Radfahrer haftbar bei Abbiegeunfall mit Pkw
Ein Radfahrer, der beim Linksabbiegen ohne vorheriges Handzeichen und ohne sich einzuordnen von einem überholenden Fahrzeug erfasst wird, haftet für den Unfall allein, wenn dadurch die Verkehrsregeln grob missachtet wurden. Das Oberlandesgericht Schleswig-Holstein entschied, dass bei einer Kollision unter diesen Umständen die Haftung für den entstandenen Schaden vollständig dem Radfahrer zufällt, da dessen Verhalten die Hauptursache des Unfalls war.
Übersicht:
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✔ Das Wichtigste in Kürze
- Der Oberlandesgericht Schleswig-Holstein stellte fest, dass ein Radfahrer, der grob gegen die Sorgfaltsanforderungen beim Linksabbiegen verstößt, für den daraus resultierenden Unfall allein haftet.
- Vor dem 27.04.2020 waren keine konkreten Mindestabstände beim Überholen von Radfahrern vorgeschrieben; maßgeblich waren die örtlichen Verhältnisse und gefahrenen Geschwindigkeiten.
- Ein nach links abbiegender Radfahrer ist nicht vom Schutzzweck eines Überholverbots wegen Behinderung des Gegenverkehrs erfasst.
- Die Abwägung der Verursachungsbeiträge kann zum vollständigen Ausschluss des Ersatzanspruchs führen, wenn das Verschulden des Radfahrers überwiegt.
- Die Klägerin verstieß mehrfach gegen die Sorgfaltsanforderungen, indem sie ohne doppelte Rückschau, Handzeichen und rechtzeitiges Einordnen abbog.
- Die Beklagten hatten keine Aussicht auf Erfolg mit ihrer Berufung, da die Klägerin für den Unfall allein verantwortlich war.
- Die Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil wurde vom Gericht als offensichtlich aussichtslos bewertet.
Linksabbiegen auf zwei Rädern
Fahrradfahrer haben im Straßenverkehr die gleichen Rechte und Pflichten wie andere Verkehrsteilnehmer. Beim Linksabbiegen für Radler gelten besondere Sorgfaltsanforderungen. Fehler können schwerwiegende Folgen nach sich ziehen – vor allem bei Zusammenstößen mit Kraftfahrzeugen.
Hat der Radfahrende die Vorfahrt beachtet? Wurde der Schulterblick ausgeführt? Erfolgte rechtzeitig ein Handzeichen? Die Klärung dieser Fragen ist entscheidend für die Haftung nach einem Unfall. Die Gerichte haben bei Verkehrsunfällen mit Radfahrern stets die konkreten Umstände zu prüfen, um eine angemessene Risikoverteilung zwischen den Unfallbeteiligten vorzunehmen.
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➜ Der Fall im Detail
Radfahrerunfall führt zu juristischer Auseinandersetzung über Sorgfaltspflichten
In einem bemerkenswerten Fall vor dem Oberlandesgericht Schleswig-Holstein, Az.: 7 U 106/23, ging es um die Folgen eines Verkehrsunfalls zwischen einem Radfahrer und einem PKW.
Die Kollision ereignete sich am 30. Juli 2019 auf der Straße M. in der Nähe von O., als die Klägerin, eine erfahrene Radfahrerin, nach links in die Straße K. abbiegen wollte, während gleichzeitig die Beklagte zu 1), die mit ihrem Fahrzeug in dieselbe Richtung unterwegs war, zum Überholen ansetzte. Der Zusammenstoß führte zu erheblichen Verletzungen bei der Radfahrerin und Sachschäden am Fahrzeug der Beklagten.
Die strittigen Punkte in diesem Fall bezogen sich insbesondere darauf, ob die Klägerin vor dem Abbiegen die erforderlichen Sicherheitsmaßnahmen, wie den Schulterblick und das Handzeichen, ordnungsgemäß durchgeführt hatte. Die Klägerin behauptete, nach einem Blickkontakt mit der Beklagten zu 1) sicher gewesen zu sein, dass diese ihre Abbiegeabsicht erkannt habe. Die Beklagten widersprachen dieser Darstellung und führten an, die Klägerin habe unvermittelt und ohne Ankündigung ihre Fahrbahn gewechselt.
Gerichtliche Beurteilung des Unfalls
Das Gericht wies die Klage der Radfahrerin ab und folgte in seinem Urteil der Argumentation der Beklagten. Es stellte fest, dass die Klägerin in mehrfacher Hinsicht gegen ihre Sorgfaltspflichten verstoßen hatte. Sie hatte es versäumt, ein Handzeichen zu geben, sich rechtzeitig zur Fahrbahnmitte hin einzuordnen und eine doppelte Rückschau zu halten, bevor sie abbiegen wollte. Diese Verstöße führten dazu, dass das Gericht eine hundertprozentige Haftung der Klägerin annahm und die Betriebsgefahr des von der Beklagten zu 1) geführten Fahrzeugs als völlig zurücktretend bewertete.
Das Gericht hob hervor, dass die Klägerin durch ihr Handeln die Kollision maßgeblich verursacht hatte. Es betonte zudem, dass aus dem kurz vor dem Unfall entstandenen Blickkontakt zwischen den Parteien nicht automatisch auf eine Erkennung der Abbiegeabsicht geschlossen werden kann. Die Entscheidung berücksichtigte weiterhin, dass zum Zeitpunkt des Unfalls keine konkreten Mindestabstände beim Überholen von Radfahrern gesetzlich festgelegt waren, weshalb die Bewertung des Überholmanövers auf den konkreten örtlichen Verhältnissen und den gefahrenen Geschwindigkeiten basierte.
Rechtsgrundsätze und Abwägung der Verantwortung
Das Oberlandesgericht legte dar, dass bei der Abwägung der Verursachungsbeiträge und der Haftung zwischen Kraftfahrzeughaltern bzw. -führern und Radfahrern die Grundsätze nach § 17 StVG und § 254 Abs. 1 BGB entsprechend anzuwenden sind. Demnach kann die Haftung vollständig auf den geschädigten Radfahrer übergehen, wenn dessen Verschulden derart überwiegt. Die Entscheidung machte deutlich, dass Radfahrer nicht von den Sorgfaltsanforderungen befreit sind, insbesondere beim Abbiegen, wo klare Regeln einzuhalten sind.
Schlussfolgerungen des Gerichts
Das Gericht sah keine Aussicht auf Erfolg für die Berufung der Klägerin, da die Beweislage und die rechtliche Bewertung klar gegen sie sprachen. Die Entscheidung betont die Notwendigkeit, dass alle Verkehrsteilnehmer ihre Verpflichtungen ernst nehmen und die Verkehrsregeln beachten, um die Sicherheit im Straßenverkehr zu gewährleisten.
In diesem Fall unterstrich das Oberlandesgericht Schleswig-Holstein die Bedeutung der individuellen Verantwortung und der Einhaltung der Verkehrsregeln, um Unfälle zu vermeiden und die Rechtssicherheit zu wahren. Die Entscheidung verdeutlicht, dass bei der Beurteilung von Verkehrsunfällen die Umstände des Einzelfalls entscheidend sind und sowohl die Handlungen der Radfahrer als auch der Kraftfahrzeugführer genau geprüft werden.
✔ Häufige Fragen – FAQ
Welche Sorgfaltspflichten haben Radfahrer beim Linksabbiegen?
Radfahrer müssen beim Linksabbiegen besondere Sorgfaltspflichten beachten, um Unfälle zu vermeiden. Die wichtigsten Punkte dabei sind:
Schulterblick: Bevor der Radfahrer zum Abbiegen ansetzt, muss er sich durch einen Blick über die linke Schulter vergewissern, dass kein nachfolgender Verkehr überholt. Dieser Schulterblick ist sowohl vor dem Einordnen zur Fahrbahnmitte als auch nochmals unmittelbar vor dem Abbiegen erforderlich (sogenannte „doppelte Rückschaupflicht“).
Handzeichen: Der Radfahrer muss seinen Abbiegevorgang rechtzeitig und deutlich durch Handzeichen ankündigen. Erst danach darf er sich zur Fahrbahnmitte hin einordnen. Nach dem Handzeichen müssen bis zum Abbiegen wieder beide Hände am Lenker sein.
Einordnen: Wer nach links abbiegen will, muss sich bis zur Mitte der Fahrbahn einordnen. Dies darf der Radfahrer auch dann, wenn ein benutzungspflichtiger Radweg vorhanden ist.
Vorfahrt beachten: An der Abbiegestelle muss der Radfahrer warten und dem Gegenverkehr sowie kreuzenden Fahrzeugen mit Vorfahrt die Vorfahrt gewähren.
Abbiegen: Der eigentliche Abbiegevorgang sollte in einem möglichst weiten Bogen erfolgen, damit der Radfahrer die rechte Seite der einmündenden Straße erreicht. Dabei müssen beide Hände am Lenker bleiben.
Verstößt ein Radfahrer gegen diese Sorgfaltspflichten, z.B. indem er ohne Schulterblick oder Handzeichen plötzlich nach links zieht, kann er bei einem Unfall überwiegend oder sogar alleine haften. Besonders gefährlich und sorgfaltswidrig ist es, wenn ein Radfahrer unvermittelt den Radweg verlässt und dann sofort links abbiegt.
Zusammengefasst müssen Radfahrer beim Linksabbiegen also umsichtig und vorausschauend handeln, die anderen Verkehrsteilnehmer durch Handzeichen warnen, sich korrekt einordnen und die Vorfahrt beachten. Nur so können sie Zusammenstöße mit überholenden oder entgegenkommenden Fahrzeugen vermeiden.
Wie wird die Haftung zwischen Radfahrer und Autofahrer bei einem Unfall abgewogen?
Bei einem Unfall zwischen einem Radfahrer und einem Autofahrer erfolgt die Haftungsabwägung nach folgenden Grundsätzen:
Betriebsgefahr des Autos: Aufgrund der Betriebsgefahr des Kraftfahrzeugs haftet der Autofahrer in der Regel zumindest anteilig für die Unfallfolgen, auch wenn ihn kein Verschulden trifft. Die Betriebsgefahr tritt nur dann vollständig zurück, wenn den Radfahrer ein grobes Eigenverschulden trifft.
Verschulden des Radfahrers: Hat der Radfahrer den Unfall schuldhaft mitverursacht, führt dies zu einer Mithaftung nach den Grundsätzen des Mitverschuldens (§ 254 BGB). Typische Verstöße sind:
- Missachtung der Vorfahrt
- Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot
- verbotswidriges Fahren auf dem Gehweg
- plötzliches Verlassen des Radwegs
Abwägung im Einzelfall: Die genaue Haftungsverteilung hängt stets von den Umständen des Einzelfalls ab. Maßgeblich sind insbesondere:
- Schwere des Verschuldens auf beiden Seiten
- Gewicht der Betriebsgefahr des Kfz
- Verhalten des Autofahrers, z.B. überhöhte Geschwindigkeit
Häufig wird eine Mithaftung des Radfahrers von 25-50% angenommen. Nur bei besonders gravierenden Verkehrsverstößen wie plötzlichem Abbiegen haftet der Radfahrer zu 100%.
Sonderfall „dooring“: Öffnet ein Autofahrer die Tür, ohne auf den Verkehr zu achten, und kollidiert ein Radfahrer damit, haftet der Autofahrer in der Regel zu 100%. Der erforderliche Sicherheitsabstand des Radfahrers ist einzelfallabhängig.
Zusammengefasst beurteilt sich die Haftungsverteilung also nach dem Zusammenspiel von Betriebsgefahr und beiderseitigem Verschulden. Nur bei grober Sorgfaltspflichtverletzung des Radfahrers scheidet eine Haftung des Autofahrers ganz aus.
Welche Rolle spielt der Blickkontakt zwischen Radfahrer und Autofahrer vor einem Unfall?
Der Blickkontakt zwischen Radfahrer und Autofahrer kann bei der Beurteilung eines Unfalls eine wichtige Rolle spielen:
Vertrauensgrundsatz: Im Straßenverkehr gilt der Vertrauensgrundsatz, d.h. jeder Verkehrsteilnehmer darf darauf vertrauen, dass sich die anderen verkehrsgerecht verhalten. Blickkontakt kann dieses Vertrauen begründen oder verstärken.
Wirkung des Blickkontakts: Stellen Radfahrer und Autofahrer Blickkontakt her, kann dies als gegenseitige Wahrnehmung und Verständigung über das weitere Vorgehen verstanden werden. Der Autofahrer darf dann eher darauf vertrauen, dass der Radfahrer ihn gesehen hat und Vorfahrt gewähren wird.
Umgekehrt kann der Radfahrer aus dem Blickkontakt ableiten, dass der Autofahrer ihn wahrgenommen hat und Rücksicht nehmen wird. Dieses Vertrauen entbindet den Radfahrer aber nicht von seinen eigenen Sorgfaltspflichten.
Haftungsrelevanz: Kommt es trotz Blickkontakts zum Unfall, kann sich der Autofahrer in der Regel nicht darauf berufen, er habe aufgrund des Blickkontakts auf ein verkehrsgerechtes Verhalten des Radfahrers vertraut. Denn der Blickkontakt allein begründet noch kein schutzwürdiges Vertrauen.
Etwas anderes gilt nur, wenn der Radfahrer durch sein Verhalten zusätzlich den Eindruck erweckt hat, er werde die Vorfahrt beachten. Fährt er dann trotzdem unvermittelt los, kann ihn ein Mitverschulden an dem Unfall treffen.
Beweisfragen: In der Praxis ist es oft schwierig nachzuweisen, ob tatsächlich Blickkontakt bestanden hat. Die bloße Behauptung des Autofahrers reicht nicht aus, vielmehr müssen konkrete Anhaltspunkte vorliegen. Relevant können insoweit die Unfallspuren und Zeugenaussagen sein.
Insgesamt hat der Blickkontakt also durchaus eine Indizwirkung für die gegenseitige Wahrnehmung und Verständigung. Er führt für sich genommen aber noch nicht zu einem schutzwürdigen Vertrauen und einer Haftungsprivilegierung des Autofahrers. Nur wenn der Radfahrer durch sein Verhalten zusätzlich einen Vertrauenstatbestand schafft, kann ihm der Blickkontakt haftungsrechtlich angelastet werden.
Gibt es gesetzliche Mindestabstände beim Überholen von Radfahrern?
Ja, es gibt gesetzlich festgelegte Mindestabstände, die Autofahrer beim Überholen von Radfahrern einhalten müssen:
Innerorts müssen Autofahrer einen Seitenabstand von mindestens 1,5 Metern zu Radfahrern einhalten, außerorts sogar mindestens 2 Meter. Diese Regelung wurde mit der Novelle der Straßenverkehrsordnung (StVO) im April 2020 eingeführt.
Ist aufgrund der Verkehrssituation kein ausreichender Abstand möglich, muss das Überholen unterbleiben und der Autofahrer hinter dem Radfahrer bleiben, bis ein gefahrloses Überholen möglich ist. Ein Unterschreiten des Mindestabstands ist nicht zulässig, auch nicht bei geringer Geschwindigkeit.
Vor der StVO-Novelle 2020 gab es zwar keine konkreten Meterangaben, aber auch da musste schon ein „ausreichender Seitenabstand“ eingehalten werden. Die Rechtsprechung ging hier von 1,5 bis 2 Metern aus. Maßgeblich war, dass der Radfahrer nicht gefährdet, behindert oder erschreckt werden durfte.
Verstöße gegen den Überholabstand werden mit einem Bußgeld von 30 Euro geahndet. Kommt es dabei zur Gefährdung von Kindern, älteren Menschen oder Hilfsbedürftigen, sind es 80 Euro und ein Punkt. Bei einem Unfall mit diesen Personengruppen drohen 100 Euro und ein Punkt.
Der Mindestabstand gilt übrigens auch auf Schutzstreifen und Radfahrstreifen. Radfahrer untereinander müssen dagegen keinen pauschalen Seitenabstand einhalten, hier kommt es auf die Umstände des Einzelfalls an.
Zusammengefasst haben Radfahrer also ein Recht darauf, dass Autofahrer beim Überholen ausreichend Abstand halten. Seit 2020 sind die Mindestabstände gesetzlich klar definiert. Können sie nicht eingehalten werden, muss der Autofahrer hinter dem Radler bleiben.
§ Relevante Rechtsgrundlagen des Urteils
- § 5 Abs. 4 S. 3 StVO: Erläutert die Regeln für das Überholen von Radfahrern, speziell die Mindestabstände, die seit dem 27.04.2020 mit außerorts 2 Metern definiert sind. Für den Fall relevant, da es um einen Unfall beim Überholvorgang eines Radfahrers geht.
- § 9 Abs. 1 S. 1, 2 und 4 StVO: Beschreibt die Verhaltensvorschriften beim Abbiegen, einschließlich des Gebens von Handzeichen, des Einordnens und der doppelten Rückschau. Zentral, da der Unfall beim Linksabbiegen des Radfahrers erfolgte und diese Pflichten verletzt wurden.
- § 17 StVG und § 254 Abs. 1 BGB: Betreffen die Abwägung der Verursachungsbeiträge und die Schadensminderungspflicht. Diese Gesetze sind entscheidend für die Beurteilung der Haftungsverteilung zwischen den Unfallbeteiligten.
- § 7 Abs. 1 StVG: Regelt die Halterhaftung bei Verkehrsunfällen. Wichtig für den Fall, da die Haftungsfrage zwischen Radfahrerin und Kfz-Halter geklärt werden musste.
- § 522 Abs. 2 ZPO: Erlaubt es dem Gericht, eine Berufung ohne mündliche Verhandlung zurückzuweisen, wenn diese offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat. Relevant, da das Gericht genau diese Regelung anwendet, um die Berufung der Klägerin abzulehnen.
- § 2 Abs. 2 StVO: Definiert das Rechtsfahrgebot. Im Kontext wichtig, da der Radfahrer beim Abbiegevorgang die Kurve geschnitten und somit gegen dieses Gebot verstoßen hat.
Das vorliegende Urteil
Oberlandesgericht Schleswig-Holstein – Az.: 7 U 106/23 – Beschluss vom 15.11.2023
Leitsatz
1. Bis zum 27.04.2020 gab es keine konkreten Mindestabstände beim Überholen von Radfahrern (nach § 5 Abs. 4 S. 3 StVO n.F. sind es außerorts 2 m). Bis dahin kam es für den „ausreichenden Sicherheitsabstand“ maßgeblich auf die konkreten örtlichen Verhältnisse und die gefahrenen Geschwindigkeiten an.
2. Ein nach links Abbiegender ist nicht vom Schutzzweck eines Überholverbots nach § 5 Abs. 2 Satz 1 StVO (= Überholverbot wegen Behinderung des Gegenverkehrs vor einer Kuppe im weiteren Straßenverlauf) erfasst.
3. Die Grundsätze der Abwägung der wechselseitigen Verursachungsbeiträge nach § 17 StVG gelten für die Beurteilung der Haftung zwischen Kraftfahrzeughaltern und -führern einerseits und Radfahrern andererseits im Rahmen der § 9 StVG, § 254 Abs. 1 BGB entsprechend. Danach kann die Abwägung auch zum vollständigen Ausschluss des Ersatzanspruchs aus § 7 Abs. 1 StVG führen, wenn das Verschulden des geschädigten Radfahrers derart überwiegt, dass die vom Schädiger ausgehende Ursache völlig zurücktritt.
4. Wenn ein Radfahrer mehrfach grob gegen die Sorgfaltsanforderungen beim Linksabbiegen verstößt (Unterlassen: doppelte Rückschau, rechtzeitiges Handzeichen und rechtzeitiges Einordnen) und es deshalb zur Kollision mit einem überholenden Kraftfahrzeug kommt, dann haftet der Radfahrer allein.
1. Die Klägerin wird gemäß § 522 Abs. 2 ZPO darauf hingewiesen, dass die Berufung gegen das angefochtene Urteil offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg bietet, die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat, die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts durch Urteil nicht erfordert und eine mündliche Verhandlung nicht geboten ist. Der Senat beabsichtigt deshalb, die Berufung aus den nachfolgenden Gründen ohne mündliche Verhandlung durch einstimmigen Beschluss zurückzuweisen.
2. Es besteht Gelegenheit zur Stellungnahme binnen 3 Wochen, sofern die Berufung nicht aus Kostengründen innerhalb der genannten Frist zurückgenommen werden sollte.
3. Der Senat beabsichtigt, den Streitwert für den zweiten Rechtszug auf bis 13.000,00 € festzusetzen.
Gründe
I.
Die Parteien streiten um die Haftung für die Folgen eines Verkehrsunfalls, der sich am 30.07.2019 gegen 15:15 Uhr auf der Straße M. (L. 430) in der Nähe von O. im Bereich der Einmündung der Straße K. ereignet hat. Die Klägerin befuhr die Straße M. mit ihrem Fahrrad aus Richtung P. kommend, die Beklagte zu 1) befuhr die Straße mit ihrem bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherten PKW Seat in gleicher Richtung. Der Unfallhergang ist im Einzelnen streitig.
Die Straße M. ist 5 m breit und verfügt über keinen Mittelstreifen und keine befestigten Seitenstreifen. An der Unfallstelle gilt eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf 70 km/h. Als die Beklagte zu 1) sich der Klägerin von hinten näherte, blickte diese sich um und es entstand Blickkontakt zwischen den Beteiligten. Kurz darauf, vor der Einmündung der Straße K., setzte die Beklagte zu 1) mit ihrem Fahrzeug zum Überholen der Klägerin an. Die Klägerin leitete etwa zeitgleich das Abbiegen nach links in die Straße K. ein. Es kam zur Kollision, bei der die Klägerin stürzte und sich erheblich verletzte. Das Fahrzeug der Beklagten zu 1) wurde vorne rechts beschädigt.
Die Klägerin hat zunächst behauptet, keine Erinnerung mehr an den Unfallhergang zu haben. Als erfahrene Radfahrerin leite sie jedoch keinen Abbiegevorgang ohne vorherigen Schulterblick und entsprechendes Handzeichen ein. Später – nach dem ersten Verhandlungstermin vor dem Landgericht – hat sie behauptet, aufgrund eines anderen Vorfalls könne sie sich nunmehr wieder an den Unfall erinnern, namentlich daran, dass sie nach dem Blickkontakt ein Handzeichen gegeben und begonnen habe, sich nach links zur Fahrbahnmitte hin einzuordnen. Sie sei sich nach dem Blickkontakt sicher gewesen, dass die Beklagte zu 1) ihre Abbiegeabsicht erkannt habe.
Die Klägerin hat beantragt,
1. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an sie 1.637,39 € nebst 5%-punkten Zinsen über Basiszinssatz seit dem 09.01.2020 zu bezahlen;
2. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an sie ein Schmerzensgeld in Höhe von 10.000,00 € zu bezahlen;
3. festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, ihr sämtliche Schäden, die ihr in Zukunft aus dem Verkehrsunfall vom 30.7.2019 auf der L. 430, in Höhe M….. entstehen, zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergehen.
Die Beklagten beantragen, die Klage abzuweisen.
Die Beklagten haben behauptet, die Klägerin habe weder ein Handzeichen gegeben, noch sich nach links eingeordnet. Die Beklagte zu 1) habe bereits zuvor die Geschwindigkeit auf etwa 50 km/h reduziert. Nach dem Blickkontakt habe die Beklagte zu 1) unter Setzen des Fahrtrichtungsanzeigers zum Überholen angesetzt. Hierbei sei sie ganz links auf der Fahrbahn gefahren. Die Klägerin sei unvermittelt nach links abgebogen, als die Beklagte zu 1) sich mit ihrem Fahrzeug bereits neben der Klägerin befunden habe. Der Unfall sei für die Beklagte zu 1) unvermeidbar gewesen.
Das Landgericht hat die Parteien persönlich angehört und ein Unfallrekonstruktionsgutachten eines Sachverständigen eingeholt. Es hat sodann die Klage abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt:
Die Klägerin habe gegen die Beklagten keinen Anspruch aus §§ 7 Abs. 1 StVG i. V. m. § 115 Abs. 1 Nr. 1 VVG. Auf Grund eines hundertprozentigen Mitverschuldens der Klägerin sei die Haftung der Beklagten gemäß §§ 9 StVG, 254 BGB auf Null gemindert. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme stehe fest, dass die Klägerin ihre Pflichten aus § 9 Abs. 1 S. 1, 2 und 4 StVO verletzt habe, indem sie vor dem Abbiegen weder ein Handzeichen gegeben, noch sich zur Mitte der Fahrbahn hin eingeordnet, noch doppelte Rückschau gehalten habe. Darüber hinaus habe sie die Kurve geschnitten und damit das Rechtsfahrgebot gemäß § 2 Abs. 2 StVO verletzt. Dies ergebe sich bereits aus den örtlichen Verhältnissen, nach denen ein Überholen durch die Beklagte zu 1) bei korrektem Verhalten der Klägerin so offensichtlich unmöglich gefahrlos möglich gewesen wäre, dass nicht anzunehmen sei, dass die Beklagte zu 1) dennoch zum Überholen angesetzt hätte. Ein derart rücksichtsloses Verhalten sei vorliegend nicht anzunehmen, zumal der Sachverständige eine Geschwindigkeit des Beklagtenfahrzeugs von lediglich 33-46 km/h ermittelt habe. Dies werde gestützt durch die glaubhaften Angaben der Beklagten zu 1) und den im Rahmen der persönlichen Anhörung von ihr gewonnenen Eindruck. Die Angaben der Klägerin zu ihren – erst nach Hinweis des Landgerichts zu ihrem überwiegenden Mitverschulden – wiedererlangten Erinnerungen seien demgegenüber unglaubhaft. Auch nach den weiteren Ausführungen des Sachverständigen sei nicht von einem Einordnen der Klägerin nach links auszugehen, denn die objektive Spurenlage spreche für eine Kollision etwa in der Fahrbahnmitte in einem fortgeschrittenen Abbiegevorgang der Klägerin. Bei doppelter Rückschau hätte die Klägerin zudem sehen müssen, dass sich das Fahrzeug bereits im Überholvorgang befunden habe. Dies ergebe sich aus der Kürze der Zeit von lediglich etwa 1,7 Sekunden, die der Abbiegevorgang bis zur Kollision gedauert habe könne. Nach den weiteren Feststellungen des Sachverständigen müsse die Klägerin auch sehr stark die Kurve geschnitten haben. Die danach verbleibende Betriebsgefahr des Fahrzeugs trete hinter den vielfachen Verkehrsverstößen der Klägerin zurück. Aus dem Blickkontakt allein habe die Beklagte zu 1) nicht auf eine Abbiegeabsicht der Klägerin schließen müssen. Es sei nicht ungewöhnlich, dass ein Radfahrer sich umdrehe, wenn er hinter sich ein Motorengeräusch wahrnehme. Und schließlich würde es an der alleinigen Haftung der Klägerin auch nichts ändern, wenn die Beklagte zu 1) aufgrund einer Kuppe gegen § 5 Abs. 2 S. 1 StVO verstoßen hätte.
Wegen der weiteren Einzelheiten des erstinstanzlichen Sach- und Streitstandes sowie der tatsächlichen Feststellungen des Landgerichts wird auf die angefochtene Entscheidung nebst dortigen Verweisungen Bezug genommen.
Mit ihrer Berufung verfolgt die Klägerin ihr erstinstanzliches Begehren unter Wiederholung und Vertiefung ihres Vorbringens weiter. Das landgerichtliche Urteil sei rechtsfehlerhaft. Unberücksichtigt bleibe zunächst, dass die Beklagte zu 1) bereits vor dem Einleiten des Überholvorgangs eine Einmündung nach links vor sich gehabt habe. Aufgrund der Breite der Fahrbahn und des Fahrzeuges sei der Beklagten zu 1) sei zudem das Einhalten des erforderlichen Seitenabstandes beim Überholen gar nicht möglich gewesen. Zumal die Kollision etwa mittig der Fahrbahn erfolgt sei. Die Würdigung, wonach der Klägerin Verkehrsverstöße unterstellt würden, sei einseitig und fehlerhaft erfolgt. Das Sachverständigengutachten beruhe teilweise auf Vermutungen; es sei ein neues Gutachten einzuholen. Der unstreitige entstandene Blickkontakt spreche zwingend für eine Abbiegeabsicht der Klägerin. Es sei lebensfremd, der Klägerin zu unterstellen, in Kenntnis des sie überholenden Fahrzeugs abgebogen zu sein.
Die Klägerin beantragt, das Urteil des Landgerichts vom 14.07.2023 abzuändern und
1. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an sie 1.637,39 € nebst 5%-punkten Zinsen über Basiszinssatz seit dem 09.01.2020 zu bezahlen;
2. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an sie ein durch das Gericht festzusetzendes Schmerzensgeld i. H. v. mindestens 10.000,00 € zu bezahlen;
3. festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, ihr sämtliche Schäden, die ihr in Zukunft aus dem Verkehrsunfall vom 30.7.2019 auf der L. 430, in Höhe M. entstehen, zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergehen.
Die Beklagten beantragen, die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagten verteidigen das angefochtene Urteil und treten den Angriffen der Berufung entgegen.
Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien im zweiten Rechtszug wird auf die im Berufungsrechtszug gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
II.
Die Berufung hat nach einstimmiger Auffassung des Senats keine Aussicht auf Erfolg.
Gemäß § 513 ZPO kann eine Berufung nur auf eine Rechtsverletzung oder darauf gestützt werden, dass die gemäß § 529 ZPO zu berücksichtigenden Feststellungen ein anderes als das landgerichtliche Ergebnis rechtfertigen. Beides liegt für die Berufung der Klägerin nicht vor.
Die Klägerin hat gegen die Beklagten keinen Anspruch aus §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 S. 1 StVG, § 115 Abs. 1 Nr. 1 VVG. Das Landgericht hat die Parteien – wiederholt – persönlich angehört und ein Sachverständigengutachten zum Unfallhergang eingeholt. Es ist danach ohne Rechtsfehler und mit gut nachvollziehbaren Erwägungen, die mit den Denk-, Natur- und Erfahrungssätzen im Einklang stehen, zu dem Ergebnis gelangt, dass die Klägerin gegen ihre Pflichten aus § 9 Abs. 1 S. 1 (rechtzeitiges Anzeigen der Abbiegeabsicht), S. 2 (rechtzeitiges Einordnen zur Fahrbahnmitte) und S. 4 (doppelte Rückschau) sowie aus § 2 Abs. 2 StVO (Rechtsfahrgebot) verstoßen hat.
Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung (§ 286 ZPO) berechtigt das Gericht, die im Prozess gewonnenen Erkenntnisse grundsätzlich nach seiner individuellen Einschätzung zu bewerten, wobei der Richter lediglich an die Denk-, Natur- und Erfahrungsgesetze gebunden ist (vgl. Zöller/Greger, ZPO, 34. Auflage 2022, § 286, Rn. 13). Ein Verstoß gegen diese Grundsätze ist nicht erkennbar. Im Übrigen steht die Wiederholung der Beweisaufnahme gemäß §§ 529, 531 ZPO nicht im reinen Ermessen des Berufungsgerichts. Sie ist im Sinne eines gebundenen Ermessens vielmehr nur dann zulässig, wenn konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der erstinstanzlichen Feststellungen begründen und eine gewisse – nicht notwendig überwiegende – Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass im Fall einer Beweiserhebung die erstinstanzlichen Feststellungen keinen Bestand mehr haben werden, sich also ihre Unrichtigkeit herausstellt (Zöller/Heßler, a.a.O., § 529, Rn. 3). Solche konkreten Anhaltspunkte ergeben sich jedoch aus dem Vorbringen der Berufung letztlich nicht.
Das vom Landgericht eingeholte Sachverständigengutachten hat die Anknüpfungstatsachen, soweit vorhanden, korrekt berücksichtigt und ist widerspruchsfrei. Das Landgericht hat die Ergebnisse des Gutachtens zutreffend gewürdigt. Ein Fall des § 412 Abs. 1 ZPO liegt ersichtlich nicht vor. Insbesondere in Zusammenschau mit dem Ergebnis der Anhörung des Sachverständigen gemäß § 411 Abs. 3 S. 1 ZPO in der mündlichen Verhandlung vom 12.05.2023 ist das Gutachten keinesfalls ungenügend, sondern vielmehr vollständig und in jeder Hinsicht gut nachvollziehbar. Soweit hinsichtlich der zugrunde zu legenden tatsächlichen Umständen gewisse Unsicherheiten verbleiben, liegt dies in der Natur der Sache. Der Sachverständige hat mit der gebotenen Vorsicht und unter Berücksichtigung möglicher variierender Geschehensabläufe seine Aussagen und technischen Bewertungen getroffen.
Der Umstand, dass sich im Bereich der Unfallstelle linksseitig eine Einmündung befindet, begründet – ohne die weiteren Voraussetzungen des § 5 Abs. 2 oder Abs. 3 Nr. 1 StVO – kein Überholverbot. Eine unklare Verkehrslage (§ 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO) lag nicht vor. Ausweislich der Lichtbilder von der Unfallstelle (Bl. 10 + 11 der Ermittlungsakte) war der Einmündungsbereich aus Fahrersicht schon von weitem aus gut einsehbar und ohne größeren pflanzlichen Bewuchs. Dass die Klägerin zurückgeblickt hat, begründet nicht ohne weiteres – also ohne entsprechendes Handzeichen und Einordnen zur Mitte hin – die Annahme, sie könnte unvermittelt abbiegen. Im Gegenteil, der unstreitig entstandene Blickkontakt lässt eher annehmen, die Klägerin würde eine etwaige Abbiegeabsicht erst recht anzeigen oder anderenfalls ihr Vorhaben bis zur Vorbeifahrt des Fahrzeugs zurückstellen.
Soweit die Klägerin unter Verweis auf die örtlichen Gegebenheiten einen Verstoß der Beklagten zu 1) gegen das Seitenabstandsgebot gemäß § 5 Abs. 4 S. 3 StVO behauptet, ist klarzustellen, dass zum Unfallzeitpunkt (30.07.2019) die Regelung in ihrer bis zum 27.04.2020 bestehenden Fassung galt, wonach konkrete Mindestabstände beim Überholen von Radfahrern – in der neuen Fassung des § 5 Abs. 4 S. 3 StVO sind es außerorts 2 m – nicht geregelt waren. Vorliegend ist deshalb maßgeblich auf die konkreten örtlichen Verhältnisse und die gefahrenen Geschwindigkeiten abzustellen. Unter der Maßgabe (entsprechend den Feststellungen des Landgerichts), dass die Fahrbahn 5 m breit war, das Fahrzeug der Beklagten zu 1) mit Außenspiegeln eine Breite von ca. 2,20 m aufwies, die Beklagte zu 1) ihre Geschwindigkeit bereits auf allenfalls 50 km/h reduziert hatte und die Klägerin sich nicht nach links zur Mitte hin eingeordnet hatte, kann hier ein Verstoß gegen die Pflicht zur Einhaltung eines „ausreichenden“ Seitenabstandes nicht festgestellt werden.
Im Hinblick auf das von der Klägerin eingewandte Überholverbot aufgrund einer Kuppe im weiteren Verlauf der Straße (§ 5 Abs. 2 S. 1 StVO) fehlt es an der Unfallursächlichkeit. Ein nach links Abbiegender ist nicht vom Schutzzweck der Norm erfasst, § 5 Abs. 2 StVO schützt lediglich den Gegenverkehr (König in Hentschel/König/Daurer, Straßenverkehrsrecht, 47. Aufl. 2023, § 5 Rn. 25).
Anzumerken ist schließlich, dass das Landgericht der Klägerin nicht – auch nicht „inzident“ – unterstellt hat, sie habe ihr Abbiegemanöver in Kenntnis des sie überholenden Fahrzeugs eingeleitet. Vielmehr hat das Landgericht gerade aufgrund der diesbezüglichen Erwägungen der Berufung die Überzeugung gewonnen, dass die Klägerin keine zweite Rückschau unternommen haben könne. Bei der ersten Rückschau und dem dabei entstandenen Blickkontakt hatte die Beklagte zu 1) das Überholmanöver noch nicht eingeleitet. Erst bei einer zweiten Rückschau hätte die Klägerin dann bemerken müssen, dass sie nun von dem Fahrzeug überholt wird und ihr Vorhaben aufgeben müssen.
Auf Grundlage der hiernach insgesamt nicht zu beanstandenden tatsächlichen Feststellungen des Landgerichts schließt sich der Senat auch der rechtlichen Würdigung an, dass die Mithaftung der Klägerin aufgrund ihrer groben Verkehrsverstöße im Zusammenhang mit ihrem Abbiegevorgang die allenfalls verbleibende einfache Betriebsgefahr des Fahrzeugs der Beklagten zu 1) aus § 7 Abs. 1 StVG vollständig zurücktreten lässt.
Bei der Abwägung der Verursachungsbeiträge gemäß § 9 StVG, § 254 Abs. 2 BGB ist auf die Umstände des Einzelfalls abzustellen, insbesondere darauf, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder anderen Teil verursacht worden ist.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist im Rahmen des § 17 StVG eine Abwägung und Gewichtung der jeweiligen Verursachungsbeiträge vorzunehmen, wobei eine umfassende Würdigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere eine genaue Klärung des Unfallhergangs geboten ist (BGH, Urteil vom 28.02.2012, VI ZR 10/11, Juris Rn. 6; OLG Frankfurt, Urteil vom 31.03.2020, 13 U 226/15, Juris Rn. 43). Im Rahmen der Abwägung der wechselseitigen Verursachungs- und Verschuldensanteile der Fahrer der beteiligten Fahrzeuge sind unter Berücksichtigung der von beiden Fahrzeuge ausgehenden Betriebsgefahr nur unstreitige oder aber zugestandene und bewiesene Umstände zu berücksichtigen. Jeder Halter hat dabei die Umstände zu beweisen, die dem anderen zum Verschulden gereichen und aus denen er für die nach § 17 Abs. 1 und 2 StVG vorzunehmende Abwägung für sich günstige Rechtsfolgen herleiten will. Nur vermutete Tatbeiträge oder die bloße Möglichkeit einer Schadensverursachung aufgrund geschaffener Gefährdungslage haben deswegen außer Betracht zu bleiben (ständige Rechtsprechung des BGH, Urteil vom 21.11.2006, VI ZR 115/05, NJW 2007, 506; Urteil vom 27.06.2000, VI ZR 126/99, NJW 2000, 3069; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 26.07.2018, 1 U 117/17, Juris Rn. 5). Die jeweils ausschließlich unstreitigen oder nachgewiesenen Tatbeiträge müssen sich zudem auf den Unfall ausgewirkt haben. Der Beweis obliegt demjenigen, welcher sich auf einen in die Abwägung einzustellenden Gesichtspunkt beruft (BGH, Urteil vom 13.02.1996, VI ZR 126/95, NZV 1996, 231, 232; OLG Dresden, Urteil vom 25.02.2020, 4 U 1914/19, Juris Rn. 4 m.w.N.).
Die vorstehenden Grundsätze gelten für die Beurteilung der Haftung zwischen Kraftfahrzeughaltern und -führern einerseits und Radfahrern andererseits im Rahmen der § 9 StVG, § 254 Abs. 1 BGB entsprechend. Danach kann die Abwägung auch zum vollständigen Ausschluss des Ersatzanspruchs aus § 7 Abs. 1 StVG führen, wenn das Verschulden des geschädigten Radfahrers derart überwiegt, dass die vom Schädiger ausgehende Ursache völlig zurücktritt (vgl. die Entscheidung des Senats vom 27.04.2023, Az. 7 U 214/22, NJW-RR 2023, 1334, Beck-Online Rn. 21). So liegt es hier. Durch ihre mehrfachen Verstöße gegen Verkehrsregeln hat die Klägerin grob gegen die Sorgfaltsanforderungen beim Linksabbiegen mit dem Fahrrad verstoßen. Sie hat zwar zunächst Blickkontakt zur nachfolgenden Fahrzeugführerin aufgenommen, es sodann jedoch bei der Erkenntnis, von dieser gesehen worden zu sein, bewenden lassen. Anschließend ist sie – entsprechend den v.g. Feststellungen – unter Missachtung der für sie geltenden Pflichten – doppelte Rückschau, rechtzeitiges Handzeichen und rechtzeitiges Einordnen – direkt vom rechten Fahrbahnrand aus abgebogen. Die Beklagte zu 1) hingegen ist ohne eigenen (nachweislichen) Verkehrsverstoß und unter erheblicher Reduzierung ihrer Geschwindigkeit an der Klägerin vorbeigefahren, als es zur Kollision kam. Die Klägerin haftet danach für die ihr entstandenen Folgen des Unfalls allein.
Nach alledem hat die Berufung der Klägerin offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg.