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nikotinhaltige Liquids – Arzneimittel?


E-Zigarette

Zusammenfassung:

Handelt es sich bei nikotinhaltigen Liquids um Arzneimittel? Wie lassen sich Arzneimittel im Einzelfall von Genussmitteln abgrenzen? Welche Kriterien sind bei der Beantwortung der Frage, ob es sich bei nikotinhaltigen Liquids um Arzneimittel handelt, heranzuziehen? Ist es von Bedeutung wie das jeweilige Produkt vermarkt wird? Müssen nikotinhaltige Liquids für den Einsatz zu therapeutischen Zwecken objektiv geeignet sein, um als Arzneimittel eingestuft werden zu können?


Bundesverwaltungsgericht

Az: 3 C 25/13

Urteil vom 20.11.2014


Tatbestand

Die Klägerin wendet sich gegen eine Ordnungsverfügung, mit der ihr der Verkauf nikotinhaltiger Liquids untersagt worden war.

Bei den Liquids handelt es sich um Flüssigkeiten, die zum Befüllen von elektr(on)ischen Zigaretten (im Folgenden: E-Zigaretten) verwendet werden. Die Flüssigkeit wird mittels der E-Zigarette erhitzt. Über das Mundstück kann der dabei entstehende Dampf vom Konsumenten inhaliert werden.

Die Klägerin betrieb seit Dezember 2011 in Wuppertal ein Ladengeschäft für E-Zigaretten und Liquids der Marke Vinirette®. Die Flüssigkeiten enthielten laut Produktbeschreibung Propylenglycol, Glycerin und Ethanol sowie verschiedene Aromastoffe. Neben nikotinfreien Liquids bot die Klägerin Liquids mit Nikotin in unterschiedlicher Konzentration (zwischen 0,5 % und 2,5 %) an.

Mit sofort vollziehbarer Ordnungsverfügung vom 10. Februar 2012 untersagte die beklagte Stadt der Klägerin, in ihrem Geschäft Vinirette-Liquids mit den Nikotinstärken „hoch“ (15 mg) und „mittel“ (10 mg) in den Verkehr zu bringen, und drohte für jeden Fall der Zuwiderhandlung ein Zwangsgeld in Höhe von 1 000 € an. Zur Begründung führte sie aus, bei den betroffenen Produkten handele es sich um Arzneimittel, die ohne Zulassung nach dem Arzneimittelgesetz (AMG) nicht verkehrsfähig seien. Beim Verdampfen der Liquids werde dem Körper eine pharmakologisch relevante Menge Nikotin zugeführt. Nikotin sei eine Substanz, die insbesondere auf das zentrale Nervensystem und das Herz-Kreislauf-System wirke. Sie steigere die psychomotorische Leistungsfähigkeit sowie die Aufmerksamkeits- und Gedächtnisleistungen, beschleunige den Herzschlag und bewirke über eine Verengung der Blutgefäße eine Erhöhung des Blutdrucks. Der Stoff könne süchtig machen.

Die Anordnung der sofortigen Vollziehung hob die Beklagte im April 2012 auf.

Das Verwaltungsgericht hat die Klage auf Aufhebung der Ordnungsverfügung mit Urteil vom 10. Oktober 2012 abgewiesen. Die Beklagte habe die Liquids zu Recht als Arzneimittel eingestuft. Es handele sich um Mittel, die geeignet seien, zu arzneilichen Zwecken eingesetzt zu werden. Sie könnten die Entzugssymptome einer Nikotinsucht lindern, also die physiologischen Körperfunktionen positiv beeinflussen. Die objektive Eignung zur therapeutischen Anwendung rechtfertige die Einordnung eines Erzeugnisses als Arzneimittel, unabhängig davon, ob es nach dem Willen des Herstellers oder Vertreibers dazu bestimmt sei. Im Übrigen sei nicht zweifelhaft, dass die vom Konsumenten als angenehm empfundenen pharmakologischen Wirkungen des nikotinhaltigen Dampfes beabsichtigt seien.

Das Oberverwaltungsgericht hat mit Urteil vom 17. September 2013 die Entscheidung des Verwaltungsgerichts geändert und den angefochtenen Bescheid aufgehoben. Zur Begründung heißt es im Wesentlichen: Die Untersagungsverfügung sei rechtswidrig. Die Voraussetzungen für ein Eingreifen der Beklagten nach § 69 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 1 AMG lägen nicht vor. Die nikotinhaltigen Liquids seien keine Präsentationsarzneimittel im Sinne von § 2 Abs. 1 Nr. 1 AMG. Weder die Herstellerin noch die Klägerin würden die Liquids und die zugehörige E-Zigarette als Mittel zur Heilung, Linderung oder Verhütung der Nikotin- oder Tabaksucht vermarkten. Auch durch die Aufmachung der Liquids entstehe beim Verbraucher nicht der Eindruck, dass sie zu arzneilichen Zwecken bestimmt seien. Ebenso wenig erfüllten die Nikotinlösungen die Merkmale eines Funktionsarzneimittels nach § 2 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a AMG. Es könne unterstellt werden, dass sie bei bestimmungsgemäßer Anwendung angesichts ihres nicht unerheblichen Nikotingehalts den Stoffwechsel nennenswert beeinflussten. Das allein genüge jedoch nicht, um die Arzneimitteleigenschaft zu bejahen. Die gebotene Gesamtbetrachtung führe zu dem Ergebnis, dass die Liquids ihrer Funktion nach nicht als Arzneimittel, sondern als Genussmittel anzusehen seien. E-Zigaretten mit Nikotinlösungen ähnelten und imitierten Tabakzigaretten, die offensichtlich keine Arzneimittel seien. Auch die Beimengung von Aromastoffen stütze die Einstufung als Genussmittel. Die zunehmende Verbreitung der E-Zigarette sei ebenfalls kein Gesichtspunkt, der für die Annahme eines Arzneimittels sprechen könne; denn der steigende Absatz sei darauf zurückzuführen, dass das Produkt vom Verbraucher überwiegend als Genussmittel angesehen werde. Die Gesundheitsrisiken, die mit dem Verdampfen nikotinhaltiger Liquids verbunden seien, erschienen nicht größer als die Gefahren des Tabakrauchens. Im Rahmen der Gesamtschau sei zudem zu beachten, dass Funktionsarzneimittel typischerweise der Behandlung von Krankheiten oder unerwünschten körperlichen Zuständen und Beschwerden dienten. Es sei daher in den Blick zu nehmen, ob die Liquids objektiv geeignet seien, zu arzneilichen Zwecken eingesetzt zu werden, und ob ihnen die Anwender überwiegend eine therapeutische Zweckbestimmung beimäßen. Beides sei nicht der Fall.

Mit der vom Oberverwaltungsgericht wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassenen Revision begehrt die Beklagte die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils. Sie macht im Wesentlichen geltend: Das Berufungsgericht habe den Begriff des Präsentationsarzneimittels unzulässig verengt, weil es die Tatbestandsalternative der Linderung von Krankheiten oder krankhafter Beschwerden nicht geprüft und die Online-Werbung des Herstellers der Liquids unzureichend aufgegriffen habe. Darüber hinaus habe das Oberverwaltungsgericht zu Unrecht die Voraussetzungen eines Funktionsarzneimittels verneint. Die vermeintliche Ähnlichkeit mit der Tabakzigarette bestehe nicht. Auf die Kriterien der Geschmacksvarianten, Aufmachung und fehlenden Dosierungsempfehlung könne es nicht entscheidungserheblich ankommen, da es ein Hersteller sonst in der Hand habe, sein Produkt trotz bestehender pharmakologischer Wirkung aus dem Anwendungsbereich des Arzneimittelrechts herauszulösen. Der Aspekt der Verbrauchersicht sei ebenfalls nicht berücksichtigungsfähig; denn das Vorliegen eines Funktionsarzneimittels beurteile sich ausschließlich nach den objektiven Merkmalen des Erzeugnisses. Mit dem Kriterium einer auf die Nikotinentwöhnung bezogenen therapeutischen Eignung und Zweckbestimmung entferne sich das Oberverwaltungsgericht von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, der für die Abgrenzung von Arzneimitteln zu anderen Erzeugnissen wie Lebens- und Genussmitteln allein auf das Merkmal einer nennenswerten Beeinflussung der Körperfunktionen abstelle. Das Beispiel von Methadon und Diamorphin zeige, dass auch die Funktion der Substitution durch eine weniger schädliche Substanz die Arzneimitteleigenschaft begründen könne. Insbesondere der über eine Tabakzigarette deutlich hinausgehende Nikotingehalt und die erheblichen Gesundheitsrisiken sprächen für die Arzneimitteleigenschaft der Liquids.

Die Klägerin tritt dem entgegen und verteidigt das angegriffene Urteil. Sie hat außerdem mitgeteilt, dass sie ihr Ladengeschäft mittlerweile nicht mehr betreibe und ihr bisheriges Anfechtungsbegehren auf den Antrag umgestellt, festzustellen, dass der Bescheid vom 10. Februar 2012 rechtswidrig gewesen ist. Das Feststellungsinteresse leitet sie aus einer beabsichtigten Schadensersatzklage gegen die Beklagte wegen Amtshaftung ab.


Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten bleibt ohne Erfolg. Das Berufungsgericht hat ohne Verstoß gegen Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) angenommen, dass die von der streitigen Untersagungsverfügung betroffenen Erzeugnisse keine Arzneimittel im Sinne von § 2 Abs. 1 AMG sind. Danach war der Bescheid rechtswidrig, weil die Voraussetzungen für eine Anordnung nach § 69 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 1 AMG nicht vorgelegen haben.

1. Nachdem die Klägerin ihren Geschäftsbetrieb aufgegeben und sich dadurch der Bescheid vom 10. Februar 2012 erledigt hatte, durfte sie ihr Klagebegehren auf einen Fortsetzungsfeststellungsantrag (§ 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO) umstellen. Das Verbot der Klageänderung im Revisionsverfahren (§ 142 Abs. 1 Satz 1 VwGO) steht der Antragsumstellung nicht entgegen. Der Übergang von der Anfechtungs- zur Fortsetzungsfeststellungsklage ist keine Klageänderung im Sinne des § 91 VwGO (§ 173 VwGO i.V.m. § 264 Nr. 3 ZPO) und deshalb auch in der Revisionsinstanz noch zulässig (stRspr; z.B. BVerwG, Urteile vom 10. April 1997 – 2 C 38.95 – Buchholz 236.1 § 3 SG Nr. 16 S. 34 und vom 26. August 2010 – 3 C 35.09 – BVerwGE 137, 377 Rn. 24, jeweils m.w.N.).

Die Klägerin hat auch das nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO erforderliche berechtigte Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit des erledigten Verwaltungsakts. Das Feststellungsinteresse ergibt sich aus der von ihr angestrebten Staatshaftungsklage, mit der sie gegenüber der Beklagten einen Entschädigungsanspruch wegen Umsatzeinbußen geltend machen will, die sie im Zuge des angeordneten Verkaufsverbots erlitten habe. Der beabsichtigte Zivilprozess erscheint – auch in Ansehung der Klageabweisung durch das Verwaltungsgericht – nicht offensichtlich aussichtslos (BVerwG, Urteil vom 20. Juni 2013 – 8 C 12.12 – Buchholz 11 Art. 12 GG Nr. 285 Rn. 17 m.w.N.). Ein Entschädigungsanspruch der Klägerin nach § 39 Abs. 1 Buchst. b des Ordnungsbehördengesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen (OBG NW) ist nicht von vornherein ausgeschlossen. Nach dieser Regelung sind Vermögensschäden (§ 40 Abs. 1 OBG NW) zu ersetzen, die jemandem durch eine rechtswidrige Maßnahme der Ordnungsbehörden entstanden sind, gleichgültig, ob die Ordnungsbehörden ein Verschulden trifft oder nicht (vgl. z.B. BGH, Urteil vom 30. Oktober 1984 – VI ZR 18/83 – NJW 1986, 182; BVerwG, Urteil vom 20. Juni 2013 – 8 C 12.12 – Buchholz 11 Art. 12 GG Nr. 285 Rn. 18 ff.). Unschädlich ist, dass die Klägerin sich nicht ausdrücklich auf § 39 Abs. 1 Buchst. b OBG NW gestützt hat. Es reicht aus, dass sie den potentiell anspruchsbegründenden Sachverhalt dargelegt hat.

2. Grundlage der Untersagungsverfügung war § 69 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 1 AMG in der Fassung der Bekanntmachung vom 12. Dezember 2005 (BGBl. I S. 3394). Danach treffen die zuständigen Behörden die zur Beseitigung festgestellter Verstöße und die zur Verhütung künftiger Verstöße notwendigen Anordnungen. Sie können insbesondere das Inverkehrbringen von Arzneimitteln untersagen, wenn die erforderliche Zulassung für das Arzneimittel nicht vorliegt. Die Voraussetzungen dieser Eingriffsnorm hat das Oberverwaltungsgericht zutreffend verneint. Die von der Klägerin vertriebenen Liquids der Nikotinstärken „hoch“ (15 mg) und „mittel“ (10 mg) erfüllen weder die Merkmale eines sog. Präsentationsarzneimittels im Sinne von § 2 Abs. 1 Nr. 1 AMG und Art. 1 Nr. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. November 2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel (ABl. Nr. L 311 S. 67) i.d.F. der Richtlinie 2012/26/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2012 zur Änderung der Richtlinie 2001/83/EG hinsichtlich der Pharmakovigilanz (ABl. Nr. L 299 S. 1; dazu unter a), noch handelt es sich bei ihnen um sog. Funktionsarzneimittel im Sinne von § 2 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a AMG und Art. 1 Nr. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/83/EG (dazu unter b).

a) Unter den Begriff des Präsentationsarzneimittels fallen Stoffe oder Zubereitungen aus Stoffen, die zur Anwendung im oder am menschlichen Körper und als Mittel mit Eigenschaften zur Heilung oder Linderung oder zur Verhütung menschlicher Krankheiten oder krankhafter Beschwerden bestimmt sind. Ein Erzeugnis erfüllt diese Merkmale, wenn es entweder ausdrücklich als Mittel mit Eigenschaften zur Heilung, Linderung oder Verhütung menschlicher Krankheiten bezeichnet oder empfohlen wird oder wenn sonst bei einem durchschnittlich informierten Verbraucher auch nur schlüssig, aber mit Gewissheit der Eindruck entsteht, dass das Produkt in Anbetracht seiner Aufmachung die betreffenden Eigenschaften haben müsse (stRspr; z.B. BVerwG, Urteile vom 3. März 2011 – 3 C 8.10 – Buchholz 418.32 AMG Nr. 60 Rn. 12 und vom 26. Mai 2009 – 3 C 5.09 – Buchholz 418.710 LFGB Nr. 6 Rn. 21 f.; EuGH, Urteil vom 15. November 2007 – C-319/05, Kommission ./. Bundesrepublik Deutschland – Slg. 2007, I-9811 Rn. 43 ff. m.w.N.).

Danach sind die streitigen Produkte nicht als Arzneimittel im Sinne von § 2 Abs. 1 Nr. 1 AMG, Art. 1 Nr. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/83/EG anzusehen. Das Berufungsgericht hat festgestellt, dass die nikotinhaltigen Liquids nicht als Mittel präsentiert werden, die zur Heilung, Linderung oder Verhütung von Krankheiten bestimmt sind. Weder nach ihrer Bezeichnung und den werbenden Aussagen noch nach der Produktaufmachung im Übrigen nehmen sie in Anspruch, Eigenschaften zur Behandlung der Nikotin- oder Tabaksucht aufzuweisen. Diese Tatsachenbewertung bindet das Revisionsgericht (§ 137 Abs. 2 VwGO). Die Beklagte hat hiergegen keine durchgreifenden Revisionsgründe vorgebracht. Das Oberverwaltungsgericht ist bei seiner Würdigung von zutreffenden rechtlichen Maßstäben ausgegangen und hat den Begriff des Präsentationsarzneimittels entgegen der Auffassung der Beklagten nicht unzulässig eingeschränkt. Die in dem angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen sind von ihr auch nicht erfolgreich mit einer Verfahrensrüge angegriffen worden. Ihr Vorbringen erschöpft sich in der Kritik an der Tatsachenwürdigung des Berufungsgerichts, ohne dass sie, wie es § 139 Abs. 3 Satz 4 VwGO verlangt, einen Verfahrensmangel rügt und darlegt.

b) Die Voraussetzungen eines Funktionsarzneimittels liegen ebenfalls nicht vor.

aa) Hierzu zählen nach § 2 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a AMG (Buchst. b ist unstreitig nicht einschlägig) und Art. 1 Nr. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/83/EG alle Stoffe und Stoffzubereitungen, die im oder am menschlichen Körper angewendet oder einem Menschen verabreicht werden können, um die physiologischen Funktionen durch eine pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung wiederherzustellen, zu korrigieren oder zu beeinflussen.

Die Entscheidung, ob ein Erzeugnis unter diese Definition fällt, ist von Fall zu Fall zu treffen. Dabei sind alle Merkmale des Produkts zu berücksichtigen (vgl. § 2 Abs. 3a AMG, Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2001/83/EG), insbesondere seine Zusammensetzung, seine pharmakologischen, immunologischen oder metabolischen Eigenschaften, die Modalitäten seines Gebrauchs, der Umfang seiner Verbreitung, seine Bekanntheit bei den Verbrauchern und die Risiken seiner Verwendung (stRspr des EuGH; z.B. Urteile vom 3. Oktober 2013 – C-109/12, Laboratoires Lyocentre – Rn. 42 und vom 15. Januar 2009 – C-140/07, Hecht-Pharma – Slg. 2009, I-41 Rn. 32, jeweils m.w.N.). Im Rahmen dieser Einzelfallprüfung sind die pharmakologischen, immunologischen oder metabolischen Eigenschaften das Kriterium, auf dessen Grundlage ausgehend von den Wirkungsmöglichkeiten des Erzeugnisses zu beurteilen ist, ob es zur Wiederherstellung, Korrektur oder Beeinflussung der physiologischen Funktionen im oder am menschlichen Körper angewandt oder einem Menschen verabreicht werden kann (EuGH, Urteil vom 3. Oktober 2013 – C-109/12, Laboratoires Lyocentre – Rn. 43). Das Produkt muss die Körperfunktionen nachweisbar und in nennenswerter Weise wiederherstellen, korrigieren oder beeinflussen können, wobei auf dessen bestimmungsgemäßen, normalen Gebrauch abzustellen ist (EuGH, Urteile vom 6. September 2012 – C-308/11, Chemische Fabrik Kreussler – Rn. 35 und vom 30. April 2009 – C-27/08, BIOS Naturprodukte – Slg. 2009, I-3785 Rn. 21 ff.; BVerwG, Urteil vom 26. Mai 2009 – 3 C 5.09 – Buchholz 418.710 LFGB Nr. 6 Rn. 13 m.w.N.).

Nicht erfasst vom Begriff des Funktionsarzneimittels sind Stoffe oder Stoffzusammensetzungen, deren Wirkungen sich auf eine schlichte Beeinflussung der physiologischen Funktionen beschränken, ohne dass sie geeignet wären, der Gesundheit unmittelbar oder mittelbar zuträglich zu sein (EuGH, Urteil vom 10. Juli 2014 – C-358/13 und C-181/14 – Rn. 38; BVerwG, Beschluss vom 25. Oktober 2007 – 3 C 42.06 – PharmR 2008, 254 <256>; Rennert, NVwZ 2008, 1179 <1184>). Daher können Erzeugnisse, die nicht zu therapeutischen, sondern ausschließlich zu Entspannungs- oder Rauschzwecken konsumiert werden und dabei gesundheitsschädlich sind, nicht als Arzneimittel im Sinne von § 2 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a AMG, Art. 1 Nr. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/83/EG eingestuft werden (EuGH, Urteil vom 10. Juli 2014 – C-358/13 und C-181/14 – Rn. 46). Schließlich genügt es nicht, dass das fragliche Erzeugnis Eigenschaften besitzt, die der Gesundheit im Allgemeinen förderlich sind, oder dass es einen Stoff enthält, der für therapeutische Zwecke verwendet werden kann. Ihm muss vielmehr tatsächlich die Funktion der Heilung, Linderung oder Verhütung von Krankheiten oder krankhaften Beschwerden zukommen (EuGH, Urteil vom 15. November 2007 – C-319/05, Kommission ./. Bundesrepublik Deutschland – Slg. 2007, I-9811 Rn. 64 f.). Mit anderen Worten, das Produkt muss objektiv geeignet sein, für therapeutische Zwecke eingesetzt zu werden.

bb) Gemessen daran sind die streitigen Nikotin-Liquids nicht als Funktionsarzneimittel anzusehen.

Zwar ist nach den Feststellungen des Berufungsgerichts zugrundezulegen, dass Nikotin ein Stoff ist, der pharmakologische Wirkungen entfaltet und in den von der Klägerin vertriebenen Erzeugnissen in einer Dosierung vorhanden war, die bei bestimmungsgemäßem Gebrauch eine nennenswerte Einwirkung auf den Stoffwechsel hervorruft. Bei der gebotenen Gesamtschau aller Merkmale der Produkte ist das Oberverwaltungsgericht aber zu dem Schluss gelangt, dass sie nach ihrer Funktion Genussmittel sind und ihnen keine Arzneimitteleigenschaft zukommt. Gegen diese Würdigung ist aus revisionsrechtlicher Sicht nichts zu erinnern.

Für die Genussmitteleigenschaft spricht nach den Feststellungen des Berufungsgerichts, dass die nikotinhaltige E-Zigarette eine große Ähnlichkeit mit Tabakzigaretten aufweist. Das ergibt sich aus der äußeren Form, der sonstigen Aufmachung und der Art der Anwendung der E-Zigarette. Danach wird mit dem Verdampfen der Liquids das Rauchen der Tabakzigarette imitiert. Durch den Zusatz von Aromastoffen soll ein angenehmer Geschmack erzeugt werden, wobei dem Anwender vielfältige Geschmacksvarianten zur Auswahl stehen. Das unterscheidet die Liquids von dem zur Rauchentwöhnung zugelassenen Arzneimittel „Nicorette Inhaler“, das allein Menthol und Nikotin enthält. Auch fehlt eine Dosierungsempfehlung, wie sie für Arzneimittel typisch ist. Des Weiteren hat das Berufungsgericht festgestellt, dass die Liquids nicht geeignet sind, zu therapeutischen Zwecken eingesetzt zu werden. Es stützt sich darauf, dass allein die Möglichkeit, Entzugssymptome kurzfristig zu lindern, die Annahme einer arzneilichen Zweckbestimmung nicht rechtfertigt, weil die Aufnahme und Anreicherung von Nikotin der Gesundheit schaden. Diese Argumentation ist nicht zu beanstanden (vgl. EuGH, Urteil vom 10. Juli 2014 – C-358/13 und C-181/14 – Rn. 32 ff.). Einen Vergleich mit den zur Substitution von Betäubungsmitteln zugelassenen Arzneimitteln hat das Oberverwaltungsgericht unter Hinweis auf die dafür bestehenden speziellen gesetzlichen Bestimmungen überzeugend abgelehnt. Schließlich ist den streitigen Liquids auch nicht deshalb eine therapeutische Eignung beizumessen, weil Erzeugnisse wie Nikotinpflaster oder der „Nicorette Inhaler“ als Arzneimittel eingestuft (und zugelassen) sind. Grundlage für die Qualifizierung dieser Nikotinersatzpräparate als Arzneimittel ist ihr Anspruch und ihre objektive Bestimmung, zur Rauchentwöhnung angewendet zu werden. Einen solchen therapeutischen Nutzen weisen die von der Klägerin vertriebenen Liquids nach den Feststellungen des Berufungsgerichts nicht auf. Es hat angenommen, dass sich die Eignung der E-Zigarette als Mittel zur Erreichung eines Rauchstopps und zur Behandlung der Nikotinsucht mit dem Ziel der Entwöhnung wissenschaftlich nicht belegen lässt. Dabei stützt es sich auf verschiedene sachverständige Stellungnahmen und wissenschaftliche Erkenntnismaterialien. Dementsprechend messen auch die Konsumenten den Produkten überwiegend keine arzneiliche Zweckbestimmung bei, sondern verwenden sie als Genussmittel. Verfahrensrügen gegen diese Tatsachenfeststellungen hat die Beklagte nicht erhoben. Sie sind deshalb der Revisionsentscheidung zugrundezulegen (§ 137 Abs. 2 VwGO).

Danach kann die Arzneimitteleigenschaft auch nicht damit begründet werden, dass mit der Verwendung der Liquids gesundheitliche Risiken verbunden sind. Das Oberverwaltungsgericht hat nicht verkannt, dass die von dem Inhalieren des Nikotindampfes ausgehenden Gefahren für die Gesundheit noch nicht abschließend erforscht sind. Nach seinen Feststellungen sind nach dem derzeitigen Stand der Wissenschaft die Gesundheitsrisiken bei bestimmungsgemäßer Anwendung der E-Zigarette eher geringer einzuschätzen als die Gefahren des Rauchens herkömmlicher Tabakzigaretten; jedenfalls seien sie nicht größer. Dieser Befund legt zwar eine Regulierung des Inverkehrbringens und der Kennzeichnung nikotinhaltiger Liquids nahe (vgl. dazu Art. 1 Buchst. f und Art. 20 der Richtlinie 2014/40/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Herstellung, die Aufmachung und den Verkauf von Tabakerzeugnissen und verwandten Erzeugnissen und zur Aufhebung der Richtlinie 2001/37/EG <ABl. Nr. L 127 S. 1>, die von den Mitgliedstaaten bis zum 20. Mai 2016 umzusetzen ist <Art. 29 Abs. 1>). Allein das Bestehen von Gesundheitsrisiken bei der Anwendung eines Produkts rechtfertigt es aber nicht, es als Arzneimittel anzusehen (vgl. EuGH, Urteile vom 30. April 2009 ‌- C-27/08, BIOS Naturprodukte – Slg. 2009, I-3785 Rn. 24 ff. und vom 10. Juli 2014 – C-358/13 und C-181/14 – Rn. 48 f.).

c) § 2 Abs. 3a AMG und Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2001/83/EG führen zu keiner abweichenden rechtlichen Bewertung. Aus ihnen ergibt sich für den Fall, dass ein Erzeugnis unter die Definition des Arzneimittels fällt und zugleich unter die Begriffsbestimmung eines Erzeugnisses nach § 2 Abs. 3 AMG fallen kann, der Vorrang des Arzneimittelrechts. Die Anwendung der „Zweifelsfallregelung“ des § 2 Abs. 3a AMG beruht somit auf der Prämisse, dass das betreffende Produkt die Voraussetzungen eines Arzneimittels erfüllt (vgl. EuGH, Urteil vom 15. Januar 2009 – C-140/07, Hecht-Pharma – Slg. 2009, I-41 Rn. 24 m.w.N.; BVerwG, Urteil vom 26. Mai 2009 – 3 C 5.09 – Buchholz 418.710 LFGB Nr. 6 Rn. 15).

d) Der Nichteinstufung als Arzneimittel steht schließlich nicht entgegen, dass nikotinhaltige Liquids in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union als Arzneimittel behandelt werden mögen. Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs lässt sich nach der gegenwärtigen – nicht vollständigen – Harmonisierung auf dem Gebiet des Arzneimittelrechts nicht ausschließen, dass die Frage der Arzneimitteleigenschaft eines Erzeugnisses unterschiedlich beurteilt wird. Der Umstand, dass Liquids für E-Zigaretten in einem Mitgliedstaat als Arzneimittel qualifiziert werden, bindet andere Mitgliedstaaten daher nicht (EuGH, Urteile vom 3. Oktober 2013 – C-109/12, Laboratoires Lyocentre – Rn. 45 ff. und vom 15. Januar 2009 – C-140/07, Hecht-Pharma – Slg. 2009, I-41 Rn. 28).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.


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