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Behandlungsfehler (grober) – Voraussetzungen

BGH

Az: VI ZR 139/10

Urteil vom 25.10.2011


Leitsatz:

Ein Behandlungsfehler ist als grob zu bewerten, wenn der Arzt eindeutig gegen bewährte ärztliche Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse verstoßen und einen Fehler begangen hat, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf.


Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 25. Oktober für Recht erkannt:

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 8. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 18. Mai 2010 aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

Der 1956 geborene und während des Revisionsverfahrens am 29. November 2010 verstorbene vormalige Kläger (künftig: Kläger), der von seiner Tochter, der jetzigen Klägerin allein beerbt worden ist, litt am Abend des 18. November 2002 beim Sport an Schmerzen im Brustraum, Atemnot, Schwindelgefühl und Erbrechen. Der herbeigerufene Hausarzt alarmierte einen Notarzt, der nach einem EKG einen Myokardinfarkt diagnostizierte und den Kläger in das von der Beklagten geführte Krankenhaus einwies, wo er am 19. November 2002 kurz nach Mitternacht aufgenommen wurde. Unmittelbar nach der Einlieferung erhob die Ärztin Dr. B. Befunde, darunter auch wiederum ein EKG, diagnostizierte ebenfalls einen Myokardinfarkt, entschied sich für eine medikamentöse Behandlung und ordnete für den späteren Morgen des Tages eine Herzkatheteruntersuchung und eine Koronarangiographie an. Eine Fibrinolyse unterblieb zunächst. Im Verlaufe der Nacht litt der Kläger um 2.30 Uhr wieder unter Schmerzen, woraufhin Frau Dr. B. ein weiteres EKG erheben ließ. Zwischen 8.49 Uhr und 9.37 Uhr führte der Oberarzt Dr. G. eine Echokardiographie und eine Koronarangiographie durch. Er diagnostizierte einen akuten Hinterwandinfarkt und eine Postinfarktangina. Er ordnete eine lokale Lyse und eine Fortführung der Aggrastat- und Heparintherapie an.

Die Klägerin macht geltend, ihr Vater sei von Frau Dr. B. fehlerhaft behandelt worden, weil keine sofortige Fibrinolysetherapie (medikamentöse Auflösung von Blutgerinnseln) durchgeführt worden sei. Wäre sie sogleich nach der Einlieferung und nicht erst am Morgen durchgeführt worden, so wäre das thrombotisch verschlossene Infarktgefäß wieder eröffnet und das Herzmuskelgewebe vor irreversiblen Schädigungen bewahrt worden.

Das Landgericht hat die auf Zahlung eines Schmerzensgeldes, materiellen Schadensersatz und Feststellung der Ersatzpflicht für künftige weitere materielle und immaterielle Schäden gerichtete Klage abgewiesen. Die hiergegen gerichtete Berufung hat das Oberlandesgericht zurückgewiesen. Mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin das Klagebegehren weiter.

Entscheidungsgründe

I.

Das Berufungsgericht stellt fest, dass der Ärztin Dr. B. ein vorwerfbarer Behandlungsfehler unterlaufen sei, weil die Durchführung einer sofortigen Fibrinolyse nach der Einlieferung des Klägers „zwingend indiziert“ gewesen sei. Es sieht sich jedoch gleichwohl außerstande, die notwendige Kausalität dieses Fehlers für die behaupteten Beeinträchtigungen feststellen zu können. Zwar habe die unterlassene Therapie grundsätzlich gute Chancen gehabt, den Zustand des Erblassers zu verbessern, positiv feststellen lasse sich ein günstigerer Verlauf bei unterstellter Lysetherapie zur Überzeugung des Berufungsgerichts jedoch nicht. Eine Beweislastumkehr wegen eines groben Behandlungsfehlers komme dem Kläger nicht zugute. Der Sachverständige habe nicht die Wertung getroffen, dass das eindeutig fehlerhafte Vorgehen aus objektiver ärztlicher Sicht nicht mehr verständlich erscheine, da Frau Dr. B. immerhin ein Behandlungskonzept verfolgt habe, welches auf einer Fehleinschätzung hinsichtlich der – tatsächlich nicht anzunehmenden – spontanen Wiedereröffnung der verschlossenen Gefäße einerseits und der Risiken einer Fibrinolyse andererseits beruht habe.

II.

Die Beurteilung des Berufungsgerichts hält einer revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand.

1. Die Revision wendet sich mit Erfolg gegen die Beurteilung des Berufungsgerichts, dem Kläger komme eine Beweislastumkehr wegen eines groben Behandlungsfehlers nicht zu Gute.

a) Zwar richtet sich die Bewertung eines ärztlichen Fehlverhaltens als grob nach den gesamten Umständen des Einzelfalls, deren Würdigung weitgehend im tatrichterlichen Bereich liegt. Revisionsrechtlich ist jedoch sowohl nachzuprüfen, ob das Berufungsgericht den Begriff des groben Behandlungsfehlers verkannt, als auch, ob es bei der Gewichtung dieses Fehlers erheblichen Prozessstoff außer Betracht gelassen oder verfahrensfehlerhaft gewürdigt hat (st. Rspr.; vgl. etwa Senatsurteile vom 28. Mai 2002 – VI ZR 42/01, VersR 2002, 1026, 1027; vom 27. März 2007 – VI ZR 55/05, BGHZ 172, 1 Rn. 24; vom 16. Juni 2009 – VI ZR 157/08, VersR 2009, 1267 Rn. 8 und vom 20. September 2011 – VI ZR 55/09, […] Rn. 8). Solche Rechtsfehler liegen hier vor.

b) Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass ein Behandlungsfehler nur dann als grob zu bewerten ist, wenn der Arzt eindeutig gegen bewährte ärztliche Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse verstoßen und einen Fehler begangen hat, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf (Senatsurteile vom 27. April 2004 – VI ZR 34/03, BGHZ 159, 48, 53; vom 27. März 2007 – VI ZR 55/05, BGHZ 172, 1 Rn. 25; vom 16. Juni 2009 – VI ZR 157/08, VersR 2009, 1267 Rn. 15; Beschluss vom 22. September 2009 – VI ZR 32/09, VersR 2010, 72 Rn. 6 und vom 20. September 2011 – VI ZR 55/09, […] Rn. 10).

c) Es hat aber nicht hinreichend beachtet, dass die Beurteilung, ob ein Behandlungsfehler als grob oder nicht grob einzustufen ist, eine juristische Wertung ist, die dem Tatrichter und nicht dem Sachverständigen obliegt, und darüber hinaus den Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt. Zwar muss die Bewertung eines Behandlungsgeschehens als grob fehlerhaft in den Ausführungen eines Sachverständigen ihre tatsächliche Grundlage finden; sie darf auch keinesfalls entgegen dessen fachlichen Ausführungen bejaht werden (Senatsurteile vom 25. November 2003 – VI ZR 8/03, VersR 2004, 645, 647; vom 12. Februar 2008 – VI ZR 221/06, VersR 2008, 644, 645; Beschluss vom 9. Juni 2009 – VI ZR 261/08, VersR 2009, 1406, 1408). Das bedeutet aber nicht, dass der Richter die Bewertung dem Sachverständigen überlassen und nur die seltenen Fälle, in denen dieser das ärztliche Verhalten als nicht nachvollziehbar bezeichnet, als grob werten darf. Vielmehr hat der Tatrichter darauf zu achten, ob der Sachverständige in seiner Würdigung einen Verstoß gegen elementare medizinische Erkenntnisse oder elementare Behandlungsstandards oder lediglich eine Fehlentscheidung in mehr oder weniger schwieriger Lage erkennt (vgl. Senatsbeschluss vom 9. Juni 2009 – VI ZR 261/08, aaO). Distanziert sich der Sachverständige einerseits deutlich vom Vorgehen des Arztes, hält er es aber andererseits noch für nachvollziehbar, so hat der Tatrichter die Äußerungen des Sachverständigen kritisch zu hinterfragen und sowohl den für eine solche Behandlung geltenden Sorgfaltsmaßstab als auch die tatsächlichen Voraussetzungen eines groben Behandlungsfehlers – ggf. erneut – mit dem Sachverständigen zu erörtern (vgl. Senatsbeschluss vom 9. Juni 2009 – VI ZR 261/08, aaO). Andernfalls bietet der erhobene Sachverständigenbeweis keine ausreichende Grundlage für die tatrichterliche Überzeugungsbildung (vgl. Senatsurteil vom 12. Februar 2008 – VI ZR 221/06, VersR 2008, 644, 645 mwN).

aa) Im Streitfall hat der Sachverständige die sofortige Durchführung einer Fibrinolyse nach Einlieferung des Klägers für zwingend indiziert gehalten. Auch unter Berücksichtigung der Umstände, die die Beklagte zur Verteidigung für das Zuwarten von Frau Dr. B. angeführt habe, sei eine sofortige Fibrinolyse zwingend geboten gewesen. Die EKG-Veränderungen und das verbesserte klinische Bild seien als typische Wirkung der stattgefundenen Medikation zu verstehen, die es keinesfalls gerechtfertigt hätten, eine andere als die sofortige Fibrinolysebehandlung durchzuführen, sofern – wie hier – keine primäre Koronarangioplastie im Rahmen einer Herzkatheteruntersuchung vorgenommen werde.

Anhaltspunkte dafür, dass die verstopften Herzgefäße bereits in einem Umfang wiedereröffnet gewesen seien, der eine Fibrinolyse entbehrlich erscheinen lassen könnte, habe es entgegen der Auffassung der Beklagten nicht gegeben. Vielmehr hätte eine – zur Absicherung der behaupteten Diagnose von Frau Dr. B. gebotene – Untersuchung des Herzens mittels Ultraschall den fortdauernden Gefäßverschluss gezeigt. Dementsprechend habe der Oberarzt noch am Morgen nach der Einlieferung des Klägers die Fibrinolyse angeordnet.

bb) Bei dieser Sachlage hätte das Berufungsgericht die Wertung des Sachverständigen, das eindeutig fehlerhafte Vorgehen der Beklagten sei noch verständlich, nicht ohne weiteres übernehmen dürfen. Der Sachverständige hat das Vorgehen der Beklagten für nachvollziehbar gehalten, weil die Beklagte ein Behandlungskonzept verfolgt habe, das auf einer Fehleinschätzung hinsichtlich der – tatsächlich nicht anzunehmenden – spontanen Wiedereröffnung der verschlossenen Gefäße beruht habe. Anhaltspunkte, die aus medizinischer Sicht für das konkrete Verhalten sprachen und es damit aus objektiver Sicht nachvollziehbar erscheinen lassen, hat er hingegen nicht aufgezeigt. Er hat im Gegenteil darauf hingewiesen, dass Anhaltspunkte für eine Wiedereröffnung der verschlossenen Herzkranzgefäße nicht gegeben waren. Bei dieser Sachlage liegt es nahe, dass der Sachverständige bei der Bewertung des Gewichts des ärztlichen Fehlverhaltens maßgeblich auf den Grad der subjektiven Vorwerfbarkeit abgestellt hat. Auf die subjektive Vorwerfbarkeit kommt es aber nicht an. Die Annahme einer Beweislastumkehr nach einem groben Behandlungsfehler ist keine Sanktion für ein besonders schweres Arztverschulden, sondern knüpft daran an, dass die Aufklärung des Behandlungsgeschehens wegen des Gewichts des Behandlungsfehlers und seiner Bedeutung für die Behandlung in besonderer Weise erschwert worden ist, so dass der Arzt nach Treu und Glauben dem Patienten den Kausalitätsbeweis nicht zumuten kann. Erforderlich aber auch genügend ist deshalb ein Fehlverhalten, das nicht aus subjektiven, in der Person des handelnden Arztes liegenden Gründen, sondern aus objektiver ärztlicher Sicht nicht mehr verständlich erscheint (vgl. Senatsurteil vom 26. November 1991 – VI ZR 389/90, VersR 1992, 238, 239 mwN). Hierauf hätte das Berufungsgericht den Sachverständigen hinweisen und seine Einschätzung kritisch hinterfragen müssen.

cc) Auch die von der Beklagten im Verlaufe des Rechtsstreits behauptete Einschaltung des Hintergrunddienstes war aus objektiver Sicht nicht geeignet, die behandelnde Ärztin zu entlasten und von der nach Einschätzung des Sachverständigen „zwingend“ gebotenen sofortigen Fibrinolyse Abstand zu nehmen. Denn der Gerichtssachverständige hat hierzu erklärt, wenn es um die Auswertung eines EKG gehe, könne bei einer Sache wie der hier vorliegenden der Hintergrunddienst eigentlich gar nichts sagen, ohne das EKG gesehen zu haben. Dies war aber nach dem eigenen Vorbringen der Beklagten nicht der Fall.

2. Das Berufungsgericht wird deshalb erneut zu prüfen haben, ob das Absehen von einer sofortigen Lysebehandlung als grober Behandlungsfehler zu bewerten ist. Dabei wird es gegebenenfalls auch Gelegenheit haben, sich mit den weiteren Einwänden der Revision zu befassen.

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