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Skifahrer – muss er nach den FIS-Regeln einen Notsturz vornehmen um eine Kollision zu vermeiden?

OLG Hamm, Az.: 11 U 64/93

Urteil vom 22.10.1993

Die Berufung des Klägers gegen das am 18. Januar 1993 verkündete Urteil der 2. Zivilkammer des Landgerichts Siegen wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten der Berufung.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Es beschwert den Kläger in Höhe von 5.000,00 DM.

Tatbestand

Skifahrer – muss er nach den FIS-Regeln einen Notsturz vornehmen um eine Kollision zu vermeiden?
Symbolfoto: Rido81/Bigstock

Der am 08. April 1977 geborene Kläger ist Schüler der … in …. In der Zeit vom 09. bis zum 16. März 1991 nahm der Kläger als Skianfänger an einer von seiner Schule veranstalteten Skifreizeit in … teil. Am Mittag des 10. März 1993 kam der Kläger auf einem für Skianfänger bestimmten Hang zu Fall, weil sich seine Skispitzen kreuzten. Eine nachfolgende Skiläuferin, die ebenfalls Anfängerin war und die der Kläger zuvor überholt hatte, fuhr gegen den am Boden liegenden Kläger. Der herbeigerufene Klassenlehrer des Klägers, Herr … notierte die Anschrift der haftpflichtversicherten Skiläuferin.

Die materiellen Schäden des Klägers sind reguliert. Als die Eltern des Klägers wegen etwaiger Schmerzensgeldansprüche gegen die Skiläuferin den Lehrer … baten, ihnen die Anschrift der Skiläuferin mitzuteilen, vermochte Herr … den Zettel, auf dem er die Anschrift notiert hatte, nicht mehr aufzufinden. Mit der vorliegenden Klage nimmt der Kläger das beklagte Land auf Schadensersatz wegen Undurchsetzbarkeit einer gegen die Skiläuferin gerichteten Schmerzensgeldforderung in Anspruch.

Der Kläger hat behauptet, die Skiläuferin habe über genügend Zeit und Platz verfügt, um an ihm vorbeizufahren oder anzuhalten. Jedenfalls sei die Kollision zu vermeiden gewesen, wenn sich die Skiläuferin, wozu sie auch verpflichtet gewesen sei, hingeworfen hätte.

Der Kläger hat beantragt, das beklagte Land zu verurteilen, an ihn 7.000,00 DM nebst 4 % Zinsen seit Klagezustellung zu zahlen.

Das beklagte Land hat beantragt, die Klage abzuweisen.

Es hat die Ansicht vertreten, ein Schmerzensgeldanspruch des Klägers gegen die Skiläuferin bestehe nicht.

Das beklagte Land hat dazu behauptet, der Kläger sei unmittelbar vor der Skiläuferin zu Fall gekommen, so daß für diese keine Möglichkeit mehr bestanden habe, den Unfall zu vermeiden.

Das Landgericht hat die Klage nach Vernehmung des Lehrers … sowie der Schüler … und … abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Ein Amtshaftungsanspruch des Klägers gegen das beklagte Land scheide schon deshalb aus, weil der Kläger die tatsächlichen Voraussetzungen für einen gegen die Skiläuferin bestehenden Schmerzensgeldanspruch nicht nachgewiesen habe. Der Zeuge … habe bekundet, das Unfallgeschehen nicht selbst beobachtet zu haben; Schüler, die er nach dem Unfallhergang befragt habe, hätten erklärt, daß der Kläger so kurz vor der Skiläuferin gestürzt sei, daß für diese als Anfängerin keine Möglichkeit bestanden habe, dem im Schnee liegenden Kläger auszuweichen. Auch der Zeuge … habe zu der eigentlichen Kollision der Skiläufer keine Angaben machen können. Der Zeuge …, der Augenzeuge des Unfallgeschehens gewesen sei, habe bekundet, die Skiläuferin sei drei bis vier Sekunden nach dem Sturz des Klägers über das Bein des Klägers gefahren; seiner Meinung nach sei der Zusammenstoß nur für einen ziemlich guten Skiläufer vermeidbar gewesen. Angesichts dieser Zeugenaussagen lasse sich ein Verschulden der Skiläuferin nicht feststellen. Entgegen der Auffassung des Klägers könne der Skiläuferin auch nicht deshalb ein Verschulden zur Last gelegt werden, weil sie sich nicht sogleich hingeworfen habe. Durch ein solches Verhalten hätte sie den Kläger möglicherweise noch mehr als geschehen verletzt und auch sich selbst gefährdet.

Gegen diese Entscheidung wendet sich der Kläger mit der Berufung.

Er ist der Auffassung: Das Landgericht habe zu Unrecht angenommen, daß der Einsatz der „Textilbremse“ gefährlich sei. Gerade bei Anfängern sei das Hinwerfen ein bewährtes Mittel, um drohenden Gefahren zu begegnen. Da die Skiläuferin das gebotene Manöver nicht vorgenommen habe, müsse sie zumindest 50 % seines immateriellen Schadens tragen.

Der Kläger beantragt,

1. unter Abänderung des angefochtenen Urteils das beklagte Land zu verurteilen, an ihn ein unter Berücksichtigung eines Mitverschuldens von 50 % angemessenes Schmerzensgeld nebst 4 % Zinsen seit Klagezustellung zu zahlen;

2. ferner festzustellen, daß das beklagte Land verpflichtet sei, ihm allen weiteren künftigen Schaden zu 50 % zu ersetzen, soweit kein Rechtsübergang auf öffentlich-rechtliche Versicherungsträger vorliege.

Das beklagte Land beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Es verteidigt das angefochtene Urteil und wiederholt sein erstinstanzliches Vorbringen.

Entscheidungsgründe

Die Berufung hat keinen Erfolg.

I.

Für das Klagebegehren kommt als Rechtsgrundlage nur § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG in Betracht.

1.

Auf einen Haftungsausschluß nach den Vorschriften der §§ 539 Abs. 1 Nr. 14 b, 636, 637 RVO kann sich das beklagte Land allerdings nicht berufen. Die in den §§ 636, 637 RVO geregelten Haftungsausschlüsse betreffen nur den Ersatz von Personenschäden. Im vorliegenden Fall verlangt der Kläger vom beklagten Land aber nicht Ersatz eines Personenschadens. Er macht nicht geltend, der Lehrer … habe ihn verletzt, sondern er trägt vor, durch Unachtsamkeit des Lehrers … sei ihm die Verfolgung eines Schmerzensgeldanspruchs gegen einen Dritten unmöglich gemacht worden. Im Verhältnis zum beklagten Land begehrt der Kläger mithin Ersatz eines Vermögensschadens.

2.

Es spricht auch einiges dafür, daß der Lehrer … den Zettel mit der Anschrift der Skiläuferin nicht sachgerecht verwahrt und er dadurch seine gegenüber dem Kläger bestehenden Amtspflichten schuldhaft verletzt hat. Ein dem Kläger durch die etwaige Amtspflichtverletzung entstandener Schaden läßt sich aber nicht feststellen. Der Kläger hat, wie das Landgericht zutreffend und sehr ausführlich dargelegt hat, die tatsächlichen Voraussetzungen für einen gegen die Skiläuferin bestehenden Schmerzensgeldanspruch nicht zu beweisen vermocht (§ 823 Abs. 1, 847 BGB).

Von den erstinstanzlich vernommenen Zeugen hat lediglich der Zeuge … die Kollision des Klägers und der Skiläuferin gesehen. Der Zeuge … hat bekundet: Der Kläger sei etwa vier bis fünf Meter vor der Skiläuferin zu Fall gekommen. Zwischen dem Sturz des Klägers und dem Zusammenstoß habe eine Zeitspanne von drei bis vier Sekunden gelegen. Um am Kläger vorbeizufahren, hätte die Frau „ziemlich gut“ Ski fahren müssen; das sei nur „im Slalom“ gegangen.

Unter Berücksichtigung dieser Aussage kann der Skiläuferin eine schuldhafte Verletzung des Klägers nicht vorgeworfen werden. Der Unfall war für sie als Skianfängerin vielmehr unvermeidbar. Wenn der Kläger, wie der Zeuge … bekundet hat, nur vier bis fünf Meter vor der Frau zu Fall kam und diese – wovon der Kläger selbst ausgeht (Bl. 76 d. A.) – mit einer Geschwindigkeit von etwa 15 km/h fuhr (pro Sekunde 4,17 m), verging bis zur Kollision nur eine gute Sekunde. Aber selbst wenn man, wie der Zeuge … ebenfalls angegeben hat, eine Zeitspanne von drei bis vier Sekunden zugrunde legt, bestand für die Skifahrerin als Anfängerin keine hinreichende Möglichkeit mehr, dem Kläger auszuweichen.

Der Skiläuferin ist auch nicht deshalb ein Schuldvorwurf zu machen, weil sie sich nach dem Sturz des Klägers nicht sofort hingeworfen hat. Die vom internationalen Skiverband für Skifahrer aufgestellten Verhaltensregeln (FIS-Regeln), die eine von der Rechtsprechung anerkannte Konkretisierung der Verhaltenspflichten der Skifahrer darstellen (BGH NJW 1972, 627; OLG Hamm VersR 1989, 1206), enthalten – jedenfalls in der seinerzeit geltenden Fassung – keine Bestimmungen über den sogenannten Notsturz. Ein Gebot, sich zur Vermeidung einer Kollision hinfallen zu lassen, hat das FIS-Rechtskomitee bewußt nicht in das Regelwerk aufgenommen (vgl. Scheuer DAR 1990, 121). Aber selbst wenn man unter bestimmten Voraussetzungen einen Notsturz für geboten hielte, so war die in Rede stehende Skifahrerin bei der hier gegebenen Situation jedenfalls nicht verpflichtet, sich vor dem Kläger hinfallen zu lassen; denn angesichts der Nähe zum Kläger wäre dieser dann wahrscheinlich mehr als geschehen gefährdet worden.

II.

Die Nebenentscheidungen folgen aus §§ 97 Abs. 1, 708 Nr. 10, 713 ZPO.

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