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Testfahrer – Glatteisunfall auf Versuchsgelände

BGH

Az: VI ZR 147/09

Urteil vom 08.06.2010


Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 8. Juni 2010 für Recht erkannt:

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil der 9. Zivilkammer des Landgerichts Braunschweig vom 1. April 2009 aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

Der Kläger verlangt von der beklagten Aktiengesellschaft, einem Automobilhersteller, Schmerzensgeld und materiellen Schadensersatz wegen eines Unfalls, den er auf dem Versuchsgelände der Beklagten erlitten hat.

Der Kläger ist bei der Firma …. GmbH & Co. KG (im Folgenden ….) angestellt, die durch ihre Mitarbeiter seit etwa 15 Jahren auf dem Versuchsgelände der Beklagten Testfahrten mit von der Beklagten hergestellten Fahrzeugen durchführen lässt. Die Testfahrten dienen dazu, die Fahrzeuge technisch zu überprüfen und zu verbessern und die weitere Entwicklung der Technik zukünftig herzustellender Fahrzeuge auf der Grundlage der von der Firma …. festgestellten Testergebnisse voranzutreiben.

Am 19. Januar 2006 hatte der Kläger seinen PKW vor dem Gelände abgestellt und sich zu Fuß auf das Testgelände begeben, um den Einsatzraum seiner Arbeitgeberin aufzusuchen. Auf dem Wege dorthin kam er infolge Glatteises zu Fall, wodurch sein rechtes Knie erheblich verletzt wurde. Die für seinen Beschäftigungsbetrieb zuständige Berufsgenossenschaft hat den Unfall als einen nach § 8 Abs. 1 SGB VII versicherten Arbeitsunfall anerkannt.

Die Beklagte hatte den ihr obliegenden Winterdienst (Räum- und Streupflichten) in dem Bereich, in dem der Kläger zu Fall gekommen ist, vertraglich an die Streithelferin zu 1 delegiert, die ihrerseits den Streithelfer zu 2 mit der Erfüllung dieser Verpflichtungen beauftragt hatte.

Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des Klägers wurde vom Landgericht zurückgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren weiter.

Entscheidungsgründe

I.

Nach Auffassung des Berufungsgerichts, dessen Urteil in […] veröffentlicht ist, ist eine Haftung der Beklagten sowohl hinsichtlich eines eigenen Tuns bzw. Unterlassens als auch hinsichtlich einer Haftung für die Streithelfer als Verrichtungsgehilfen ausgeschlossen.

Eine Haftung für eigenes Tun oder Unterlassen sei gemäß § 106 Abs. 3 Alt. 3 SGB VII ausgeschlossen, weil es sich bei dem Versuchsgelände um eine gemeinsame Betriebsstätte zwischen der Beklagten und dem Kläger handele und das Haftungsprivileg nicht nur für die Mitarbeiter des Unternehmers, sondern auch für den Unternehmer selbst gelte. Die Beklagte träfen als Betreiberin des Testgeländes bestimmte Verkehrssicherungspflichten, wozu auch die Streupflicht gehöre. Sie entfalte auf dem Betriebsgelände entsprechende Aktivitäten jedenfalls dadurch, dass sie das Gelände kontrolliere und ggf. Subunternehmer zur Beseitigung von Eis und Schnee einsetze. Diese Maßnahmen griffen mit der Tätigkeit des Klägers bewusst und gewollt ineinander.

Eine Haftung der Beklagten für die mit dem Winterdienst beauftragten Streithelfer als Verrichtungsgehilfen sei nach den Grundsätzen des gestörten Gesamtschuldnerausgleichs ausgeschlossen. Die Voraussetzungen des § 106 Abs. 3 Alt. 3 SGB VII seien im Verhältnis zwischen den Streithelfern und dem Kläger gegeben. Die Streithelfer würden tätig, um dem Kläger ein gefahrloses Betreten des Betriebsgeländes zu ermöglichen. Auch die Tätigkeit des Klägers weise einen Bezug zur Tätigkeit der Streithelfer auf, weil der Kläger beim Betreten des Geländes auf Räumarbeiten Rücksicht nehmen müsse und diese nicht gefährden dürfe. Das dadurch gegebene Haftungsprivileg der Streithelfer komme der Beklagten zu Gute.

II.

Das Berufungsurteil hält einer revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand, weil eine – aus seiner Sicht mit Recht nicht näher geprüfte – Haftung der Beklagten aus Verletzung der Verkehrssicherungspflicht weder wegen des Bestehens einer gemeinsamen Betriebsstätte zwischen der Beklagten und dem Kläger noch nach den Grundsätzen des gestörten Gesamtschuldverhältnisses ausgeschlossen ist.

1.

Soweit das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten für eigenes Tun oder Unterlassen gemäß § 106 Abs. 3 Alt. 3 SGB VII als ausgeschlossen ansieht, weil das Haftungsprivileg nicht nur für die Mitarbeiter des Unternehmers, sondern auch für den Unternehmer selbst gelte, entspricht dies bereits im Ansatz nicht der Rechtsprechung des erkennenden Senats. Nach gefestigter Rechtsprechung kommt dieses Haftungsprivileg nur dem versicherten Unternehmer zu Gute, der selbst auf einer gemeinsamen Betriebsstätte eine vorübergehende betriebliche Tätigkeit verrichtet und dabei den Versicherten eines anderen Unternehmens verletzt (vgl. Senatsurteile BGHZ 148, 209, 212 f.; 148, 214, 216 ff.; 155, 205, 209; 157, 9, 14; 157, 213, 216; 177, 97 Rn. 11; vom 14. Juni 2005 – VI ZR 25/04 – VersR 2005, 1397, 1398). Demnach besteht eine Haftungsprivilegierung der Beklagten schon deswegen nicht, weil nach dem festgestellten Sachverhalt die Schädigung des Klägers nicht durch ein selbst auf der Betriebsstätte tätiges Organ der Beklagten erfolgt ist.

2.

Mithin kommt nur eine Haftungsbefreiung der Beklagten nach den Grundsätzen des gestörten Gesamtschuldverhältnisses in Betracht. Eine solche ist schon deswegen nicht gegeben, weil weder eine gemeinsame Betriebsstätte zwischen dem Kläger und den mit dem Winterdienst beauftragten Mitarbeitern der Streithelfer noch eine solche zwischen dem Kläger und Mitarbeitern der Beklagten bestanden hat, die möglicherweise den Streithelfer nicht rechtzeitig beauftragt haben.

a)

Nach den vom erkennenden Senat entwickelten Grundsätzen können in den Fällen, in denen zwischen mehreren Schädigern ein Gesamtschuldverhältnis besteht, Ansprüche des Geschädigten gegen einen Gesamtschuldner (Zweitschädiger) auf den Betrag beschränkt sein, der auf diesen im Innenverhältnis zu dem anderen Gesamtschuldner (Erstschädiger) endgültig entfiele, wenn die Schadensverteilung nach § 426 BGB nicht durch eine sozialversicherungsrechtliche Haftungsprivilegierung des Erstschädigers gestört wäre (st. Rspr.: vgl. etwa Senatsurteile BGHZ 61, 51, 55; 94, 173, 176; 155, 205, 212 ff.; 157, 9, 14; vom 13. März 2007 – VI ZR 178/05 – VersR 2007, 948 Rn. 19; vom 22. Januar 2008 – VI ZR 17/07 – VersR 2008, 642 Rn. 11). In solchen Fällen hat der Senat den Zweitschädiger in Höhe des Verantwortungsteils freigestellt, der auf den Erstschädiger im Innenverhältnis entfiele, wenn man seine Haftungsprivilegierung hinweg denkt, wobei unter „Verantwortungsteil“ die Zuständigkeit für die Schadensverhütung und damit der Eigenanteil des betreffenden Schädigers an der Schadensentstehung zu verstehen ist (vgl. Senatsurteile BGHZ 110, 114, 119; 155, 205, 213; 157, 9, 14 f.; vom 13. März 2007 – VI ZR 178/05 – aaO; vom 22. Januar 2008 – VI ZR 17/07 – aaO). In Anwendung dieser Grundsätze könnte eine Haftung aus dem Gesichtspunkt des gestörten Gesamtschuldverhältnisses nur entfallen, wenn zwischen dem Kläger und den Mitarbeitern der mit dem Winterdienst beauftragten Firma oder Mitarbeitern der Beklagten eine gemeinsame Betriebsstätte im Sinne des § 106 Abs. 3 Alt. 3 SGB VII bestanden hätte.

b)

Dies ist entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts nicht der Fall.

aa)

Der Begriff der gemeinsamen Betriebsstätte erfasst betriebliche Aktivitäten von Versicherten mehrerer Unternehmen, die bewusst und gewollt bei einzelnen Maßnahmen ineinander greifen, miteinander verknüpft sind, sich ergänzen oder unterstützen, wobei es ausreicht, dass die gegenseitige Verständigung stillschweigend durch bloßes Tun erfolgte. Erforderlich ist ein bewusstes Miteinander im Betriebsablauf, das sich zumindest tatsächlich als ein aufeinander bezogenes betriebliches Zusammenwirken mehrerer Unternehmen darstellt.

Die Tätigkeit der Mitwirkenden muss im faktischen Miteinander der Beteiligten aufeinander bezogen, miteinander verknüpft oder auf gegenseitige Ergänzung oder Unterstützung ausgerichtet sein (vgl. Senatsurteile BGHZ 145, 331, 336; 155, 205, 207 f.; 157, 213, 216 f.; 177, 97 Rn. 19 m.w.N.). § 106 Abs. 3 Alt. 3 SGB VII ist nicht schon dann anwendbar, wenn zwei Unternehmen auf derselben Betriebsstätte aufeinander treffen. Eine „gemeinsame“ Betriebsstätte ist nach allgemeinem Verständnis mehr als „dieselbe“ Betriebsstätte; das bloße Zusammentreffen von Risikosphären mehrerer Unternehmen erfüllt den Tatbestand der Norm nicht. Parallele Tätigkeiten, die sich beziehungslos nebeneinander vollziehen, genügen ebenso wenig wie eine bloße Arbeitsberührung. Erforderlich ist vielmehr eine gewisse Verbindung zwischen den Tätigkeiten des Schädigers und des Geschädigten in der konkreten Unfallsituation, die eine Bewertung als „gemeinsame“ Betriebsstätte rechtfertigt (vgl. Senatsurteile vom 23. Januar 2001 – VI ZR 70/00 – VersR 2001, 372, 373; vom 14. September 2004 – VI ZR 32/04 – VersR 2004, 1604 f.).

bb)

Nach diesen Grundsätzen haben der Kläger und die Mitarbeiter der mit dem Winterdienst beauftragten Firma bzw. der Beklagten keine vorübergehende betriebliche Tätigkeit auf einer gemeinsamen Betriebsstätte ausgeübt.

Im Streitfall lagen in der konkreten Unfallsituation keine betrieblichen Aktivitäten vor, die im faktischen Miteinander der Beteiligten aufeinander bezogen oder miteinander verknüpft oder auf gegenseitige Ergänzung oder Unterstützung ausgerichtet waren. Die notwendige Arbeitsverknüpfung kann im Einzelfall zwar auch dann bestehen, wenn die von den Beschäftigten verschiedener Unternehmen vorzunehmenden Maßnahmen sich nicht sachlich ergänzen oder unterstützen, die gleichzeitige Ausführung der betreffenden Arbeiten wegen der räumlichen Nähe aber eine Verständigung über den Arbeitsablauf erfordert und hierzu konkrete Absprachen getroffen werden, etwa wenn ein zeitliches und örtliches Nebeneinander dieser Tätigkeiten nur bei Einhaltung von besonderen beiderseitigen Vorsichtsmaßnahmen möglich ist und die Beteiligten solche vereinbaren (vgl. Senatsbeschluss BGHZ 152, 7, 9; Senatsurteile BGHZ 177, 97 Rn. 19; vom 8. April 2003 – VI ZR 251/02 – VersR 2003, 904, 905; vom 13. März 2007 – VI ZR 178/05 – aaO Rn. 22). Eine solche Verständigung über ein bewusstes Nebeneinander im Arbeitsablauf hat es aber nach den getroffenen Feststellungen nicht gegeben. Diese war auch bei dem Weg des Klägers zum Einsatzraum vor Aufnahme der Testfahrten nicht erforderlich, weil hier nicht die Gefahr bestand, dass sich beide Seiten gegenseitig schädigten. Jedenfalls in diesem Stadium verrichteten die Mitarbeiter der Streithelfer bzw. der Beklagten die ihnen im Zusammenhang mit dem Winterdienst obliegenden Tätigkeiten, ohne dass der Kläger in irgendeiner Weise in den Arbeitsablauf eingebunden, daran beteiligt oder auch nur davon berührt worden wäre. Er benutzte die Wege vielmehr nur so, wie jeder betroffene Bürger, der auf den Winterdienst vertraut. Insofern bestand nicht die für eine gemeinsame Betriebsstätte typische Gefahr, dass sich die Beteiligten bei den versicherten Tätigkeiten „ablaufbedingt in die Quere kommen“ (vgl. Senatsurteil BGHZ 157, 213, 217 m.w.N.). Zudem fehlte es an dem erforderlichen wechselseitigen Bezug der betrieblichen Aktivitäten des Klägers einerseits und der am Winterdienst beteiligten Mitarbeiter andererseits. Zwar erleichterte der Winterdienst das sichere Begehen des Betriebsgeländes und diente mithin auch der Sicherheit des Klägers. Dagegen war der Weg des Klägers zu seinem Arbeitsraum in keiner Weise auf die Tätigkeit des Winterdienstes bezogen. Es bestand keine so genannte Gefahrengemeinschaft, auf der der Haftungsausschluss des § 106 Abs. 3 Alt. 3 SGB VII ausschließlich beruht (vgl. Senatsurteil BGHZ 157, 213, 218 m.w.N.). Allein der Kläger war dem Risiko ausgesetzt, durch einen unzureichenden Winterdienst zu Schaden zu kommen. Die Gefahr, dass er seinerseits den Mitarbeitern des Winterdienstes einen Schaden zufügte, war wegen des fehlenden Miteinanders im Arbeitsablauf rein theoretischer Natur. Dies reicht nicht aus, um die für eine gemeinsame Betriebsstätte typische Gefahrengemeinschaft anzunehmen.

3.

Nach allem ist eine Haftung der Beklagten weder nach § 106 Abs. 3 Alt. 3 SGB VII noch nach den Grundsätzen des gestörten Gesamtschuldverhältnisses ausgeschlossen. Die Sache ist mithin an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, um diesem die Prüfung zu ermöglichen, ob und ggf. in welcher Höhe ein Schadensersatzanspruch des Klägers gegen die Beklagte besteht. Dabei wird das Berufungsgericht gegebenenfalls auch das Senatsurteil vom 22. Januar 2008 – VI ZR 126/07 – VersR 2008, 505 zu berücksichtigen haben.

 

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