Hessisches Landessozialgericht
Az.: L 8 KR 109/06 ER
Urteil vom 07.07.2006
Vorinstanz: Sozialgericht Wiesbaden, Az.: S 17 KR 115/06 ER, Urteil vom 19.05.2006
Entscheidung:
Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Wiesbaden vom 19. Mai 2006 wird zurückgewiesen.
Die Antragsgegnerin hat der Antragstellerin die außergerichtlichen Kosten beider Instanzen zu erstatten.
Gründe:
I.
Das Verfahren betrifft die freiwillige Weiterversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung nach Einstellung der Leistungen „Grundsicherung für Arbeitsuchende.
Die unter Betreuung stehende Antragstellerin war seit dem 1. Januar 2005 als Leistungsbezieherin nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch („Arbeitslosengeld II“) versicherungspflichtiges Mitglied der Antragsgegnerin. Die Zahlungen von Arbeitslosengeld II wurden mit Wirkung ab 1. März 2006 eingestellt. Gleichzeitig erfolgte die Bewilligung von Sozialhilfeleistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) durch die Landeshauptstadt A-Stadt. Die Antragsgegnerin erhielt in diesem Zusammenhang die Mitteilung, dass die Antragstellerin dauerhaft erwerbsunfähig sei und beendete die Mitgliedschaft in der Krankenversicherung zum 11. Januar 2006 (Schreiben vom 31. Januar 2006). Aus einem weiteren Schreiben vom 20. Februar 2006 ergibt sich, dass die Antragsgegnerin die Mitgliedschaft rückwirkend zum 12. Oktober 2005 als beendet angesehen hat. Eine freiwillige Weiterversicherung der Antragstellerin lehnte die Antragsgegnerin ab (Schreiben vom 28. März 2006). Über den hiergegen eingelegten Widerspruch ist noch nicht entschieden worden.
Auf den am 26. April 2006 bei dem Sozialgericht Wiesbaden gestellten Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hat das Sozialgericht mit Beschluss vom 19. Mai 2006 die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, die Antragstellerin bis zur bestands- bzw. rechtskräftigen Entscheidung über eine freiwillige Versicherung ab 26. April 2006 als freiwillig Versicherte zu führen und ihr Leistungen der Krankenversicherung zu gewähren. Das Sozialgericht hat einen Anordnungsanspruch bejaht. Die Antragstellerin sei unmittelbar vor dem Ausscheiden aus der Versicherungspflicht ununterbrochen mindestens 12 Monate versichert gewesen. Die Bewilligung von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) sei ausweislich des Bescheides der Landeshauptstadt A-Stadt vom 28. März 2006 ausdrücklich nur mit Wirkung ab 1. März 2006 aufgehoben worden. Daher habe die Antragstellerin im vorausgehenden Zeitraum auch nicht zu Unrecht Arbeitslosengeld II bezogen. Die Antragsgegnerin habe keine eigene Prüfungskompetenz zur Frage der Erwerbsfähigkeit. Zeiten des rechtswidrigen Arbeitslosengeld-II-Bezuges sollten zwar aus den Vorversicherungszeiten ausgeklammert werden. Es gebe aber keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass die Feststellungsbefugnis des SGB II-Leistungsträgers und die Tatbestandswirkung der entsprechenden Entscheidung des SGB II-Leistungsträgers haben durchbrochen werden sollen (BT-Drucksache 16/245). Zur Durchbrechung der Tatbestandswirkung fehle es an einer ausdrücklichen gesetzlichen Grundlage. Nach alledem sei der Ausschluss der Vorversicherungszeit wegen unrechtmäßigen Arbeitslosengeld-II-Bezuges durch die neue Regelung des § 9 Abs. 1 Nr. 1 SGB V auf den Fall der rückwirkenden Aufhebung der Leistungsbewilligung durch den Leistungsträger nach dem SGB II oder durch die Sozialgerichte beschränkt. Umgekehrt sei die Krankenkasse an eine bestandskräftige Feststellung des tatbestandsmäßigen SGB II-Leistungsbezuges gebunden. Auch ein Anordnungsgrund bestehe. Der Antragsteller könne wegen des Nachranges der Krankenhilfe aufgrund freiwilliger Versicherung nicht von vornherein auf die Leistungen nach dem SGB XII verwiesen werden. Insoweit könnten auch negative Kompetenzkonflikte entstehen, da die hiesige Entscheidung keine materielle Rechtskraft gegenüber dem Sozialhilfeträger entfalte. Demgegenüber seien die Interessen der Antragsgegnerin durch die gezahlten Beiträge hinreichend gewahrt. Der Ausspruch sei in zeitlicher Hinsicht auf den Tag der Eilantragstellung („gegenwärtig drohender Nachteil“) zu begrenzen gewesen.
Gegen diesen der Antragsgegnerin am 22. Mai 2006 zugestellten Beschluss richtet sich deren am 23. Mai 2006 eingelegte Beschwerde. Die Zeit des Arbeitslosengeld-II-Bezuges komme als Vorversicherungszeit nicht in Betracht, da diese Leistung mangels Erwerbsfähigkeit zu Unrecht bezogen worden sei. Es komme nicht darauf an, ob der Bewilligungsbescheid über Arbeitslosengeld II mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden sei.
Die Antragsgegnerin beantragt, den Beschluss des Sozialgerichts Wiesbaden vom 5. Mai 2006 aufzuheben und den Antrag abzulehnen.
Der Antragsteller beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.
Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichts- und der beigezogenen Verwaltungsverfahrensakte der Antragsgegnerin Bezug genommen. Diese waren Gegenstand der Beratung.
II.
Die gegen den Beschluss des Sozialgerichts Wiesbaden vom 19. Mai 2006 eingelegte Beschwerde, der das Sozialgericht nicht abgeholfen hat, ist zulässig, denn sie ist form- und fristgerecht eingelegt sowie an sich statthaft (§§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz SGG-).
Die Beschwerde ist jedoch unbegründet. Der angefochtene Beschluss des Sozialgerichts war zu bestätigen. Die Antragstellerin hat Anspruch auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Verpflichtung der Antrags- und Beschwerdegegnerin auf freiwillige Weiterversicherung ab 26. April 2006.
Nach § 86 b Abs. 2 SGG kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers (Anordnungsanspruch) vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Anordnungsgrund; S. 1). Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (S. 2). Diese Voraussetzungen liegen zu Gunsten der Antragstellerin vor. Dies hat das Sozialgericht in dem angefochtenen Beschluss rechtsfehlerfrei festgestellt und überzeugend begründet. Der Senat machte sich diese Ausführungen zu Eigen und nimmt hierauf, um Wiederholungen zu vermeiden, vollinhaltlich Bezug.
Die Antragsgegnerin und Beschwerdeführerin hat auch im Beschwerdeverfahren diese rechtsdogmatische Beurteilung des Sozialgerichts nicht widerlegen oder entkräften können. Vorliegend darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass die Zahlung des Arbeitslosengeldes II nur mit Wirkung ab 1. März 2006 eingestellt wurde, der Leistungsbezug für den vorausgehenden Zeitraum aber unberührt geblieben ist. Wenn das Sozialgericht in dem angefochtenen Beschluss feststellt, dass die Antragstellerin nicht „zu Unrecht“ Arbeitslosengeld II bezogen habe, ist darin kein offensichtlicher Rechtsfehler zu erkennen. Es kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass die Antragsgegnerin als Krankenkasse ein eigenständiges Prüfungsrecht (neben dem zuständigen Leistungsträger) zur Beantwortung der Frage besitzt, ob ein Leistungsempfänger von Arbeitslosengeld II diese Leistungen zu Unrecht bezogen hat. Dafür findet sich keine tragfähige materiellrechtliche Grundlage. Vorliegend kann nicht darüber hinweggesehen werden, dass bei der Antragstellerin durch den Bezug von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende faktisch eine Pflichtversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung entstanden war. Die dazu bestehende materiellrechtliche Normierung ist eindeutig. Versicherungspflichtig sind Personen in der Zeit, für die sie Arbeitslosengeld II nach dem SGB II beziehen (§ 5 Abs. 1 Nr. 2a SGB V). Die Versicherungspflicht besteht für die tatsächliche Bezugsdauer. Auf das Bestehen eines Rechtsanspruchs kommt es nicht an. Die rückwirkende Aufhebung des Verwaltungsakts, auf dem die Zahlung beruht, beseitigt nach ausdrücklicher Regelung (Abs. 1 Nr. 2a Halbsatz 2) die Versicherungspflicht auch dann nicht rückwirkend, wenn das Arbeitslosengeld II zurückgefordert oder zurückgezahlt wird (Krauskopf, Soziale Krankenversicherung/Pflegeversicherung, Stand Sept. 2005, § 5 SGB V, Rdnr. 16 b). Dies steht im Einklang mit dem normierten System der Rechtsbeziehungen zwischen Krankenkassen und Versicherten, wonach eine Versicherungspflicht kraft Gesetzes entsteht und die Frage einer Mitgliedschaft in der Regel vorausschauend beurteilt wird. Die Mitgliedschaft der Bezieher von Arbeitslosengeld II beginnt dementsprechend kraft ausdrücklicher Regelung mit dem Tag, von dem an die Leistung bezogen wird (§ 186 Abs. 2a SGB V). Deren Mitgliedschaft endet mit Ablauf des letzten Tages des Leistungsbezugs (§ 190 Abs. 12 SGB V).
Mit Blick hierauf muss der Senat davon ausgehen, dass die Antragstellerin die Vorversicherungszeit erfüllt hat und wirksam ihren Beitritt zur freiwilligen Versicherung nach § 9 Abs. 1 Nr. 1 SGB V erklärt hat. Die Fristen sind gewahrt. Damit ist ein Anordnungsanspruch für eine vorläufige Regelung nach dem derzeitigen Erkenntnisstand zu bejahen. Gleiches gilt für die Glaubhaftmachung des Anordnungsgrundes, den der Senat ebenfalls unter Verweis auf die Begründung des angefochtenen Beschlusses bejaht.
Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 SGG.
Dieser Beschluss kann mit der Beschwerde nicht angefochten werden (§ 177 SGG).