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Hinweispflicht des Gericht

BGH

Az: II ZR 10/05

Beschluss vom 18.09.2006


Leitsätze:

a) Gemäß § 139 Abs. 4 ZPO sind Hinweise grundsätzlich so frühzeitig vor der mündlichen Verhandlung zu erteilen, dass die Partei Gelegenheit hat, ihre Prozessführung darauf einzurichten.

b) Erteilt das Gericht entgegen § 139 Abs. 4 ZPO den Hinweis erst in der mündlichen Verhandlung, muss es der betroffenen Partei genügend Gelegenheit zur Reaktion hierauf geben. Kann eine sofortige Äußerung nach den konkreten Umständen nicht erwartet werden, darf die mündliche Verhandlung nicht ohne weiteres geschlossen werden. Vielmehr muss das Gericht die mündliche Verhandlung dann vertagen, soweit dies im Einzelfall sachgerecht erscheint, ins schriftliche Verfahren übergehen oder gemäß § 139 Abs. 5 i.V.m. § 296 a ZPO einen Schriftsatznachlass gewähren.

c) Unterlässt das Gericht die derart gebotenen prozessualen Reaktionen und erkennt es sodann aus einem nicht nachgelassenen Schriftsatz, dass die betroffene Partei sich in der mündlichen Verhandlung nicht ausreichend hat erklären können, ist es gemäß § 156 Abs. 2 Nr. 1 ZPO zur Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung verpflichtet.


Der II. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat am 18. September 2006 gemäß § 544 Abs. 4, Abs. 7 ZPO beschlossen:

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des 5. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 7. Dezember 2004 wird zurückgewiesen.

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten wird das Urteil des 5. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 7. Dezember 2004 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als es die Klage hinsichtlich eines 8.875.515,77 EUR nebst Zinsen übersteigenden Betrages dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt und auf die Berufung der Beklagten den Rechtsstreit hinsichtlich des Widerklageantrags zu 1 (4.705.622,70 EUR nebst Zinsen) an das Landgericht zurückverwiesen hat.

Die Sache wird im Umfang der Aufhebung zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Streitwert: 78.172.075,00 EUR (Klägerin: 8.875.515,77 EUR, Beklagte: 69.296.559,23 EUR).

Gründe:

I. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin wird zurückgewiesen, weil keiner der im Gesetz (§ 543 Abs. 2 ZPO) vorgesehenen Gründe vorliegt, nach denen der Senat die Revision zulassen darf. Die Verfahrensrügen hat der Senat geprüft und für nicht durchgreifend erachtet. Von einer weitergehenden Begründung wird gemäß § 544 Abs. 4 Satz 2, 2. Halbsatz ZPO abgesehen.

II. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten ist begründet, da das Berufungsgericht den Anspruch der Beklagten auf rechtliches Gehör (Art. 103 GG) dadurch in entscheidungserheblicher Weise verletzt hat (§ 544 Abs. 7 ZPO), dass es deren Antrag auf Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung unter Verstoß gegen § 156 Abs. 2 Nr. 1 ZPO zurückgewiesen und damit entscheidungserheblichen Vortrag im Schriftsatz vom 1. November 2004 nicht zur Kenntnis genommen hat.

1. Das Berufungsgericht war zur Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung verpflichtet, weil es den von ihm zutreffend nach § 139 Abs. 2 ZPO für erforderlich gehaltenen, nach dem gesamten Prozessverlauf für die Parteien überraschenden Hinweis zu spät, nämlich erst in der mündlichen Verhandlung erteilt hat; da sich die Beklagte hierdurch überfahren sah, hätte das Berufungsgericht von sich aus den Rechtsstreit vertagen, zumindest aber auf den entsprechenden Antrag der Beklagten die mündliche Verhandlung wiedereröffnen müssen, nachdem diese die Gelegenheit hatte, die Relevanz des Hinweises zu prüfen und ihren Vortrag darauf einzurichten.

a) Das Gericht muss – in Erfüllung seiner prozessualen Fürsorgepflicht – gemäß § 139 Abs. 4 ZPO Hinweise auf seiner Ansicht nach entscheidungserhebliche Umstände, die die betroffene Partei erkennbar für unerheblich gehalten hat, grundsätzlich so frühzeitig vor der mündlichen Verhandlung erteilen, dass die Partei die Gelegenheit hat, ihre Prozessführung darauf einzurichten und schon für die anstehende mündliche Verhandlung ihren Vortrag zu ergänzen und die danach erforderlichen Beweise anzutreten. Erteilt es den Hinweis entgegen § 139 Abs. 4 ZPO erst in der mündlichen Verhandlung, muss es der betroffenen Partei genügend Gelegenheit zur Reaktion hierauf geben. Kann eine sofortige Äußerung nach den konkreten Umständen und den Anforderungen des § 282 Abs. 1 ZPO nicht erwartet werden, darf die mündliche Verhandlung nicht ohne weiteres geschlossen werden (Sen.Urt. v. 8. Februar 1999 – II ZR 261/97, WM 1999, 1379, 1380 f.). Vielmehr muss das Gericht die mündliche Verhandlung dann vertagen, ins schriftliche Verfahren übergehen, soweit dies im Einzelfall sachgerecht erscheint, oder – auf Antrag der betreffenden Partei – gemäß § 139 Abs. 5 i.V.m. § 296 a ZPO eine Frist bestimmen, innerhalb derer die Partei die Stellungnahme in einem Schriftsatz nachbringen kann (Senat aaO). Unterlässt das Gericht die derart gebotenen prozessualen Reaktionen und erkennt es sodann aus dem nicht nachgelassenen Schriftsatz der betroffenen Partei, dass diese sich offensichtlich in der mündlichen Verhandlung nicht ausreichend hat erklären können, ist es gemäß § 156 Abs. 2 Nr. 1 ZPO zur Wiedereröffnung der mündliche Verhandlung verpflichtet.

b) Diese Grundsätze hat das Berufungsgericht verletzt und deshalb unter Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG den Vortrag der Beklagten in deren nicht nachgelassenem Schriftsatz vom 1. November 2004 nicht zur Kenntnis genommen, in dem die Beklagte näher dargelegt hat, dass und aus welchen Gründen die Klägerin entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts nicht berechtigt war, die Gesellschaftsverträge fristlos zu kündigen.

Angesichts des Prozessverlaufs war das Berufungsgericht hier gemäß § 139 Abs. 4 ZPO verpflichtet, den Hinweis, dass seiner Ansicht nach die Frage entscheidungserheblich war, ob die Gesellschaftsverträge zwischen den Parteien durch die außerordentliche Kündigung der Klägerin vom 12. Dezember 2000 oder erst durch die außerordentliche Kündigung der Beklagten vom 21. Dezember 2000 beendet worden sind, bereits frühzeitig vor der mündlichen Verhandlung zu erteilen. Beide Parteien haben schon in der ersten Instanz im Rahmen der Vielzahl der zwischen ihnen streitigen Fragen und des dadurch bedingten umfänglichen Prozessstoffes der Wirksamkeit der jeweiligen Kündigung nur untergeordnete Bedeutung beigemessen. Nachdem das Landgericht angesichts des tatsächlichen Verhaltens der Parteien ab Mitte Dezember 2000 die Frage, welche der Kündigungen berechtigt war, ausdrücklich für nicht entscheidungserheblich gehalten hatte, waren die Parteien in ihrer Bewertung dieser Frage noch bestärkt worden, was dazu geführt hat, dass dieser Punkt in der wiederum äußerst umfänglichen schriftsätzlichen Auseinandersetzung in der Berufungsinstanz bei beiden Parteien überhaupt keine Rolle mehr gespielt hat. Dem Berufungsgericht musste sich angesichts dieser konkreten Prozesssituation aufdrängen, dass sein vom landgerichtlichen Urteil abweichender Rechtsstandpunkt zur Entscheidungserheblichkeit der Kündigungen für die Parteien überraschend war. Dem hätte es durch einen frühzeitigen Hinweis Rechnung tragen müssen, um den Parteien Gelegenheit zu geben, die Auswirkungen des Hinweises auf die Entscheidung des Rechtsstreits zu prüfen und sodann ergänzend vorzutragen. Unterließ es in dieser Situation den an sich gebotenen frühzeitigen Hinweis vor der mündlichen Verhandlung und erteilte ihn statt dessen erst in der mündlichen Verhandlung, konnte es bei dem umfangreichen Prozessstoff nicht erwarten, dass die Parteien die rechtlichen Konsequenzen des Hinweises sofort in vollem Umfang überblicken und entsprechend prozessual angemessen zur Wahrung ihrer Rechte reagieren konnten. Im Hinblick hierauf drängte es sich für das Berufungsgericht auf, dieser Prozesssituation dadurch Rechnung zu tragen, dass es die mündliche Verhandlung vertagte. Es stellte einen Verstoß gegen Art. 103 GG dar, wenn es in dieser Situation die mündliche Verhandlung schloss, den Antrag der Beklagten auf Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung ablehnte und damit den in dem nicht nachgelassenen Schriftsatz der Beklagten gehaltenen ergänzenden Vortrag zur Unwirksamkeit der fristlosen Kündigung der Klägerin nicht mehr zur Kenntnis nahm.

2. a) In der wiedereröffneten mündlichen Verhandlung wird das Berufungsgericht nach gegebenenfalls noch ergänztem Vortrag der Parteien die Frage erneut zu prüfen haben, ob die Klägerin am 12. Dezember 2000 die Gesellschaftsverträge fristlos kündigen durfte. Sollte es abermals zu der Überzeugung gelangen, dass der Klägerin wegen Verzuges der Beklagten mit der erforderlichen Mitteilung zur Auflagenhöhe und zu den Verteilungsplänen ein Kündigungsgrund zur Seite stand, hat das Berufungsgericht in die bisher versäumte Gesamtabwägung einzutreten, die alle beiderseitigen Verhaltensweisen einbeziehen muss (s. zuletzt Sen.Urt. v. 21. November 2005 – II ZR 367/03, ZIP 2006, 127 ff. m.w.Nachw.). Dabei ist nicht nur das Vorgehen der Klägerin bis zum 31. Juli 2000 ergänzend heranzuziehen, nach den bisherigen Feststellungen ist vielmehr davon auszugehen, dass sich auch die Klägerin im Vorfeld ihrer Kündigung vom 12. Dezember 2000 in gravierender Weise gesellschaftswidrig verhalten hat. Sie hat es nämlich unter Verstoß gegen § 1 Abs. 5 lit. e) ATB- und GS-Vertrag unterlassen, der Beklagten einen Monat im Voraus die Änderungen in ihren Gesellschaftsverhältnissen mitzuteilen und ihr damit die Möglichkeit zu eröffnen, wegen vollständigen Wechsels der Gesellschafter der Klägerin die Verträge ohne Abfindungsverpflichtung zu kündigen. Stattdessen hat sie zugewartet und den Verkauf ihrer Geschäftsanteile an die jetzige Gesellschafterin erst am Tag nach Ausspruch ihrer eigenen fristlosen Kündigung durch eine Pressemitteilung verlautbart.

b) Für das weitere Verfahren weist der Senat ferner darauf hin, dass ein etwa wegen berechtigter Kündigung der Klägerin zustehendes Abfindungsguthaben – wie das Landgericht und das Oberlandesgericht entgegen der Ansicht der Beklagten zutreffend angenommen haben – nach der Ertragswertmethode zu berechnen sein wird. Von seinem dem Erlass des Grundurteils zugrunde liegenden Rechtsstandpunkt aus hat das Berufungsgericht deswegen mit Recht angenommen, dass eine hinreichende Wahrscheinlichkeit besteht, dass der Klägerin eine Abfindung in irgendeiner Höhe zusteht.

3. Wegen der Abhängigkeit des Erfolgs des noch im Streit befindlichen Widerklageantrags zu 1 der Beklagten von dem Schicksal des Grundurteils war auch die kassatorische Entscheidung zur Widerklage, die das Berufungsgericht von seinem Rechtsstandpunkt aus zutreffend getroffen hat, aufzuheben. Führt die wiedereröffnete Berufungsverhandlung zur Feststellung der Unbegründetheit der Klage, kann das Berufungsgericht über die zwischen den Parteien nach Grund und Höhe unstreitige Widerklageforderung selbst entscheiden und das unzulässige Teilurteil des Landgerichts durch eine eigene Sachentscheidung ersetzen.

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