OLG Frankfurt – Az.: 16 U 63/14 – Urteil vom 09.09.2014
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil der 28. Zivilkammer des Landgerichts Frankfurt am Main vom 25. März 2014, Az. 2 – 28 O 116/13, wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten der Berufung.
Dieses Urteil und das Urteil des Landgerichts sind vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
Die Klägerin begehrt von den Beklagten als Gesamtschuldner Ersatz des ihr bei einem Verkehrsunfall vom … 2013 entstandenen Schadens. Dabei befuhr die Zeugin A mit dem von der Klägerin gehaltenen Fahrzeug die Straße B in O1 und wollte vor der dort auf dem rechten Fahrstreifen befindlichen Bushaltestelle am rechten Fahrbahnrand parken. An der Haltestelle stand der von dem Beklagten zu 1 gefahrene und bei der Beklagten zu 2 versicherte Omnibus, um Passagiere ein- und aussteigen zu lassen. Die Zeugin fuhr an dem stehenden Bus vorbei; als sie in Richtung des rechten Fahrbahnrands einscherte, fuhr der Bus an und kollidierte mit der rechten Seite des Fahrzeugs der Klägerin. Die Parteien haben über Einzelheiten des Unfallhergangs gestritten.
Auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils (Bl. 105 f. d.A.) wird Bezug genommen.
Das Landgericht nach Anhörung des Beklagten zu 1 und Vernehmung der Zeugin A der Klage in Höhe von 60 % des Schadens stattgegeben. Der Beklagte zu 1 sei ein kleines Stück nach vorne angefahren, ohne sich vergewissert zu haben, dass eine Gefährdung anderer Teilnehmer ausgeschlossen sei; dadurch habe er gegen § 10 StVO verstoßen. Die Fahrerin des klägerischen Fahrzeugs sei mit einem Abstand von nur ca. 50 cm vor dem Bus eingeschert, um auf einer Feuerwehreinfahrt zu parken. Sie habe durch den geplanten Überhol- und Einparkvorgang entgegen § 20 Abs. 5 StVO das Abfahren des Busses von der Haltestelle unmöglich gemacht und bei dem Einscheren vor dem Bus unter Verletzung von § 7 Abs. 5 StVO eine Gefährdungssituation im Zusammenhang mit dem Fahrstreifenwechsel geschaffen. Dies führe zu einer Mithaftung der Klägerin in Höhe von 40 %.
Wegen der Einzelheiten wird auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils (Bl. 107 bis 110 d.A.) verwiesen.
Gegen dieses ihr am 3. April 2014 zugestellte Urteil hat die Klägerin mit einem am 17. April 2014 eingegangenen Schriftsatz Berufung eingelegt, die sie mit einem am 29. April 2014 eingegangenen Schriftsatz begründet hat.
Die Klägerin vertritt die Auffassung, der Unfall stelle für sie ein unabwendbares Ereignis dar.
Das Landgericht gehe zu Unrecht von einem zu geringen Seitenabstand aus. Ein halber Meter Abstand zum Einscheren vor einem Hindernis sei mehr als ausreichend, um mit einem Kleinwagen gefahrlos einparken zu können.
Die Zeugin habe auch keinen Fahrspurwechsel vorgenommen, sondern sei von dem fließenden in den ruhenden Verkehr gewechselt. Hierbei sei sie an dem haltenden Bus vorbeigerollt und in die Parklücke eingeschert. Zu dem Unfall wäre es nicht gekommen, wenn der Bus nicht unversehens angefahren wäre.
Die Zeugin habe den Bus auch nicht überholt, da er nicht gefahren sei, sondern gestanden habe. Es liege allenfalls ein Vorbeifahren nach § 6 StVO vor. Insoweit habe sie nicht gegen Verkehrsregeln verstoßen, auch nicht gegen § 20 Abs. 5 StVO.
Der Beklagte zu 1 habe seine Absicht des Anfahrens auch nicht angekündigt.
Die Betriebsgefahr des Busses sei so hoch, dass ein etwaiges Mitverschulden der Klägerin zurückstehe.
Die Klägerin beantragt, das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 25. März 2014, Az. 2 – 28 O 116/13, abzuändern und die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an sie weitere 2.113,85 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 16. Februar 2013 sowie weitere 187,19 € vorgerichtliche Anwaltskosten zu zahlen.
Die Beklagten beantragen, die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigen das angefochtene Urteil.
Der Beklagte zu 1 sei zwar ohne zu blinken einen halben Meter nach vorne gefahren. Damit sei aber keine Gefährdung des fließenden Verkehrs verbunden gewesen, da der Beklagte zu 1 nicht nach links ausgeschert sei. Der Beklagte zu 1 habe auch nicht damit rechnen müssen, dass die Zeugin in einem Abstand von nur 50 cm vor dem Bus einscheren würde, um verbotswidrig in einer Feuerwehreinfahrt zu parken. Die Zeugin habe gewusst, dass der Bus an einer Haltestelle stand, also dort nicht stehenbleiben würde. Sie hätte mit einem Anfahren rechnen müssen. Da sie in der Feuerwehreinfahrt nicht parken durfte, hätte sie davon ausgehen müssen, dass der Beklagte zu 1 seinerseits nicht damit rechnete, die Zeugin werde mit einem Abstand von nur 50 cm an dem Bus vorbeifahren, um verbotswidrig zu parken. Dadurch habe die Zeugin den Unfall mitverschuldet.
Wegen der Einzelheiten wird auf den Inhalt der zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze vom 28. April 2014 und 21. Mai 2014 Bezug genommen.
II.
Die zulässige Berufung ist im Ergebnis nicht begründet.
Die Klägerin hat gegen die Beklagten keinen über 60 % hinausgehenden Schadensersatzanspruch aus §§ 7 Abs. 1, 17 Abs. 1, Abs. 3, 18 StVG, 115 VVG.
Wie es zu dem Unfall gekommen ist, ist mittlerweile unstreitig. Danach stand der von dem Beklagten zu 1 gesteuerte Bus an einer Haltestelle, die sich auf dem rechten Fahrstreifen befand, um Fahrgäste aus- und einsteigen zu lassen. Die Zeugin A fuhr unter Benutzung der Gegenfahrbahn an dem Bus vorbei und scherte mit einem Abstand von ca. 50 cm vor dem Bus nach rechts ein, um vor diesem am rechten Fahrbahnrand zu parken. In diesem Augenblick fuhr der Bus ohne zu blinken nach vorne an und kollidierte mit der hinteren linken Seite des klägerischen Fahrzeugs.
Nicht im Streit steht, dass der Beklagte zu 1 gegen § 10 StVO verstoßen hat. Danach muss, wer vom Fahrbahnrand aus anfahren will, sich so verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Zudem muss er nach S. 2 die Absicht anzufahren rechtzeitig und deutlich unter Verwendung des Fahrrichtungsanzeigers ankündigen. Zum einen hat der Beklagte zu 1 beim Anfahren den Blinker nicht betätigt; zum anderen hat er nicht auf das Fahrzeug der Klägerin geachtet, das für ihn sichtbar gewesen sein muss, da es sich unmittelbar neben bzw. vor ihm befand.
Entgegen der Auffassung der Klägerin stellt der Unfall für sie kein unabwendbares Ereignis i.S.d. § 17 Abs. 3 StVG dar. Das Landgericht hat zutreffend angeführt, dass sich ein Fahrer, der mit Erfolg die Unabwendbarkeit des Unfallgeschehens einwenden möchte, wie ein Idealfahrer verhalten und in der bestimmten Verkehrssituation alle möglichen und naheliegenden Gefahrenmomente sowie fremde Fahrfehler in die von ihm anzustellende Gefahrenprognose einbeziehen muss. Zudem kommt es bei der Frage der Unabwendbarkeit nicht nur darauf an, wie sich ein Idealfahrer verhalten hätte, sondern auch darauf, ob ein Idealfahrer überhaupt in eine solche Gefahrenlage geraten wäre (vgl. Heß, in: Burmann/Heß/Jahnke/ Janker, Straßenverkehrsrecht, 23. A., § 17 StVG Rn. 8 mit Rechtsprechungsnachweisen). Ein Idealfahrer hätte mit der Gefahr gerechnet, dass der Bus, der nicht parkte, sondern lediglich Fahrgäste ein- und aussteigen ließ, wieder anfahren würde; er wäre demnach nicht mit einem geringen Abstand von nur 50 cm vor dem an der Haltestalle stehenden Bus nach rechts zum Parken eingeschert.
Die Klägerin kann auch nicht damit gehört werden, dass es nur deshalb zum Unfall gekommen sei, weil der Bus angefahren ist. Der Umstand, dass der Beklagte zu 1 durch das Anfahren eine Unfallursache gesetzt hat, lässt keine Schlussfolgerung im Hinblick darauf zu, ob der Unfall für die Klägerin unabwendbar war oder ihr ein eigenes Mitverschulden anzurechnen ist.
Der Zeugin A kann allerdings entgegen der Auffassung des Landgerichts nicht vorgeworden werden, gegen § 20 Abs. 5 StVO verstoßen zu haben. Die Vorschrift verpflichtet die Fahrer anderer Fahrzeuge, den Linien- und Schulbussen das Anfahren von gekennzeichneten Haltestellen aus zu erleichtern, indem sie auf das sonst dem fließenden Verkehr nach § 10 StVO zustehende Vorrecht kurzfristig verzichten, erforderlichenfalls sogar anhalten müssen, um dem Bus das Einordnen in den fließenden Verkehr zu ermöglichen. Allerdings setzt der Schutz des abfahrenden Linienbusses voraus, dass der Busfahrer seiner Anzeigepflicht nachgekommen ist (BGH, Beschluss vom 6.12.1978, 4 StR 130/78 = BGHSt 28, 218; Heß, in: Burmann/Heß/Jahnke/Janker, a.a.O., § 20 StVO Rn. 9); ist dies nicht der Fall, bleibt der Vorrang des fließenden Verkehrs bestehen. Vorliegend ist zu berücksichtigen, dass die Zeugin den Bus bereits überwiegend passiert hatte, als dieser sich in Bewegung setzte; zudem hat der Beklagte zu 1 sein Vorhaben anzufahren nicht angezeigt, so dass der Zeugin A nicht vorgehalten werden kann, ihm entgegen § 20 Abs. 5 StVO den Vorrang nicht gewährt zu haben.
Die Zeugin A hat auch nicht gegen § 7 Abs. 5 S. 1 StVO verstoßen. Diese Vorschrift schützt nicht den vom Straßenrand aus anfahrenden Verkehrsteilnehmer, für den § 10 StVO gilt (OLG München, Urteil vom 17.12.2010, 10 U 2926/10 = zitiert nach juris; KG Berlin, Beschluss vom 24.7.2008, 12 U 142/07 = NZV 2009, 237).
Die Zeugin hat den Bus auch nicht überholt i.S.d. § 5 StVO; ein Bus, der zum Fahrgastwechsel an einer Haltstelle hält, wird nicht überholt, da er sich nicht in Bewegung befindet oder mit Rücksicht auf die Verkehrslage anhält; vielmehr wird an ihm im Sinne des § 6 vorbeigefahren (Heß, in: Burmann/Heß/Jahnke/Janker, a.a.O. § 5 StVO Rn. 2a). § 6 regelt nicht die Pflichten des Vorbeifahrenden gegenüber dem haltenden Verkehrsteilnehmer; sie ergeben sich aus § 1 (Heß, in: Burmann/Heß/Jahnke/Janker, a.a.O. § 6 StVO Rn.1).
Der Zeugin ist jedoch ein Verstoß gegen § 1 Abs. 2 StVO vorzuwerfen, indem sie mit einem Abstand von lediglich 50 cm vor dem Bus einscherte, um vor ihm zu halten bzw. zu parken. Die Klägerin kann nicht damit gehört werden, dass ein halber Meter Abstand zum Einscheren vor einem Hindernis mehr als ausreichend sei, um mit einem Kleinwagen gefahrlos einparken zu können. Es ging nicht darum, dass die Zeugin vor einem statischen Hindernis einparken wollte; vielmehr hat sie sich knapp vor einen Bus gesetzt, von dem sie annehmen musste, dass er alsbald wieder anfahren würde. Insoweit ist auch zu berücksichtigen, dass die Haltestelle, an der der Beklagte zu 1 stand, mit dem Zeichen 224 der Anlage 2 zur StVO gekennzeichnet war. Dieses Kennzeichen beinhaltet in Verbindung mit § 41 Abs. 1 StVO das Verbot, bis zu 15 m vor und hinter dem Zeichen zu parken. Dies zeigt, dass ein Bus in besonderem Maße des Platzes zum Rangieren bedarf und in der Annäherung an einen im Bereich einer Haltestelle haltenden Linienbus erhöhte Rücksichtnahmepflichten bestehen. Zudem hat die Zeugin im Rahmen ihrer Vernehmung vor dem Landgericht selbst eingeräumt, dass es sich nicht um einen richtigen Parkplatz, sondern um eine Feuerwehreinfahrt handelte, an der sie parken wollte. Auch wenn der Klägervertreter in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat unter Hinweis auf die in Augenschein genommenen Lichtbilder erklärt hat, dass die Zeugin lediglich einige Zentimeter mit dem Fahrzeug in der Einfahrt gestanden hätte, wenn sie hätte einparken können, vermag der Senat aufgrund der eigenen Angabe der Zeugin nicht zu erkennen, dass es sich um einen regulären Parkplatz gehandelt hätte. Auch der Beklagte zu 1 hat in seiner mündlichen Anhörung angegeben, dass es sich um eine Feuerwehreinfahrt gehandelt habe und die Zeugen da nicht habe parken dürfen.
Die von dem Landgericht vorgenommene Abwägung der Verursachungs- und Verschuldensanteile ist im Ergebnis nicht zu beanstanden. Der Beklagte zu 1 ist beim Anfahren nicht nach links in den fließenden Verkehr eingeschert, sondern beim Vorrollen mit dem Fahrzeug der Klägerin kollidiert. Auch wenn der Beklagte zu 1 verpflichtet war, eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer auszuschließen und er nicht geblinkt hat, lag es für ihn nicht auf der Hand, dass sich die Zeugin dicht vor ihn setzen würde, da es sich nicht um eine Fahrspur des fließenden Verkehrs handelte und er aufgrund der Feuerwehreinfahrt auch nicht mit dicht vor ihm einscherenden Parkverkehr rechnen musste. Demgegenüber hat die Zeugin die besondere Situation nicht beachtet. Sie hat sich dicht vor den Bus gesetzt, obwohl sie davon ausgehen musste, dass der Bus alsbald anfahren würde.
Der Verursachungsanteil der Klägerin tritt auch nicht wegen einer überwiegenden Betriebsgefahr des Busses zurück. Die Geschwindigkeit des Busses war noch so gering, dass sich die höhere Betriebsgefahr nicht wesentlich ausgewirkt hat.
III.
Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 97 Abs. 1, 708 Ziff. 10, 713 ZPO, § 26 Ziff. 8 EGZPO.
Die Revision war nicht gemäß § 543 Abs. 2 S. 1 ZPO zuzulassen, da die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat und die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts nicht erfordert.