OLG Düsseldorf – Az.: 4 U 104/96 – Urteil vom 30.09.1997
Tatbestand
Die Parteien streiten über den Fortbestand eines Krankenversicherungsvertrages und die Verpflichtung der Beklagten zur Zahlung von Krankentagegeld.
Der Kläger war bis zum 30.6.1995 Geschäftsstellenleiter der P. in G. Die P. und die Beklagte arbeiten zusammen; die Beklagte bezeichnet sich als „Die private Krankenversicherung öffentlicher Versicherungen”.
Seit dem 1.4.1984 bestand zwischen den Parteien ein Krankenversicherungsvertrag, der aus Vereinbarungen über eine Krankheitskostenversicherung, Krankenhaustagegeld und Krankentagegeld bestand. Mit Wirkung zum 1.1.1995 wurde eine Pflegepflichtversicherung vereinbart. Die monatliche Versicherungsprämie belief sich zuletzt auf 338,63 DM.
Seit Dezember 1994 lag bei dem Kläger ausweislich von dem behandelnden Arzt Dr. med. A. unterschriebener Bescheinigungen Arbeitsunfähigkeit vor. Nach Ablauf einer Karenzzeit von 22 Tagen zahlte die Beklagte Krankentagegeld in Höhe von 100 DM täglich bis zum 19.4.1995.
Vom 8.5. bis zum 19.5.1995 verbrachte der Kläger einen Urlaub in Portugal. Auch für diesen Zeitraum übersandte er der Beklagten zuvor eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung.
Mit Schreiben vom 29.5.1995 teilte die Beklagte dem Kläger folgendes mit:
„… Wie wir inzwischen erfahren haben, waren Sie während Ihrer Arbeitsunfähigkeit mehrfach in Urlaub. Dennoch meldeten Sie uns diese Abwesenheitszeiten nicht. Vielmehr beanspruchten Sie auch für diese Zeiträume Krankentagegeld, obwohl Ihnen bekannt ist, daß Sie hierauf keinen Anspruch haben.
Da dieses Verhalten der Versichertengemeinschaft auf Dauer nicht zumutbar ist, kündigen wir den Krankenversicherungsvertrag mit sofortiger Wirkung. …”
Unter dem 10.7.1995 bat der Kläger die Beklagte um eine Änderung der vereinbarten Tarife mit der Begründung, er habe zum 1.7.1995 eine versicherungspflichtige Beschäftigung als Angestellter begonnen.
Mit Schreiben vom 8.9.1995 kündigte die Beklagte die Pflegepflichtversicherung zum 31.12.1995.
Der Kläger hat die Ansicht vertreten, die von der Beklagten ausgesprochene Kündigung sei unwirksam.
Das Landgericht hat nach Einholung einer schriftlichen Auskunft des Arztes Dr. med. A. und nach Vernehmung der Zeugen Z. und S. festgestellt, daß die durch die Beklagte mit Schreiben vom 29.5.1995 und vom 8.9.1995 ausgesprochenen Kündigungen unwirksam sind und der Krankenversicherungsvertrag fortbesteht.
Die Berufung der Beklagten blieb ohne Erfolg.
Entscheidungsgründe
1. Zutreffend hat das Landgericht festgestellt, daß die Kündigungen der Beklagten vom 29.5. und vom 8.9.1995 unwirksam sind und der Krankenversicherungsvertrag fortbesteht. Die Beklagte war nicht berechtigt, den Versicherungsvertrag zu kündigen.
a) Ein ordentliches Kündigungsrecht stand der Beklagten nicht zu. Dem Versicherungsverhältnis liegen die MB/KK, die MB/KT und die Tarifbedingungen der Beklagten in der vom Kläger vorgelegten Fassung zugrunde. Nach § 14 Abs. 1 MB/KK hat die Beklagte auf das ordentliche Kündigungsrecht in der Krankheitskostenversicherung verzichtet. Nach den Tarifbedingungen zu § 14 Abs. 1 MB/KT hat die Beklagte darüber hinaus auch auf das ordentliche Kündigungsrecht in der Krankentagegeldversicherung verzichtet, wenn – wie hier – neben der Tagegeldversicherung Krankheitskostenversicherungsschutz für ambulante und stationäre Behandlung besteht.
b) Die Beklagte kann sich nicht mit Erfolg auf ein außerordentliches Kündigungsrecht berufen.
Gemäß § 14 Abs. 3 MB/KK und § 14 Abs. 2 MB/KT bleiben die gesetzlichen Bestimmungen über das außerordentliche Kündigungsrecht unberührt. Bei einem Krankenversicherungsvertrag handelt es sich um ein Dauerschuldverhältnis. Derartige Schuldverhältnisse können aus wichtigem Grund gekündigt werden, wenn das Vertrauensverhältnis durch Handlungen eines Vertragspartners so nachhaltig gestört ist, daß dem anderen Vertragspartner das Festhalten am Versicherungsvertrag nicht mehr zuzumuten ist. Dieses Kündigungsrecht beruht auf dem Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) und erfordert eine Interessenabwägung, in die auch die soziale Funktion der privaten Krankenversicherung einzubeziehen ist.
Denn die Möglichkeit der Vertragsauflösung steht im Widerstreit zur sozialen Funktion der privaten Krankenversicherung, die für weite Bevölkerungskreise zum Ersatz für fehlenden Sozialversicherungsschutz geworden ist. Ein wichtiger Grund zur Kündigung liegt deshalb sowohl für die Kranken- als auch für die Krankentagegeldversicherung erst dann vor, wenn der Versicherungsnehmer in besonders schwerwiegender Weise die Belange des Versicherers seinem Eigennutz hintanstellt, insbesondere wenn er sich Versicherungsleistungen erschleichen will (BGH VersR 1985, 54, 55). Eine solche besonders schwerwiegende Pflichtverletzung des Klägers, aufgrund derer der Beklagten die Fortführung des Vertragsverhältnisses nicht zuzumuten wäre, liegt nicht vor. Entgegen der Ansicht der Beklagten stellt eine möglicherweise unterlassene Mitteilung des Klägers hinsichtlich eines Auslandsurlaubs in der Zeit vom 8. bis 19.5.1995 keine derartige Pflichtverletzung dar.
Allerdings ist davon auszugehen, daß der Auslandsaufenthalt für die Leistungspflicht der Beklagten grundsätzlich von Bedeutung war. Gemäß § 1 Abs. 6 S. 1 MB/KT erstreckt sich der Versicherungsschutz auf Deutschland, und nach Satz 2 wird Krankentagegeld bei Aufenthalt im europäischen Ausland nur dann gezahlt, wenn dort eine Krankheit akut eintritt. Der Kläger, der nicht in Portugal akut erkrankt ist, sondern im Zustand krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit die Reise angetreten hat, kann daher, wie die Beklagte zu Recht vorträgt, für die Zeit seines Urlaubs in Portugal kein Krankentagegeld beanspruchen. Diese Regelung ist nicht gemäß § 9 AGBG unwirksam (vgl. OLG München VersR 1988, 1146, 1147). Der Versicherer hat ein berechtigtes Interesse daran, im Fall geltend gemachter Arbeitsunfähigkeit Kontrollen durchzuführen, insbesondere kann er gemäß § 9 Abs. 3 MB/KT verlangen, daß sich die versicherte Person ärztlich untersuchen läßt. Die Ausübung dieser Befugnisse durch den Versicherer ist erheblich erschwert, wenn sich der Versicherungsnehmer im Ausland aufhält und nur eingeschränkt erreichbar ist.
Es kann dahinstehen, ob der Kläger die Beklagte angesichts der Bedeutung der Reise für den Anspruch auf Krankentagegeld ungefragt über den Auslandsaufenthalt vom 8. bis 19.5.1995 informieren mußte und ob die Beklagte sich eine mögliche Kenntnis des elftägigen Urlaubs der P.-Bezirksdirektion zurechnen lassen muß. Selbst wenn der Kläger die Beklagte entsprechend unterrichten mußte und er dieser Verpflichtung nicht nachgekommen ist, wiegt dieser mögliche Pflichtverstoß nicht so schwer, daß die Beklagte daraus ein außerordentliches Kündigungsrecht herleiten kann. Denn die Beklagte hat den Kläger trotz der zuvor aufgezeigten Bedeutung eines Aufenthaltes außerhalb Deutschlands zu keinem Zeitpunkt aufgefordert, einen Auslandsurlaub mitzuteilen. Auf den Arbeitsunfähigkeitsformularen der Beklagten befindet sich kein derartiger Hinweis.
Der Kläger hat auch nicht mehrfach oder wiederholt Krankentagegeld für Zeiten beansprucht, in denen er sich nicht in Deutschland befand, sondern nur für einen kurzen Aufenthalt von elf Tagen (für den 19.5.1995 steht dem Kläger Krankentagegeld zu, vgl. unten III.). Das Krankentagegeld für diesen Zeitraum beläuft sich rechnerisch auf 1.100 DM. Die Reise des Klägers im März 1994 in die USA kann in die Abwägung nicht zu Ungunsten des Klägers einbezogen werden. Unstreitig ist es für den Zeitraum dieses Urlaubs zu einer Auszahlung von Krankentagegeld schon deshalb nicht gekommen, weil der Kläger nicht arbeitsunfähig im Sinne des § 1 Abs. 3 MB/KT war. Dieser Auslandsaufenthalt ist daher für das Versicherungsverhältnis ohne Bedeutung geblieben.
Bei der Abwägung ist auch zu berücksichtigen, daß die kurze Erholungsreise vom 8. bis 19.5.1995 angesichts der Diagnose eines „psychophysischen Erschöpfungszustandes” der Genesung des Klägers dienen konnte und zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit beitragen konnte. Nach § 9 Abs. 4 MB/KT hat die versicherte Person für die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit zu sorgen. Im übrigen ist unstreitig, daß der behandelnde Arzt Dr. A. den Urlaub als positiv für die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit des Klägers beurteilt hat.
Im Falle einer Kündigung dürfte es für den weiterhin selbständig tätigen Kläger wegen seines Alters und seiner Vorerkrankungen sehr schwer werden, einen Krankenversicherer zu finden, der ihm angemessenen Versicherungsschutz bietet. Gegenüber diesen gravierenden Konsequenzen einer Kündigung für den Kläger tritt der mögliche Schaden der Beklagten in Höhe von 1.100 DM, der durch eine eventuelle Pflichtverletzung hätte eintreten können, deutlich zurück.
Schließlich kann nicht festgestellt werden, daß sich der Kläger Leistungen der Beklagten zu erschleichen versucht hat. Entgegen dem Vortrag der Beklagten kann nicht davon ausgegangen werden, daß der Kläger ihm nicht zustehende Leistungen in Kenntnis der Nichtberechtigung geltend gemacht hat. Für diese Behauptung hat die Beklagte keinen Beweis angeboten. Der Vortrag des Klägers, er habe nicht gewußt, daß er während eines Aufenthaltes im europäischen Ausland keinen Anspruch auf Krankentagegeld habe, ist nicht widerlegt. Aus der Tätigkeit als Geschäftsstellenleiter der V.-Versicherung folgt nicht, daß dem Kläger die Vorschriften der MB/KT im einzelnen bekannt waren. Er war unstreitig nicht nur mit der Vermittlung von Krankenversicherungsverträgen der Beklagten befaßt, sondern hat Verträge aus zahlreichen Versicherungssparten der P. vermittelt. Die Schulung durch die Beklagte erstreckte sich nicht auf Einzelheiten der Versicherungsbedingungen.
Der Umstand, daß der Mitarbeiter der Beklagten V. bei einem Besuch in der P.-Bezirksdirektion von der Reise nach Portugal erfahren hat, spricht im übrigen dagegen, daß der Kläger den Urlaub bewußt verschweigen wollte, um ihm nicht zustehende Leistungen zu erlangen. Wenn der Kläger sich vorsätzlich Krankentagegeld hätte erschleichen wollen und sich darüber im klaren gewesen wäre, daß ein Auslandsaufenthalt seinem Anspruch auf Krankentagegeld entgegensteht, ist anzunehmen, daß er Vorkehrungen getroffen hätte, damit die Beklagte von der zuständigen Bezirksdirektion nichts über die Reise erfährt. Angesichts der Zusammenarbeit zwischen der V.-Versicherung und der Beklagten mußte der Kläger damit rechnen, daß Mitarbeiter der Beklagten sich an die Bezirksdirektion wenden und dort von seinem Urlaub erfahren könnten.