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Leergutbons (Diebstahl) – Kündigung

Bundesarbeitsgericht

Az: 3 AZN 224/09

Beschluss vom 28.07.2009


In Sachen hat der Dritte Senat des Bundesarbeitsgerichts am 28. Juli 2009 beschlossen:

Auf die Beschwerde der Klägerin wird die Revision gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 24. Februar 2009 – 7 Sa 2017/08 – zugelassen.

Gründe:
A. Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen, hilfsweise ordentlichen Kündigung. Die Beklagte hatte diese Kündigung auf den Verdacht gestützt, die als Verkäuferin mit Kassentätigkeit beschäftigte Klägerin habe zwei von einer Kollegin gefundene Leergutbons im Wert von insgesamt 1,30 Euro bei einem Einkauf zum eigenen Vorteil eingelöst.

Das Arbeitsgericht hat die Kündigungsschutzklage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen; aufgrund des Ergebnisses der durchgeführten Beweisaufnahme ist es zu der Überzeugung gelangt, dass die Klägerin die Pflichtverletzung tatsächlich beging und nicht nur ein dringender Tatverdacht bestand. Auch unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls und nach Abwägung der Interessen beider Vertragsparteien sei es der Beklagten unzumutbar, das Arbeitsverhältnis bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist fortzusetzen. Zugunsten der Klägerin hat das Landesarbeitsgericht ihre Betriebszugehörigkeit von 31 Jahren, ihr Alter (50 Jahre) und ihre schlechten Chancen auf dem Arbeitsmarkt berücksichtigt, zu ihren Lasten insbesondere den eingetretenen Vertrauensverlust, die Anforderungen an die Zuverlässigkeit und Korrektheit einer Kassiererin sowie den mehrfachen Versuch der Klägerin, den Verdacht auf andere abzuwälzen. In die Interessenabwägung ist auch das prozessuale Verhalten der Klägerin einbezogen worden. Das Landesarbeitsgericht hat die Revision gegen seine Entscheidung nicht zugelassen. Hiergegen wendet sich die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin.

B. Im vorliegenden Verfahren ist ausschließlich zu prüfen, ob einer der in § 72 Abs. 2 ArbGG abschließend aufgezählten Gründe für die Zulassung der Revision vorliegt. Die inhaltliche Überprüfung des Berufungsurteils auf angebliche Rechtsfehler erfolgt im Revisionsverfahren. Gemessen daran hat die Beschwerde Erfolg.

I. Die Revision ist wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen und zwar bezüglich der Rechtsfrage, ob das spätere prozessuale Verhalten eines gekündigten Arbeitnehmers bei der erforderlichen Interessenabwägung als mitentscheidend berücksichtigt werden kann. Die weiteren von der Beschwerde erhobenen Rügen greifen dagegen nicht durch.

1. Auf S. 8 der Beschwerdebegründung vom 24. April 2009 rügt die Klägerin, das Landesarbeitsgericht habe „in der Interessenabwägung auch über das Prozessverhalten der Klägerin befunden und dies zu Lasten der Klägerin gewertet“. Den Ausführungen des Landesarbeitsgerichts entnimmt die Klägerin zutreffend den Rechtssatz:

„Für die Frage der Rechtswirksamkeit der außerordentlichen Kündigung nach § 626 Abs. 1 BGB ist ein wesentlicher in der Interessenabwägung zu Lasten des gekündigten Arbeitnehmers zu berücksichtigender Gesichtspunkt sein späteres Prozessverhalten.“

Sie sieht darin eine Divergenz zur Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 23. Juni 2005 (- 2 AZR 256/04 – AP KSchG 1969 § 9 Nr. 52 = EzA KSchG § 9 nF Nr. 52).

Die Beschwerdebegründung macht weiter geltend, durch das Abstellen der anzufechtenden Entscheidung auf das Prozessverhalten der Klägerin würden im Kündigungsschutzrecht geltende systematische Grenzen überschritten.

Entgegen der Auffassung der Klägerin liegt zwar keine Divergenz zum angezogenen Urteil des Bundesarbeitsgerichts vor. Die Beschwerdebegründung vom 24. April 2009 enthält aber auch eine Grundsatzbeschwerde, deren Voraussetzungen erfüllt sind.

2. Die geltend gemachte Divergenz liegt nicht vor. Im angezogenen Urteil vom 23. Juni 2005 (- 2 AZR 256/04 – zu II 2 b der Gründe, AP KSchG 1969 § 9 Nr. 52 = EzA KSchG § 9 nF Nr. 52) hat das Bundesarbeitsgericht Folgendes ausgeführt:

„Für die Frage der Rechtswirksamkeit der Kündigung … ist entscheidend, ob Umstände vorliegen, die im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärung die Kündigung als wirksam erscheinen lassen. Es ist eine rückschauende Bewertung dieser Gründe vorzunehmen, später eingetretene Umstände sind grundsätzlich nicht mehr einzubeziehen.“

Damit hat sich das Bundesarbeitsgericht ganz allgemein mit der Frage des maßgeblichen Zeitpunkts auseinander gesetzt und diesbezüglich lediglich einen (ausnahmefähigen) Grundsatz aufgestellt, ohne Aussagen darüber zu treffen, in welchen Fällen Ausnahmen möglich sind und ob diese sich bei der Prognoseentscheidung oder aber bei der Interessenabwägung auswirken können. Demnach besteht insoweit keine Divergenz zwischen dem angegriffenen und dem angezogenen Urteil.

3. Demgegenüber macht die Beschwerde erfolgreich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung geltend.

a) Die Rüge der Klägerin ist nicht nur unter dem Gesichtspunkt einer Divergenz, sondern auch unter dem Gesichtspunkt einer grundsätzlichen Bedeutung zu prüfen. Nach § 72a Abs. 3 Satz 2 ArbGG ist zwar das Bundesarbeitsgericht an die in der Nichtzulassungsbeschwerde angegebenen Gründe gebunden. Entscheidend ist aber nicht die Bezeichnung der Beschwerdegründe und deren rechtliche Einordnung durch den Beschwerdeführer, sondern der Inhalt der Beschwerdebegründung. Erfüllen die Darlegungen zur Begründung einer Divergenzbeschwerde zugleich die Voraussetzungen einer Grundsatzbeschwerde, ist die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen (BAG 15. Februar 2005 – 9 AZN 892/04 – zu II 2 b cc (1) der Gründe, BAGE 113, 315). Dies ist hier der Fall.

b) Die Klägerin greift im Rahmen ihrer Divergenzbeschwerde die Rechtsfrage auf, ob der für die Wirksamkeit der Kündigung maßgebliche Beurteilungszeitpunkt (= Zugang der Kündigung) es zulässt, späteres Prozessverhalten in die Interessenabwägung einzubeziehen und als mitentscheidend anzusehen. Aus den Ausführungen in der Beschwerdebegründung vom 24. April 2009 ergibt sich, dass die Klägerin diesem Problem eine allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung beimisst.

c) Die angesprochene Rechtsfrage ist von grundsätzlicher Bedeutung. Ihre Klärung ist von allgemeiner Bedeutung für die Rechtsordnung (dazu BAG 15. Februar 2005 – 9 AZN 982/04 – BAGE 113, 315). Die Rechtsfrage ist auch klärungsfähig und klärungsbedürftig.

aa) Die Klärungsbedürftigkeit fehlt, wenn die Rechtsfrage höchstrichterlich entschieden ist und dagegen keine neuen beachtlichen Gesichtpunkte vorgebracht werden (vgl. ua. BAG 16. September 1997 – 9 AZN 133/97 – zu II 1 der Gründe, AP ArbGG 1979 § 72a Grundsatz Nr. 54 = EzA ArbGG 1979 § 72a Nr. 82; 10. Dezember 1997 – 4 AZN 737/97 – zu II 1.2.1 der Gründe, AP ArbGG 1979 § 72a Nr. 40 = EzA ArbGG 1979 § 72a Nr. 83) oder wenn eine eindeutige Rechtslage vorliegt und deshalb divergierende Entscheidungen der Landesarbeitsgerichte nicht zu erwarten sind (vgl. ua. BAG 22. April 1987 – 4 AZN 114/87 – AP ArbGG 1979 § 72a Grundsatz Nr. 32; 25. Oktober 1989 – 2 AZN 401/89 – zu I 2 c der Gründe, AP ArbGG 1979 § 72a Grundsatz Nr. 39 = EzA ArbGG 1979 § 72a Nr. 56).

bb) Nach diesen Maßstäben besteht eine Klärungsbedürftigkeit. Durch die Urteile des Bundesarbeitsgerichts vom 13. Oktober 1977 (- 2 AZR 387/76 – AP KSchG 1969 § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 1 = EzA BetrVG 1972 § 74 Nr. 3), vom 3. Juli 2003 (- 2 AZR 437/02 – AP BGB § 626 Verdacht strafbarer Handlung Nr. 38 = EzA KSchG § 1 Verdachtskündigung Nr. 2) und vom 24. November 2005 (- 2 AZR 39/05 – AP BGB § 626 Nr. 197 = EzA BGB 2002 § 626 Nr. 12) ist die aufgeworfene Rechtsfrage noch nicht abschließend geklärt.

Im Urteil vom 13. Oktober 1977 (- 2 AZR 387/76 – zu III 3 d der Gründe, AP KSchG 1969 § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 1 = EzA BetrVG 1972 § 74 Nr. 3) hat das Bundesarbeitsgericht ausgeführt, dass auch Umstände, die nach der Kündigung eingetreten sind, bei der Interessenabwägung eine Rolle spielen können, „wenn sie das frühere Verhalten des Gekündigten in einem anderen Licht erscheinen lassen, dh. ihm ein größeres Gewicht als Kündigungsgrund verleihen“. Diese Voraussetzung kann dann vorliegen, wenn gleichartige Pflichtverstöße nach Beginn des Kündigungsschutzprozesses auftreten. Hierdurch kann eine für die Kündigung maßgebliche Wiederholungsgefahr bestätigt werden. In dem mit Urteil vom 13. Oktober 1977 (- 2 AZR 387/76 – AP KSchG 1969 § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 1 = EzA BetrVG 1972 § 74 Nr. 3) entschiedenen Fall hatte die Arbeitgeberin die von ihr ausgesprochene Kündigung darauf gestützt, dass der entlassene Arbeitnehmer durch das Mitverfassen und Verteilen einer ehrverletzenden „Programmschrift“ den Betriebsfrieden gestört habe. Nach Ausspruch der Kündigung waren dann noch Flugblätter verteilt worden, die ähnlich schwerwiegende Angriffe gegen die Beklagte und gegen den Betriebsrat enthielten. Mit der Frage, ob das prozessuale Verhalten bei der Interessenabwägung zu berücksichtigen ist, hat sich das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 13. Oktober 1977 (- 2 AZR 387/76 – aaO.) nicht auseinandergesetzt. Die – wenn auch unseriöse – Rechtsverteidigung im Prozess ist von der Wiederholung eines gleichartigen, für die Kündigung maßgeblichen Pflichtverstoßes zu unterscheiden.

Auch in den Urteilen vom 3. Juli 2003 (- 2 AZR 437/02 – AP BGB § 626 Verdacht strafbarer Handlung Nr. 38 = EzA KSchG § 1 Verdachtskündigung Nr. 2) und vom 24. November 2005 (- 2 AZR 39/05 – AP BGB § 626 Nr. 197 = EzA BGB 2002 § 626 Nr. 12) ist nicht problematisiert worden, ob das prozessuale Verteidigungsverhalten des gekündigten Arbeitnehmers bei der Interessenabwägung berücksichtigt werden kann.

cc) Die klärungsbedürftige Rechtsfrage ist nach den Ausführungen im Berufungsurteil entscheidungserheblich. Das Landesarbeitsgericht hat die Einlassungen der Klägerin im Prozess als wesentlichen Gesichtspunkt in die Interessenabwägung einbezogen. Es ist nicht auszuschließen, dass bei Nichtberücksichtigung dieses Umstandes die Interessenabwägung anders ausgefallen wäre.

II. Die übrigen in den Schriftsätzen der Klägerin vom 24. April 2009 und 27. April 2009 enthaltenen Rügen rechtfertigen keine Zulassung der Revision.

1. Die unter Abschnitt I S. 2 bis 8 der Beschwerdebegründung vom 24. April 2009 geltend gemachte Divergenz liegt nicht vor.

Entgegen der Rechtsauffassung der Klägerin hat das Landesarbeitsgericht in der anzufechtenden Entscheidung nicht den folgenden abstrakten Rechtssatz aufgestellt:

„Im Rahmen der Interessenabwägung über den Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung gemäß § 626 Abs. 1 BGB muss und darf der Arbeitgeber bei seinen Reaktionen auf Vermögensdelikte präventive Gesichtspunkte beachten.“

Das Landesarbeitsgericht hat hier vielmehr auf die Besonderheiten des Einzelfalls, nämlich die Verhältnisse im Einzelhandel, abgestellt. Bereits vor diesem Hintergrund scheitert eine Divergenz zur Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 16. Dezember 2004 (- 2 ABR 7/04 – AP BGB § 626 Nr. 191 = EzA BGB 2002 § 626 Nr. 7). Im Übrigen kritisiert die Klägerin im Hinblick auf die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 16. Dezember 2004 (- 2 ABR 7/04 – aaO.), wonach eine Generalprävention gegenüber anderen Mitarbeitern für das Kündigungsrecht im Allgemeinen und für die Interessenabwägung im Besonderen ein nur begrenzt tragfähiger Gesichtspunkt ist, das Ergebnis der vom Landesarbeitsgericht vorgenommenen Interessenabwägung. Die Klägerin wendet sich gegen die ihrer Ansicht nach fehlerhafte Gewichtung der Abwägungskriterien. Dies kann nur im Rahmen einer zugelassenen Revision überprüft werden.

2. Auf die unter Abschnitt III und IV S. 15 bis 36 der Beschwerdebegründung vom 24. April 2009 und in Abschnitt V bis VIII der Beschwerdebegründung vom 27. April 2009 angesprochenen Rechtsfragen kann die Grundsatzbeschwerde nicht gestützt werden. Diese Rechtsfragen betreffen allein Fragen der Verdachtskündigung. Sie waren nicht entscheidungserheblich.

Das Landesarbeitsgericht hat in seiner Entscheidung betont, dass der Klägerin die Tat nachgewiesen war. Wie der Zweite Senat in seinen Urteilen vom 6. Dezember 2001 (- 2 AZR 496/00 – B II der Gründe, AP BGB § 626 Verdacht strafbarer Handlung Nr. 36 = EzA BGB § 626 Verdacht strafbarer Handlung Nr. 11) sowie 3. Juli 2003 (- 2 AZR 437/02 – zu II 2 e aa der Gründe, AP BGB § 626 Verdacht strafbarer Handlung Nr. 38 = EzA KSchG § 1 Verdachtskündigung Nr. 2) ausdrücklich ausgeführt hat, stehen die beiden Kündigungsgründe des Verdachts und des Vorwurfs einer Pflichtwidrigkeit nicht beziehungslos nebeneinander. Wird die Kündigung zunächst nur mit dem Verdacht eines pflichtwidrigen Handelns begründet, steht jedoch nach Überzeugung des Gerichts (beispielsweise – wie hier – aufgrund einer Beweisaufnahme) die Pflichtwidrigkeit fest, ist das Gericht deshalb nicht gehindert, die nachgewiesene Pflichtwidrigkeit als wichtigen Grund anzuerkennen. So ist das Landesarbeitsgericht verfahren. Die mit einer Verdachtskündigung verbundenen Rechtsprobleme haben sich für das Berufungsgericht nicht mehr gestellt.

Hinweis:
Das Beschwerdeverfahren wird nunmehr als Revisionsverfahren fortgesetzt. Mit der Zustellung dieses Beschlusses beginnt die Revisionsbegründungsfrist von zwei Monaten (§ 72a Abs. 6 iVm. § 74 Abs. 1 ArbGG).

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