hat der Sachverständige überzeugend mit einer von ihm durchgeführten Simulation anhand von Vergleichsfahrzeugen begründet, deren Ergebnisse er in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat ausführlich und nachvollziehbar anhand der Anlagen A 16 – A 19 zum mündlichen Gutachten sowie des von ihm erstellten Weg-Zeit-Diagramms (Anlage A 22 zum mündlichen Gutachten) erläutert hat.

Ferner kommt der Sachverständige unter Berücksichtigung der von ihm festgestellten Sichtverhältnisse an der Unfallstelle zu dem Ergebnis, dass der Beklagte zu 1) lediglich mit einer Geschwindigkeit von 15 km/h hätte fahren dürfen, um rechtzeitig vor dem von rechts kommenden Klägerfahrzeug anhalten zu können, wie sich aus der Anlage A 26 zum mündlichen Gutachten ergibt. Mithin hat der Beklagte zu 1) nach dem Maßstab des § 286 ZPO zur vollen Überzeugung des Senats gegen die Sorgfaltsanforderungen des § 8 Abs. 2 Satz 3 StVO verstoßen.

bb)

Demgegenüber konnte ein Verstoß des Klägers gegen die Grundsätze der sogenannten „halben Vorfahrt“ gem. § 8 Abs. 1 i. V. m. Abs. 2 Satz 3 StVO auch nach der ergänzenden Beweisaufnahme durch den Senat nicht festgestellt werden.

Ist die Vorfahrt an einer Kreuzung nicht besonders geregelt, so stellt sich für jeden Verkehrsteilnehmer, der sich dieser Kreuzung nähert, die Verkehrslage so dar, dass er zwar gegenüber dem von links Kommenden vorfahrtsberechtigt, gegenüber Verkehrsteilnehmern von rechts aber wartepflichtig ist. Diese sog. „halbe Vorfahrt“ verpflichtet den Vorfahrtsberechtigten zu angepasster Fahrweise, die ihm die Beachtung der eigenen Wartepflicht in Bezug auf vorfahrtsberechtigten Verkehr von rechts ermöglicht. Um dessen Vorfahrt beachten zu können, muss er, wie § 8 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. Satz 3 StVO vorschreibt, mit mäßiger Geschwindigkeit an die Kreuzung heranfahren und sich darauf einstellen, dass er notfalls rechtzeitig anhalten kann, um die ihm gegenüber Vorfahrtsberechtigten durchfahren zu lassen. Dies gilt besonders im Fall einer unübersichtlichen Kreuzung (BGH, Urt. v. 21.06.1977, VI ZR 97/76, VersR 1977, 917; KG Berlin, Beschl. v. 23.07.2009, 12 U 212/08, NZV 2010, 255; OLG Hamm, Urt. v. 06.05.2002, 13 U 221/01 – juris Rn. 5; König, in: Hentschel/König/Dauer, aaO, § 8 StVO Rn. 38).

Auf diese Beachtung durfte wiederum auch der Beklagte zu 1) dergestalt vertrauen, dass er bei Unübersichtlichkeit der Kreuzung aus Sicht des Klägers mit angepasster Geschwindigkeit des Klägers rechnen durfte, denn diese Regelung dient auch dem Schutz des von links kommenden Wartepflichtigen (BGH, Urt. v. 21.06.1977 aaO Rn. 12; OLG Hamm, Urt. v. 06.05.2002 aaO; KG Berlin, Beschl. v. 23.07.2009 aaO).

Allerdings kann sich ein Vorfahrtsberechtigter nach dem Vertrauensgrundsatz darauf verlassen, dass ein für ihn nicht sichtbarer Verkehrsteilnehmer sein Vorfahrtsrecht beachten werde, wenn er selbst bei nur „halber Vorfahrt“ mit angepasster Geschwindigkeit fährt (BGH, Urt. v. 21.05.1985, VI ZR 201/83, NJW 1985, 2757; König/Hentschel/Dauer, aaO, § 8 StVO Rn. 50). Dies war bei dem Kläger der Fall.

Der Sachverständige T hat die Feststellung des Landgerichts, der Kläger habe sich der Kreuzung mit einer seinen Sichtverhältnissen nach rechts angepassten Geschwindigkeit genähert, im Ergebnis bestätigt.

Er hat – wiederum unter Bezugnahme auf die von ihm durchgeführten Simulation mit Vergleichsfahrzeugen – erläutert, dass der klägerische U eine Kollisionsgeschwindigkeit von ungebremst rund 40 km/h aufgewiesen habe (vgl. Anlage A 21 und 22 zum mündlichen Gutachten). Aus der Anlage A 26 zum mündlichen Gutachten ergibt sich, dass dem Kläger entsprechend seiner Sicht nach rechts ein Anhalteweg von 22 m zur Verfügung stand. Dieser war selbst bei einer Geschwindigkeit von 40 km/h unter Berücksichtigung einer Reaktionszeit von 1 Sekunde sowie einer starken Angleichungsbremsung von 5,5 m/s2 nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen ausreichend, um rechtzeitig vor einem sich hypothetisch von rechts auf der Straße Istraße nähernden Fahrzeug zum Stehen zu kommen.

Dabei hat der Sachverständige eine angepasste Geschwindigkeit des sich von rechts nähernden Fahrzeugs von 30 km/h zugrunde gelegt, die er wiederum unter Berücksichtigung der sich für dieses Fahrzeug bietenden Sichtverhältnisse berechnet hat (vgl. Anlage A 26 zum mündlichen Gutachten). Es ist auch lediglich auf diese angepasste Geschwindigkeit abzustellen, da sich der Kläger nach dem Vertrauensgrundsatz nicht auf eine höhere Geschwindigkeit des ihm gegenüber Vorfahrtsberechtigten einstellen musste.

Schließlich lässt auch der Umstand, dass die Sicht des Beklagten zu 1) nach rechts für den Kläger erkennbar aufgrund der dort befindlichen Hecke eingeschränkt war, den Vertrauensgrundsatz zugunsten des Klägers nicht entfallen. Zwar kann der Vorfahrtsberechtigte auf die Beachtung seiner Vorfahrt dann nicht mehr vertrauen, wenn die besondere örtliche Verkehrslage ihm konkreten Anlass gibt, hieran zu zweifeln. Der Umstand, dass für den Wartepflichtigen die kreuzende Straße nach rechts schwer einzusehen ist, reicht aber allein nicht aus, um das Vertrauen des Vorfahrtsberechtigten auf die Beachtung seiner Vorfahrt zu erschüttern (BGH, Urt. v. 21.05.1985, VI ZR 201/83, NJW 1985, 2757). Vielmehr darf er damit rechnen, dass auch nicht sichtbare Wartepflichtige seine Vorfahrt beachten, und muss seine Geschwindigkeit nicht weiter reduzieren (BGH, Urt. v. 11.01.1977, VI ZR 268/74 – juris Rn. 16).

cc)

Es kommt auch kein Verstoß des Klägers gegen die allgemeine Sorgfaltspflicht des § 1 Abs. 2 StVO in Betracht.

Insbesondere bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass er seine Geschwindigkeit aufgrund der besonderen Verkehrssituation weiter hätte herabsetzen müssen, um angemessen reagieren zu können.

dd)

Auch die zum Unfallzeitpunkt unstreitig bestehende Alkoholisierung des Klägers ist nicht geeignet, die Betriebsgefahr des klägerischen Fahrzeugs zu erhöhen.

Bei der Abwägung der Verursachungsbeiträge nach § 17 Abs. 1 und 2 StVG hat eine Alkoholisierung eines Unfallbeteiligten außer Betracht zu bleiben, wenn nicht feststeht, dass sie sich unfallursächlich ausgewirkt hat (BGH, Urt. v. 10.01.1995, VI ZR 247/94 – juris; OLG Hamm, Urt. v. 22.11.1993, 6 U 154/93, NZV 1994, 319).

Insoweit ist bereits fraglich, ob die festgestellte relativ geringfügige Alkoholisierung von 0,59 Promille geeignet ist, eine die Fahrtüchtigkeit beeinträchtigende Enthemmung des Klägers zu begründen und ob hinsichtlich der Unfallursächlichkeit insoweit ein Anscheinsbeweis eingreift (vgl. OLG Hamm, Urt. v. 12.05.2000, 9 U 224/99 – juris Rn. 14). Ein solcher wäre jedenfalls erschüttert.

Auf der Grundlage der Feststellungen des Sachverständigen ist gerade nicht von einer alkoholbedingten Fehlreaktion des Klägers auszugehen, da er die ihn treffenden Sorgfaltsanforderungen – wie dargetan – erfüllt hat.

ee)

Die gem. § 17 Abs. 1 und 2 StVG vorzunehmende Abwägung der Verursachungsbeiträge hat das Landgericht zu Recht dahingehend vorgenommen, dass die Beklagten für die Unfallschäden zu 100% allein haften.

Zu Lasten der Beklagtenseite ist im Rahmen der Abwägung ein Verstoß des Beklagten zu 1) gegen § 8 Abs. 1 Satz 1 StVO zu berücksichtigen, während ein unfallursächlicher Verkehrsverstoß des Klägers nicht vorliegt. Infolgedessen ist auf Klägerseite lediglich die einfache Betriebsgefahr des Klägerfahrzeugs in die Abwägung einzustellen. Diese tritt angesichts des groben Vorfahrtsverstoßes des Beklagten zu 1), der mit einer Geschwindigkeit von 50 km/h in eine unübersichtliche, ihm bekannte Kreuzung von links eingefahren ist, vollständig zurück.

2.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit auf §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Der Senat hat die Revision nicht zugelassen, da die diesbezüglichen Voraussetzungen des § 543 Abs. 2 ZPO nicht gegeben sind.


Die folgenden rechtlichen Bereiche sind u.a. in diesem Urteil relevant

  1. Verkehrsrecht: Das Verkehrsrecht ist das Hauptrechtsgebiet, das hier betroffen ist. Es regelt den Verkehr im Allgemeinen, einschließlich der Verhaltensregeln der Teilnehmer und deren Verantwortung bei Verstößen oder Unfällen. Insbesondere ist das Verkehrsrecht wichtig, um zu klären, wer bei einem Unfall die Schuld trägt und wer für entstandene Schäden aufkommen muss. In dem vorliegenden Fall geht es genau darum.
  2. § 17 Abs. 1 und 2 Straßenverkehrsgesetz (StVG): Die Vorschrift des § 17 StVG betrifft die sogenannte „Betriebsgefahr“, also das allgemeine Risiko, das von der Nutzung eines Fahrzeugs im Straßenverkehr ausgeht. Absatz 1 und 2 dieses Paragraphen regeln die Haftungsverteilung im Falle eines Unfalls. Wenn beide Fahrer eine Schuld am Unfall tragen, muss gemäß dieser Vorschrift die Schadensteilung vorgenommen werden. In dem vorliegenden Fall geht es darum, dass die Beklagten der Meinung sind, dass der Kläger mit 25 % an der Haftung zu beteiligen ist, weil er ihrer Ansicht nach zu schnell fuhr.
  3. Beweisrecht: Das Beweisrecht ist ein weiteres wichtiges Rechtsgebiet, das in diesem Fall eine Rolle spielt. Hier geht es vor allem um die Frage, welche Partei bestimmte Tatsachen beweisen muss und wie dieser Beweis erbracht werden kann. Die Beklagten haben offenbar ein Sachverständigengutachten vorgeschlagen, um bestimmte Fragen zu klären. Das Gericht hat jedoch entschieden, dass es dieses Gutachten nicht benötigt. Dies wirft Fragen des Beweisrechts auf.
  4. § 8 Straßenverkehrsordnung (StVO): Dieser Paragraph regelt die Vorfahrtsregeln im Straßenverkehr. Er besagt grundsätzlich, dass derjenige, der von rechts kommt, Vorfahrt hat, sofern nicht durch Verkehrszeichen etwas anderes angeordnet ist. Diese Regel wird im vorliegenden Fall diskutiert, da der Kläger darauf bestanden hat, dass er die Vorfahrt hatte, während die Beklagten behaupten, dass er aufgrund seiner hohen Geschwindigkeit die Vorfahrt von rechts nicht beachten konnte.
  5. Zivilprozessrecht (§ 540 ZPO): Das Zivilprozessrecht ist das rechtliche Rahmenwerk, das den Verlauf eines Zivilprozesses, wie den in diesem Fall, regelt. § 540 der Zivilprozessordnung (ZPO) regelt das Urteil und die Urteilsbegründung im Berufungsverfahren. Das Gericht bezieht sich in dem vorliegenden Fall auf diesen Paragraphen, um die weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes darzulegen.

 

Hinweis: Informationen in unserem Internetangebot dienen lediglich Informationszwecken. Sie stellen keine Rechtsberatung dar und können eine individuelle rechtliche Beratung auch nicht ersetzen, welche die Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalles berücksichtigt. Ebenso kann sich die aktuelle Rechtslage durch aktuelle Urteile und Gesetze zwischenzeitlich geändert haben. Benötigen Sie eine rechtssichere Auskunft oder eine persönliche Rechtsberatung, kontaktieren Sie uns bitte.

Soforthilfe vom Anwalt!

Jetzt Hilfe vom Anwalt!

Rufen Sie uns an um einen Beratungstermin zu vereinbaren oder nutzen Sie unser Kontaktformular für eine unverbindliche Beratungsanfrage bzw. Ersteinschätzung.

Ratgeber und hilfreiche Tipps unserer Experten.

Lesen Sie weitere interessante Urteile.

Unsere Kontaktinformationen.

Rechtsanwälte Kotz GbR

Siegener Str. 104 – 106
D-57223 Kreuztal – Buschhütten
(Kreis Siegen – Wittgenstein)

Hier finden Sie uns!

Telefon: 02732 791079
(Tel. Auskünfte sind unverbindlich!)
Telefax: 02732 791078

E-Mail Anfragen:
info@ra-kotz.de
ra-kotz@web.de

zum Kontaktformular

Ersteinschätzungen nur auf schriftliche Anfrage per Anfrageformular.

Rechtsanwalt Hans Jürgen Kotz
Fachanwalt für Arbeitsrecht

Rechtsanwalt und Notar Dr. Christian Kotz
Fachanwalt für Verkehrsrecht
Fachanwalt für Versicherungsrecht
Notar mit Amtssitz in Kreuztal

Über uns

Bürozeiten:
MO-FR: 8:00-18:00 Uhr
SA & außerhalb der Bürozeiten:
nach Vereinbarung

Für Besprechungen bitten wir Sie um eine Terminvereinbarung!

Das sagen Kunden über uns
Unsere Social Media Kanäle

 

Termin vereinbaren

02732 791079

Bürozeiten:
Mo-Fr: 08:00 – 18:00 Uhr

Kundenbewertungen & Erfahrungen zu Rechtsanwälte Kotz. Mehr Infos anzeigen.

Ersteinschätzung

Wir analysieren für Sie Ihre aktuelle rechtliche Situation und individuellen Bedürfnisse. Dabei zeigen wir Ihnen auf, wie in Ihren Fall sinnvoll, effizient und möglichst kostengünstig vorzugehen ist.

Fragen Sie jetzt unverbindlich nach unsere Ersteinschätzung und erhalten Sie vorab eine Abschätzung der voraussichtlichen Kosten einer ausführlichen Beratung oder rechtssichere Auskunft.

Aktuelles Jobangebot

Juristische Mitarbeiter (M/W/D)
als Minijob, Midi-Job oder in Vollzeit.

mehr Infos