SOZIALGERICHT GELSENKIRCHEN
Az.: S 10 U 256/98
Verkündet am 14.06.1999
In dem Rechtsstreit hat die 10. Kammer des Sozialgerichts Gelsenkirchen auf die mündliche Verhandlung vom 14.06.1999 für Recht erkannt:
Der Bescheid der Beklagten vom 02.04.1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30.09.1998 wird aufgehoben.
Die Beklagte wird verurteilt, den Unfall des Klägers am 15.10.1997 als Arbeitsunfall nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu entschädigen.
Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger einen von der Beklagten zu entschädigenden Arbeitsunfall erlitten hat.
Den Kläger überkam am 15.10.1997 auf dem Heimweg von seiner Arbeit in Dortmund kurz vor Erreichen seiner Wohnung in Gelsenkirchen ein starkes Bedürfnis, seine Blase zu entleeren. Er hielt sein Fahrzeug am Wissenschaftspark Gelsenkirchen an, um im Gebüsch seine Notdurft zu verrichten. Dort rutschte er bei Nässe aus, stürzte und zog sich einen Oberarmbruch rechts zu. Mit Bescheid vom 02.04.1998 lehnte die Beklagte Entschädigungsleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung mit der Begründung ab, daß es sich bei der Verrichtung der Notdurft um eine eigenwirtschaftliche, unversicherte Tätigkeit gehandelt habe. Den hiergegen vom Kläger eingelegten Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 30.09.1998 zurück. Dabei wies sie darauf hin, daß nur der Weg zur Verrichtung der Notdurft versichert sei, nicht aber die Verrichtung der Notdurft selbst.
Mit der am 05.11.1998 erhobenen Klage vertritt der Kläger die Rechtsauffassung, daß es in Rechtsprechung und Literatur anerkannt sei, daß Versicherungsschutz für einen Arbeitnehmer bestehe, wenn dieser auf der Betriebsstätte oder auf dem Nachhauseweg die Notdurft verrichte.
Der Kläger beantragt, den Bescheid der Beklagten vom 02.04.1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.09.1998 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, seinen Unfall am 15.10.1997 als Arbeitsunfall nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu entschädigen.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen. Nach Ansicht der Beklagten bestand kein Zusammenhang zwischen der Verrichtung der Notdurft und dem Beschäftigungsverhältnis, weil sich der Unfall nicht mehr in der Nähe der Betriebsstätte des Klägers ereignete.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten. Alle diese Unterlagen sind ihrem wesentlichen Inhalt nach Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe
Die statthafte Klage ist form- und fristgerecht erhoben und daher zulässig. Sie ist auch in der Sache selbst begründet. Die angefochtene Verwaltungsentscheidung ist rechtswidrig und der Kläger ist dadurch im Sinne von § 54 Abs. 2 Satz l SGG beschwert. Dem Kläger stehen die Entschädigungsleistungen der gesetzlichen Unfallversicherung zu, weil er am 15.10.1997 einen Arbeitsunfall im Sinne von § 8 Abs. l SGB VII erlitten hat.
Der Kläger ist bei einer versicherten Tätigkeit verunglückt, weil sich der Unfall beim Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges von dem Ort der Tätigkeit (als Gebäudereiniger in Dortmund) nach Hause ereignet hat (§ 8 Abs. 2 Nr. l SGB VII). Der Versicherungsschutz ist entgegen der Ansicht der Beklagten nicht dadurch entfallen, daß der Kläger den Heimweg unterbrochen hatte zur Verrichtung der Notdurft.
Der Beklagten ist zuzugeben, daß das Verrichten der Notdurft dem persönlichen und unversicherten Lebensbereich des Versicherten zuzurechnen ist und daher grundsätzlich nicht unter Unfallversicherungsschutz steht. Dagegen steht der Weg zur Verrichtung der Notdurft unter Unfallversicherungsschutz, weil der Versicherte durch seine Tätigkeit gezwungen ist, seine Notdurft an einem anderen Ort zu verrichten, als er dies in seinem häuslichen Bereich getan haben würde (BSG SozR 2200 § 548 Nr. 35 und Nr. 97). Von ihrem Rechtsstandpunkt aus hätte die Beklagte folglich ermitteln müssen, ob der Kläger während der Notdurft (=unversichert) oder noch auf dem Weg zur Notdurft (=versichert) oder auf dem Rückweg nach dem Wasserlassen (=versichert) verunglückt ist. Dabei wäre zu bedenken gewesen, daß der Kläger bei Nässe ausgerutscht ‚ ist. Die Gefahr des Ausrutschens besteht während einer Fortbewegung in weit größerem Maße als bei einer stehenden Tätigkeit. Die Verrichtung der Notdurft erfolgt erfahrungsgemäß nicht während der Fortbewegung. Schon dieser Gesichtspunkt spricht dafür, daß der Kläger noch auf dem Weg zur Verrichtung der Notdurft verunglückt ist und dabei unter Unfallversicherungsschutz stand. Die Beklagte hat jedoch ohne entsprechende Feststellungen unterstellt, daß der Kläger verunglückte, während er gerade seine Notdurft verrichtete.
Eine endgültige Klärung, ob der Kläger während der Verrichtung der Notdurft oder auf dem Weg dahin verunglückte, kann jedoch unterbleiben. Im vorliegenden Fall bestand ausnahmsweise auch während der Verrichtung der Notdurft Versicherungsschutz unter dem Gesichtspunkt „besondere Gefahrenmomente“. Denn hier stellen die örtlichen Gegebenheiten (unebener Boden, Nässe, schlechte Sichtverhältnisse im Gebüsch) eine besondere Gefahrenquelle dar, die die wesentliche Ursache des Sturzes war. Der Kläger war dieser Gefahrenquelle nur deshalb ausgesetzt, weil er auf dem Rückweg von der Arbeit seine Notdurft an einem anderen Ort verrichten mußte, als er dies in seinem häuslichen Bereich getan hätte. In seiner Wohnung hätte für den Kläger keine derartige Rutschgefahr bestanden.
Die Kostenentscheidung der nach alledem begründeten Klage beruht auf §§ 183, 193 SGG.