OBERLANDESGERICHT HAMM
Az.: 3 U 59/01
Verkündet am 28. November 2001
Vorinstanz: LG Münster – Az.: 11 O 1066/99
In dem Rechtsstreit hat der 3. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Hamm auf die mündliche Verhandlung vom 28. November 2001 für R e c h t erkannt:
Auf die Berufung der Kläger wird das am 15. Februar 2001 verkündete Urteil der 11. Zivilkammer des Landgerichts Münster teilweise, abgeändert.
Die Klage ist hinsichtlich der Klageanträge 1. b) bis e) der Klageschrift vom 26. August 1999 dem Grunde nach gerechtfertigt. Zur Entscheidung über die Höhe wird die Sache unter teilweiser Aufhebung des landgerichtlichen Urteils an das Landgericht zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlußurteil des Landgerichts vorbehalten.
Tatbestand
Die Kläger sind Ehemann und Tochter der am 12.06.1973 geborenen und am 29.03.1999 verstorbenen Frau X.
Die Beklagten zu 2) und 3) betreiben eine gynäkologische Gemeinschaftspraxis. Die ehemalige Beklagte zu 1) und spätere Zeugin war in dem hier in Rede stehenden Zeitraum als Weiterbildungsassistent in der Gemeinschaftspraxis der Beklagten zu 2) und 3) tätig.
Am 01.04.1997 suchte Frau X die Gemeinschaftspraxis der Beklagten auf, wobei der Anlaß streitig ist. Frau X wurde zunächst von der ehemaligen Beklagten zu 1) untersucht. Diese ertastete bei Frau X einen Knoten in der rechten Brust und einen weiteren Knoten in der rechten Achselhöhle. Sodann führte sie eine diesbezügliche Ultraschalluntersuchung durch, wonach sich die Diagnose stellte, daß es sich bei den vorbefundenen Knoten um Zysten handele. Um sich zu vergewissern, zog, sie den Beklagten zu 2) hinzu. Dieser nahm vermutlich eine eigene Befundung des Ultraschallbildes auf dem Monitor vor und bestätigte Frau X, daß es sich bei den Knoten um gutartige und nicht besorgniserregende Verkapselungen handele. Ob die Beklagten zu 1) und 2) Frau X weitere Empfehlungen zur Verlaufs- und Nachkontrolle gaben, ist streitig. Unstreitig verwendeten die Beklagten zu 1) und 2) bei der Sonographie einen Linearschallkopf mit 3,5 MHz.
Am 02.07.1997 suchte Frau X die Gemeinschaftspraxis erneut auf. Nach den Krankenunterlagen erfolgte an diesem Tag nur eine Blutentnahme für laborchemische Untersuchungen im Zusammenhang mit einer Frühschwangerschaft. Am 14.07.1997 fand die zugehörige Untersuchung von Frau X durch die Beklagte zu 3) statt. Als Termin der letzten Regelblutung wurde in den Krankenunterlagen der 29.05.1997 notiert. Eine Kontrolle des Brustbefundes fand an diesem Tag nicht statt.
Am 18.08.1997 erfolgte die nächste Kontrolluntersuchung, welche wiederum durch die Beklagte zu 3) durchgeführt würde. Dabei gab Frau Brustbeschwerden rechts an und erklärte, daß die „Zysten“ größer geworden seien. Die sonographische Brustuntersuchung ergab einen etwas uneben konturierten, echoamen Brusttumor rechtsseitig von 3,3 x,2,4 x 2,4 cm Größe. Getastet wurde ein etwas unebener Tumor, der sehr dolent war. In der rechten Axilla (Achselhöhle) wurde ein unverändert 1 cm großer Tumor diagnostiziert. Es erfolgte eine Überweisung an den gynäkologischen Fachkollegen Dr. A in Q. Dieser nahm am 15.08.1997 eine detaillierte Brustuntersuchung vor und stellte folgende Diagnose:
„Ausgedehntes multifokales Mamma-Karzinom mit ausgedehnter Lymphknotenmetastasierung“.
Am 26.08.1997 wurde Frau X in der Universitätsklinik angemeldet. Dort wurde am 28,08.1997 die rechte Brust entfernt und aus der rechten Achselhöhle mehrere infiltrierende Lymphknöten entnommen. Das Ergebnis der histologischen Aufarbeitung des Operationspräparats lautete: Gering differenziertes invasiv-duktales Mamma-Karzinom von 3,5 cm Durchmesser, daneben 5 mm vom Haupttumor entfernt ein weiterer eben solcher Tumorknoten von 3 mm Durchmesser; in 14 der 26 extirpierten Lymphknoten fanden sich metastatische Tumorinfiltrate.
Am 05.09.1997 wurde die Schwangerschaft in der 13. Woche aus der mütterlichen Indikation abgebrochen. Postoperativ erfolgten eine Nachbestrahlung und eine adjuvante Hochdosischemotherapie. Diese Bemühungen hatten keinen Erfolg. Im Sommer 1998 zeigte sich ein Rezidiv des Tumorleidens. Am 29.09.1998 wurde Frau X die rechte Brust entfernt. Unter dem 09.12.1998 erließ die zwischenzeitlich eingeschaltete Gutachterkommissiön für ärztliche Haftpflichtfragen bei der Ärztekammer Westfalen-Lippe ihren gutachterlichen Bescheid, wonach die diagnostische Behandlung der Antragstellerin als fehlerhaft bewertet worden war. Wenige Monate später – am 29.03.1999 – verstarb Frau X.
Die Kläger haben die Beklagten auf Zahlung eines Schmerzensgeldes – Vorstellung: 150.000,00 DM – und Ersatz materieller Schäden in Anspruch genommen. Sie haben behauptet, daß Frau X durch die Beklagten in mehrfacher Hinsicht grob fehlerhaft behandelt worden sei. Die Knoten in der rechten Brust und der Achselhöhle seien nicht abgeklärt worden. Wäre das Karzinom bereits am 01.04.1997 erkannt und entsprechend behandelt worden, sei nicht auszuschließen, daß es nicht zu dem tödlichen Ausgang der Erkrankung gekommen wäre. Die Beklagten haben behauptet, Frau Xam 01.04.1997 empfohlen zu haben, den weiteren Verlauf der Resistenzen in ihrer rechten Brust genau zu beobachten und sich nach der nächsten Regelblutung sofort wieder vorzustellen. Dies habe sie nicht getan und auch am 14.07.1997 gegenüber der Beklagten zu 3) eine Vergrößerung der „Zysten“ nicht erwähnt. Wegender Einzelheiten des erstinstanzlichen Parteivorbringens und der in erster Instanz gestellten Anträge wird auf den Tatbestand des landgerichtlichen Urteils verwiesen.
Das Landgericht hat nach Einholung eines Gutachtens den Klägern ein Schmerzensgeld von 140.000,00 DM zugesprochen und die materielle Schadensersatzklage mit der Begründung abgewiesen, daß es sich hierbei um Sekundärschäden handele, für die die Beweislastumkehr nicht eingreife.
Gegen dieses Urteil wenden sich die Kläger mit der Berufung und beantragen,
abändernd
1. die Beklagten zu 2) und 3) als Gesamtschuldner zu verurteilen,
a) –
b) an den Kläger zu 1) einen Betrag in Höhe von 44.859,69 DM nebst 4 % Jahreszinsen seit Rechtshängigkeit zu zahlen,
c) an den Kläger zu 1) ab August 1999 eine jeweils im Voraus bis zum 3. eines Monats fällige Haushaltsführungsrente von 1.138,80 DM zu zahlen;
d) an die Klägerin zu 2) zu Händen des Klägers zu 1) einen Betrag von 19.996,93 DM nebst 4 % Jahreszinsen seit Rechtshängigkeit zu zahlen;
e) an die Klägerin zu 2) zu Händen des Klägers zu 1) ab August 1999 eine jeweils im Voraus bis zum 3. eines jeden Monats fällige Haushaltsführungsrente von 876,00 DM zu zahlen;
2. hilfsweise Vollstreckungsnachlaß.
Die Beklagten beantragen,
1. die gegnerische Berufung kostenpflichtig zurückzuweisen;
2. hilfsweise Vollstreckungsnachlaß.
Die Parteien wiederholen, vertiefen und ergänzen ihren erstinstanzlichen Vortrag. Wegen der Einzelheiten ihres Vorbringens in der Berufungsinstanz wird auf die in dieser Instanz gewechselten Schriftsätze mit ihren Anlagen Bezug genommen.
Der Senat hat den Kläger zu 1), die Beklagten zu 2) und 3) angehört, die Zeugen und Dr. S uneidlich vernommen sowie den Sachverständigen Prof. Dr. A sein schriftliches Gutachten im Senatstermin erläutern lassen. Insoweit wird auf den Vermerk des Berichterstatters zum Senatstermin vom 28.11.2001 verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Kläger war erfolgreich.
Über das vom Landgericht tenorierte, nicht angegriffene, Schmerzensgeld haben die Kläger gegen die Beklagten zu 2) und 3) auch Anspruch auf Ersatz der materiellen Schäden gemäß §§ 823, 844, 831 i.V.m. § 1922 BGB und aus einer schuldhaften Verletzung von Sorgfaltspflichten des Behandlungsvertrages.
Das Landgericht ist zutreffend davon ausgegangen, daß sowohl der Beklagte zu 2) als auch die Beklagte zu 3) die verstorbene Frau X grob fehlerhaft behandelt haben. Insoweit wird zunächst zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Entscheidungsgründe der angefochtenen Entscheidung gemäß § 543 Abs. 1 ZPO verwiesen. Auch die erneute Beweisaufnahme durch den Senat hat diesen groben Behandlungsfehlender Beklagten zu 2) und 3) bestätigt. In der Beurteilung des Behandlungsgeschehens macht sich der Senat die Feststellungen des Sachverständigen Prof. Dr. A sein Gutachten überzeugend erläutert hat und dem Senat seit vielen Jahren als sachkundig und erfahren bekannt ist, zu eigen. Danach hätten sowohl der Beklagte zu 2) als auch die Beklagte zu 3) den erhobenen und dokumentierten Tastbefund auf die Verdachtsdiagnose eines Mamma-Karzinoms abklären müssen. Daran fehlt es. Diese Verstöße wertet der Senat als grob, weil es sich, so der Sachverständige Prof. Dr. A um eindeutige Verstöße gegen bewährte ärztliche Behandlungsregeln und um solche Fälle handele, die aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheinen. Einem Facharzt für Geburtshilfe und Gynäkologie dürfen solche Fehler schlechterdings nicht unterlaufen. Es ist auch evident grob fehlerhaft, wenn ein suspekter Tastbefund mit dem Verdacht auf einen bösartigen Tumor nicht abgeklärt wird. Daß dieser Befund abgeklärt worden ist oder abgeklärt werden sollte, haben die Beklagten nicht bewiesen. Keiner der Zeugen hat konkrete Angaben dazu gemacht, daß Frau X zur Kontrolluntersuchung einbestellt worden ist. Dies ließ sich auch nicht der Dokumentation entnehmen.
Wäre das Karzinom bereits einige Tage nach dem 01.04. oder 14.07.1997 festgestellt worden, hätte die erst am 28.08.1997 tatsächlich durchgeführte Operation früher erfolgen können. Der Krankheitsverlauf bei der Ehefrau des Klägers zu 1) und Mutter der Klägerin zu 2) und ihr Tod am 29.03.1999 sind als Folge der Fehlbehandiung durch die Beklagten zu 2) und 3) anzusehen, weil beide Beklagten aus den bereits erwähnten Gründen ein grober Behandlungsfehler anzulasten ist. Die Beklagten tragen die Beweislast dafür, daß diese Fehler nichtursächlich für die zum Tod führende Krankheitsentwicklung gewesen sind.
Nach Auffassung des Senats steht nicht fest, daß der Krankheitsverlauf gleich verlaufen wäre, wenn Frau X etwa Mitte April oder Mittel Juli 1997 operiert worden wäre. Beim Vorliegen eines groben Behandlungsfehlers ist die Umkehr der Beweislast ein Ausgleich dafür, daß das Spektrum der für die Schädigung in Betracht kommenden Ursachen gerade durch den Fehler besonders verbreitert bzw. verschoben worden ist (Steffen/Dressler, Arzthaftungsrecht, B. Auflage Rn. 515). Dabei kommt es nach Auffassung des Senats nicht entscheidend auf Statistiken, sondern auf die Chancen des Verlaufs beim jeweiligen Patienten an (Senat Urteil vom 24.02.1999 – 3 U 73/98, NA-Beschluß des BGH vom 25.01.2000 – VI ZR 118/99).
Der Sachverständige Prof. Dr. A hat zur Überzeugung des Senats dargelegt, daß Frau X eine Überlebenschance gehabt hätte. Selbst nach der Statistik hätte Frau X – auch bei einem Befall von mehr als 4 Lymphknoten – noch zu den 13 % Patienten gehört, die bei dieser Tumorbeschaffenheit noch 10 Jahre hätten leben können. Nach Auffassung des Senats ist diese Frage auch durch den fachkundigen Sachverständigen Prof. Dr. A überzeugend beantwortet worden. Dabei hat sich der Senat vergegenwärtigt, daß grundsätzlich auf die Fachkenntnisse des Sachverständigen aus dem betreffenden medizinischen Fachgebiet abzustellen ist (vgl. Senat, Urteil vom 26.01.2000 – 3 U 100/99, NA-Beschluß des BGH vom 24.10.2000 – VI ZR 129/00). Dieses wäre hier das Fachgebiet der Onkologie gewesen. Prof. Dr. A verfügt auch auf diesem Fachgebiet, wie dem Senat bekannt ist und insbesondere der Umstand zeigt, daß Prof. Dr. A über mehrere Jahre Vorsitzender des Tumorzentrums in Osnabrück gewesen ist, über hinreichende Kenntnisse, um die hier relevante Fragestellung – wie geschehen – beantworten zu können.
Der geltend gemachte bezifferte materielle Schadensersatzanspruch gegen die Beklagten zu 2) und 3) besteht dem Grunde nach. Der haftungsbegründende materielle Primärschaden ist in dem frühen Tod der Patientin zu sehen. Entscheidend für die Beurteilung des Primärschadens ist, daß die Heilungschance für die Patientin nicht gewahrt worden ist. Dies geht beweisrechtlich zu Lasten der fehlerhaft handelnden Ärzte (vgl. Senat, Urteil vom 24.02.1999 – 3 U 73/98 -, NA-Beschluß BGH vom 25.01.2000 – VI ZR 118/99).
Wegen der Höhe der geltend gemachten Zahlungsansprüche war die nicht entscheidungsreife Sache gemäß § 538 Abs. 1 Ziffer 3 ZPO an das Landgericht zurück zu verweisen, das den nach Grund und Höhe streitigen materiellen Anspruch der Kläger als unbegründet abgewiesen hat. Eine eigene Sachentscheidung im Sinne von § 540 ZPO hält der Senat nicht für sachdienlich. Die Beweisaufnahme auch zur Schadenshöhe vor dem Senat durchzuführen, erschien weder zweckmäßig noch liegt das hier im Interesse der Parteien an der Wahrnehmung der Sachaufklärungsmöglichkeit von zwei Instanzen.
Das Urteil beschwert sowohl die Kläger als auch die Beklagten zu 2) und 3) jeweils mit mehr als 60.000,00 DM.