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Auch ein Schriftsatz mit falschem Aktenzeichen wahrt gesetzte Frist

Falsch adressiert, aber Frist gewahrt: BGH ermöglicht Neuverhandlung

Ein Schriftsatz mit falschem Aktenzeichen bewahrt die gesetzten Fristen, entschied der Bundesgerichtshof, indem er einen Beschluss des Oberlandesgerichts Braunschweig aufhob und die Angelegenheit zur neuen Verhandlung zurückwies, wobei es primär um Rückabwicklungsansprüche aus einem Fahrzeugkaufvertrag ging.

Weiter zum vorliegenden Urteil Az.: VIII ZR 238/22 >>>

✔ Das Wichtigste in Kürze

  • Der Bundesgerichtshof hob einen Beschluss des Oberlandesgerichts Braunschweig auf, der eine Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten zurückgewiesen hatte, da ein Schriftsatz mit einem falschen Aktenzeichen die Fristen gewahrt hatte.
  • Im Mittelpunkt des Falls stehen Rückabwicklungsansprüche nach einem Rücktritt von einem Fahrzeugkaufvertrag.
  • Die Beklagte hatte Berufung gegen ein landgerichtliches Urteil eingelegt, das der Klägerin weitgehend stattgab.
  • Ein irrtümlich mit einem falschen Aktenzeichen versehener Schriftsatz der Beklagten wurde als fristwahrend anerkannt.
  • Das Berufungsgericht verletzte das rechtliche Gehör der Beklagten, indem es die Berufung zurückwies, ohne zuvor über einen Antrag auf Fristverlängerung zu entscheiden.
  • Der Bundesgerichtshof sah in der Nichtberücksichtigung des Antrags auf Fristverlängerung eine entscheidungserhebliche Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör.
  • Der Fall wurde zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
  • Der Bundesgerichtshof wies darauf hin, dass, sollte die Rückgewähr des Fahrzeugs in Natur nicht mehr möglich sein, dies Auswirkungen auf das Zurückbehaltungsrecht der Beklagten haben könnte.

Die Bedeutung von Fristen im Zivilprozess

Die Einhaltung von Fristen ist im gerichtlichen Verfahren von entscheidender Bedeutung. Sie dient der Prozessökonomie und Rechtssicherheit. Welche Auswirkungen hat es jedoch, wenn ein Schriftsatz aufgrund eines fehlerhaften Aktenzeichens zunächst falsch zugeordnet wird?

Das Zivilprozessrecht sieht für Parteien zahlreiche Fristen vor, innerhalb derer bestimmte Handlungen vorzunehmen sind. Ein Versäumnis kann weitreichende Konsequenzen haben und zu einem Rechtsverlust führen. Dabei kommt es auf den rechtzeitigen Eingang der Erklärung beim Gericht an – nicht auf deren korrekte interne Weiterleitung. Entscheidend ist, dass sie innerhalb der vom Gericht gesetzten Frist in dessen Machtbereich gelangt.

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➜ Der Fall im Detail


Der BGH und das falsche Aktenzeichen: Eine juristische Klarstellung

Der Fall nimmt seinen Anfang mit der Klägerin, die nach einem Rücktritt von einem Fahrzeugkaufvertrag Rückabwicklungsansprüche gegen die beklagte Verkäuferin geltend macht. Das Landgericht gab der Klage weitgehend statt.

Schriftsatz mit falschem Aktenzeichen
(Symbolfoto: smolaw /Shutterstock.com)

Die Beklagte legte gegen dieses Urteil Berufung ein, die zunächst beim 7. Zivilsenat und dann beim 9. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Braunschweig geführt wurde. Der Prozessbevollmächtigte der Beklagten stellte aufgrund einer Auslandsreise einen Antrag auf Verlängerung der Stellungnahmefrist, der allerdings irrtümlich das falsche Aktenzeichen trug. Eine Entscheidung über diesen Antrag blieb aus, und das Berufungsgericht wies die Berufung schließlich zurück, mit der Begründung, es sei keine Stellungnahme der Beklagten innerhalb der Frist eingegangen.

Das Urteil des Bundesgerichtshofs

Der Bundesgerichtshof (BGH) setzte sich mit der Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten auseinander und entschied zugunsten einer Aufhebung des Zurückweisungsbeschlusses des Oberlandesgerichts. Der BGH hob hervor, dass die Nichtberücksichtigung des Fristverlängerungsantrags eine Verletzung des rechtlichen Gehörs darstellte, da das Berufungsgericht ohne Entscheidung über den Antrag seine abschließende Entscheidung traf. Dies entzog der Beklagten die Möglichkeit, auf den Verfahrensablauf und die Entscheidungsfindung Einfluss zu nehmen.

Die Bedeutung des rechtlichen Gehörs

Die Entscheidung des BGH betont die fundamentale Bedeutung des rechtlichen Gehörs im deutschen Rechtssystem. Der in Art. 103 Abs. 1 GG verankerte Anspruch auf rechtliches Gehör verpflichtet die Gerichte, die Ausführungen der Verfahrensbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Der Fall illustriert, wie eine vermeintlich geringfügige Säumnis – die Verwendung eines falschen Aktenzeichens – ohne angemessene Berücksichtigung zu einer erheblichen Gehörsverletzung führen kann.

Rückverweisung und Implikationen für das Berufungsgericht

Infolge der Entscheidung des BGH wird der Fall zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Dies gibt der Beklagten erneut die Gelegenheit, ihr Berufungsbegehren zu verfolgen. Der BGH weist zudem darauf hin, dass, sofern die Fristverlängerung gewährt worden wäre, das Berufungsgericht möglicherweise zu einer anderen Einschätzung der Sach- und Rechtslage gekommen wäre.

Abschluss und praktische Relevanz

Diese Entscheidung unterstreicht, dass auch formale Fehler wie ein falsches Aktenzeichen nicht zu Lasten der Verfahrensgerechtigkeit gehen dürfen. Sie zeigt auf, dass die Wahrung des rechtlichen Gehörs über prozessuale Fehler steht und betont die Notwendigkeit einer sorgfältigen und umfassenden Prüfung aller eingereichten Anträge und Schriftsätze durch die Gerichte, um die Rechte aller Beteiligten zu schützen und eine faire Verfahrensführung zu gewährleisten.

✔ Häufige Fragen – FAQ

Was bedeutet das rechtliche Gehör und warum ist es wichtig?

Das rechtliche Gehör ist ein grundlegendes Prinzip im deutschen Rechtssystem. Es bedeutet, dass jeder Mensch vor Gericht die Möglichkeit haben muss, sich zu äußern und angehört zu werden, bevor eine Entscheidung getroffen wird, die seine Rechte oder Interessen betrifft.

Konkret umfasst das rechtliche Gehör verschiedene Elemente: Das Recht, vor einer Entscheidung eine Stellungnahme abzugeben, Einsicht in die relevanten Akten zu nehmen, die Entscheidungsgründe zu erfahren und sich vertreten zu lassen. Das Gericht muss dem Betroffenen ausreichend Gelegenheit geben, sich in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht zum Verfahrensgegenstand zu äußern. Dabei muss es die Ausführungen auch tatsächlich zur Kenntnis nehmen und in Erwägung ziehen.

Das rechtliche Gehör dient mehreren wichtigen Zwecken: Es soll eine faire und ausgewogene Anhörung gewährleisten und dem Betroffenen ermöglichen, auf die Entscheidung Einfluss zu nehmen. Zudem trägt es zur Sachverhaltsaufklärung bei, indem alle relevanten Informationen und Argumente berücksichtigt werden. Nicht zuletzt fördert es das Vertrauen in den Rechtsstaat und die Akzeptanz gerichtlicher Entscheidungen.

Das rechtliche Gehör hat in Deutschland Verfassungsrang. Es ist in Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes verankert und gilt als Prozessgrundrecht sowie als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips. Auch auf EU-Ebene ist es in Art. 47 Abs. 2 der Grundrechtecharta garantiert. Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs stellt einen schwerwiegenden Verfahrensfehler dar und kann zur Aufhebung der Entscheidung führen.

Zusammengefasst ist das rechtliche Gehör ein zentrales Element eines fairen und rechtsstaatlichen Verfahrens. Es sichert die Beteiligungsrechte des Einzelnen, dient der Wahrheitsfindung und stärkt das Vertrauen in die Justiz. Seine konsequente Gewährleistung ist daher von größter Bedeutung.

Wie wirkt sich ein falsches Aktenzeichen auf ein Gerichtsverfahren aus?

Ein falsches Aktenzeichen auf einem fristgerecht bei Gericht eingegangenen Schriftsatz hat grundsätzlich keine Auswirkungen auf die Wirksamkeit des Schriftsatzes und das Gerichtsverfahren. Entscheidend ist, dass das Gericht und die anderen Beteiligten zweifelsfrei erkennen können, auf welches Verfahren sich der Schriftsatz bezieht.

Der Bundesgerichtshof hat wiederholt entschieden, dass die fehlerhafte Angabe des Aktenzeichens unschädlich ist, wenn sich aus den sonstigen Umständen, wie der korrekten Bezeichnung der Parteien oder einem eindeutigen Bezug zum Streitgegenstand, ergibt, welches Verfahren gemeint ist. Die Angabe des Aktenzeichens dient lediglich der erleichterten Zuordnung innerhalb des Gerichts, ist aber für die Sachentscheidung ohne Bedeutung.

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Würde das Gericht einen Schriftsatz allein wegen eines falschen Aktenzeichens unberücksichtigt lassen, könnte dies das Recht der Beteiligten auf rechtliches Gehör verletzen. Dieses in Art. 103 Abs. 1 GG verankerte Grundrecht verpflichtet die Gerichte, die Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Der Zugang zu einer gesetzlich vorgesehenen Instanz darf nicht unzumutbar erschwert werden.

Allerdings kann ein falsches Aktenzeichen in der Praxis zu Verzögerungen führen, wenn der Schriftsatz nicht sofort dem richtigen Verfahren zugeordnet werden kann. Die Beteiligten sollten daher im eigenen Interesse auf die Angabe des korrekten Aktenzeichens achten. Bei mehreren parallelen Verfahren zwischen denselben Parteien erhöht dies die Gefahr von Verwechslungen.

Zusammengefasst ist ein falsches Aktenzeichen auf einem fristgemäßen Schriftsatz für sich genommen unbeachtlich, solange die Identifizierung des betreffenden Verfahrens möglich bleibt. Die Gerichte müssen den Schriftsatz in diesem Fall berücksichtigen, um keine Verletzung des rechtlichen Gehörs zu riskieren. Gleichwohl empfiehlt sich zur Vermeidung von Unklarheiten und Verzögerungen die sorgfältige Prüfung des Aktenzeichens.

§ Relevante Rechtsgrundlagen des Urteils

  • § 522 Abs. 2 ZPO (Zivilprozessordnung): Regelt das Verfahren für die Zurückweisung einer Berufung ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss. Im konkreten Fall verwies der BGH darauf, dass das Berufungsgericht ohne Entscheidung über den Antrag auf Fristverlängerung zur Stellungnahme einen solchen Zurückweisungsbeschluss erließ, was eine Verletzung des rechtlichen Gehörs darstellte.
  • Art. 103 Abs. 1 GG (Grundgesetz): Garantiert das Recht auf rechtliches Gehör. Der BGH hob hervor, dass die Beklagte durch die Nichtberücksichtigung ihres Fristverlängerungsantrags in diesem Recht verletzt wurde, da sie nicht die Möglichkeit hatte, auf den Verfahrensablauf Einfluss zu nehmen.
  • § 544 Abs. 9 ZPO: Ermöglicht dem Bundesgerichtshof die Aufhebung eines Berufungsgerichtsbeschlusses und die Rückverweisung der Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht. Dies wurde angewandt, nachdem festgestellt wurde, dass eine entscheidungserhebliche Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör vorlag.
  • § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO: Betrifft die Zulassung der Revision, wenn die Sache grundsätzliche Bedeutung hat oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich ist. Der BGH fand, dass die Verletzung des rechtlichen Gehörs in diesem Fall eine Revision erforderlich machte, um eine einheitliche Rechtsprechung zu gewährleisten.
  • § 346 Abs. 1 BGB (Bürgerliches Gesetzbuch): Regelung zur Rückgewähr von Leistungen bei Rücktritt von einem Vertrag. Im Ausblick des BGH wurde angemerkt, dass, wenn der Klägerin die Rückgewähr des Fahrzeugs in Natur nicht mehr möglich wäre, das Zurückbehaltungsrecht der Beklagten nicht mehr auf deren Anspruch auf Rückgewähr des Fahrzeugs gestützt werden könnte.
  • § 348 Satz 2, §§ 320, 322 BGB: Beziehen sich auf die Zug-um-Zug-Verurteilung im Rahmen eines Rücktritts vom Kaufvertrag und die daraus resultierenden Pflichten. Der BGH deutete an, dass das Berufungsgericht diese Aspekte berücksichtigen sollte, sollte die Rückgewähr des Fahrzeugs in Natur nicht möglich sein.


Das vorliegende Urteil

BGH – Az.: VIII ZR 238/22 – Beschluss vom 20.02.2024

Der VIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 20. Februar 2024 beschlossen:

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten wird der Zurückweisungsbeschluss des 9. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Braunschweig vom 17. Oktober 2022 aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Der Gegenstandswert für das Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren wird auf 136.822,80 Euro festgesetzt.

Gründe:

I.

Die Klägerin macht nach Erklärung des Rücktritts von einem Fahrzeugkaufvertrag Rückabwicklungsansprüche gegen die beklagte Verkäuferin geltend.

Das Landgericht hat ihrer Klage weitgehend stattgegeben.

Die Beklagte hat gegen das landgerichtliche Urteil Berufung eingelegt. Das Berufungsverfahren ist zunächst beim 7. Zivilsenat des Oberlandesgerichts geführt und sodann dem 9. Zivilsenat desselben Gerichts übertragen worden. Mit Beschluss vom 7. September 2022 hat der 9. Zivilsenat darauf hingewiesen, dass er die Zurückweisung der Berufung gemäß § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO beabsichtige, und der Beklagten eine Frist zur Stellungnahme bis zum 7. Oktober 2022 gesetzt. Mit einem am 6. Oktober 2022 eingegangenen Schriftsatz hat der Prozessbevollmächtigte der Beklagten mit der Begründung, aufgrund einer kurzen Auslandsreise des Sachbearbeiters habe die notwendige Erörterung mit der Beklagten noch nicht stattfinden können, um Verlängerung der Stellungnahmefrist um zwei Wochen gebeten. Der Schriftsatz enthält irrtümlich das Aktenzeichen des vormals zuständigen 7. Zivilsenats. Eine Entscheidung über den Fristverlängerungsantrag ist nicht ergangen.

Mit Beschluss vom 17. Oktober 2022 hat das Berufungsgericht die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. In dem Beschluss heißt es, dass die Beklagte innerhalb der eingeräumten Frist keine Stellungnahme abgegeben habe.

Am 21. Oktober 2022 ist beim Berufungsgericht eine – mit dem zutreffenden Aktenzeichen versehene – Stellungnahme der Beklagten zum Hinweisbeschluss eingegangen. Das Berufungsgericht hat auf die zwischenzeitlich ergangene abschließende Entscheidung hingewiesen und eine nachfolgend erhobene Anhörungsrüge der Beklagten als unzulässig verworfen.

Mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde erstrebt die Beklagte die Zulassung der Revision mit dem Ziel, ihr Berufungsbegehren weiterzuverfolgen.

II.

Die zulässige Nichtzulassungsbeschwerde hat in der Sache Erfolg (§ 544 Abs. 9 ZPO), weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert (§ 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Alt. 2 ZPO). Das Berufungsgericht hat, wie die Nichtzulassungsbeschwerde zu Recht rügt, den Anspruch der Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) in entscheidungserheblicher Weise verletzt. Denn es hat die Berufung der Beklagten gemäß § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO zurückgewiesen, ohne zuvor über den rechtzeitig eingegangenen Antrag auf Verlängerung der Frist zur Stellungnahme zum Hinweisbeschluss gemäß § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO entschieden zu haben. Hierdurch hat es der Beklagten die Möglichkeit genommen, auf den weiteren Verfahrensablauf und den Inhalt der Entscheidung des Berufungsgerichts Einfluss zu nehmen.

1. Der in Art. 103 Abs. 1 GG verbürgte Anspruch auf rechtliches Gehör steht in einem funktionalen Zusammenhang mit der Rechtsschutzgarantie und der Justizgewährungspflicht des Staates (vgl. BVerfGE 81, 123, 129). Danach gebietet Art. 103 Abs. 1 GG, dass sowohl die normative Ausgestaltung des Verfahrensrechts als auch das gerichtliche Verfahren im Einzelfall ein Maß an rechtlichem Gehör eröffnen, das sachangemessen ist, um dem in bürgerlich-rechtlichen Streitigkeiten aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Erfordernis eines wirkungsvollen Rechtsschutzes gerecht zu werden, und das den Beteiligten die Möglichkeit gibt, sich im Prozess mit tatsächlichen und rechtlichen Argumenten zu behaupten (vgl. BVerfGE 74, 228, 233 f.; BVerfG, Beschluss vom 25. August 2015 – 1 BvR 1528/14 -; Senatsbeschluss vom 5. Juli 2022 – VIII ZR 137/21, NJW 2022, 3010 Rn. 20). Diese sollen vor einer Entscheidung, die ihre Rechte betrifft, zu Wort kommen, um Einfluss auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen zu können. Art. 103 Abs. 1 GG vermittelt allen an einem gerichtlichen Verfahren Beteiligten einen Anspruch darauf, sich zu dem in Rede stehenden Sachverhalt sowie zur Rechtslage zu äußern sowie Anträge zu stellen und Ausführungen zu machen. Dem entspricht die Pflicht des Gerichts, Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (vgl. BVerfG, NJW 2017, 3218 Rn. 47 mwN).

Aus diesem Grund ist der Anspruch auf rechtliches Gehör nicht nur dann verletzt, wenn das Gericht sofort entscheidet, ohne eine angemessene Frist abzuwarten, innerhalb deren eine eventuell beabsichtigte Stellungnahme unter normalen Umständen eingehen kann (vgl. BGH, Beschluss vom 15. Mai 2018 – VI ZR 287/17, NJW 2018, 3316 Rn. 8 mwN), oder wenn es eine den Beteiligten selbst gesetzte Frist zur Äußerung mit seiner Entscheidung nicht abwartet (BVerfG, Beschluss vom 7. Februar 2018 – 2 BvR 549/17) oder wenn die gesetzte Frist objektiv nicht für eine sachlich fundierte Äußerung zum Sachverhalt und zur Rechtslage ausreicht (BGH, Beschluss vom 15. Mai 2018 – VI ZR 287/17, aaO mwN). Vielmehr liegt eine Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs grundsätzlich auch dann vor, wenn das Gericht einen fristgerecht eingegangenen Antrag auf Verlängerung der zu einer Stellungnahme gesetzten Frist übergeht und seine den Rechtszug abschließende Entscheidung erlässt, ohne über den Fristverlängerungsantrag entschieden zu haben (vgl. BVerfG, NJW 2023, 2173 Rn. 21, 23 [Urteil ohne Entscheidung über Antrag zur Verlängerung der gesetzten Frist zur Replik]).

2. Gemessen hieran ist dem Berufungsgericht eine entscheidungserhebliche Gehörsverletzung nach Art. 103 Abs. 1 GG anzulasten.

a) Es hat die Berufung der Beklagten durch Beschluss gemäß § 522 Abs. 1 Satz 1 ZPO zurückgewiesen, ohne über deren rechtzeitig gestellten Antrag auf Verlängerung der Stellungnahmefrist zum Hinweisbeschluss entschieden zu haben.

aa) Gemäß § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO hat das Berufungsgericht oder der Vorsitzende die Parteien auf die beabsichtigte Zurückweisung der Berufung und die Gründe hierfür hinzuweisen und dem Berufungsführer binnen einer zu bestimmenden Frist Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben.

Die Möglichkeit, auf den Hinweisbeschluss des Berufungsgerichts Stellung zu nehmen, dient nach allgemeiner Auffassung dem Zweck, dem Berufungsführer das rechtliche Gehör zu gewähren. Diesem soll Gelegenheit gegeben werden, sich zu der vom Berufungsgericht beabsichtigten Zurückweisung seines Rechtsmittels zu äußern (vgl. BGH, Beschlüsse vom 17. März 2016 – IX ZR 211/14, NJW-RR 2016, 699 Rn. 5 mwN; vom 29. September 2021 – VIII ZR 226/19, Rn. 31) und dem Berufungsgericht Gesichtspunkte zu unterbreiten, die seiner Auffassung nach eine Beschlusszurückweisung hindern (vgl. BT-Drucks. 14/4722, S. 97 f.). Das schließt die Möglichkeit ein, vom Berufungsgericht für unzureichend erachtetes Vorbringen zu ändern und durch weiteren Sachvortrag zu ergänzen oder neue Angriffs- und Verteidigungsmittel – soweit berücksichtigungsfähig – geltend zu machen (vgl. Musielak/Voit/Ball, ZPO, 20. Aufl., § 522 Rn. 27). Dabei verbürgt die Gewährleistung des Art. 103 Abs. 1 GG dem Verfahrensbeteiligten auch das Recht, sich zur Rechtslage zu äußern (vgl. BVerfG, NJW 2022, 3413 Rn. 26; Senatsbeschluss vom 5. Juli 2022 – VIII ZR 137/21, NJW 2022, 3010 Rn. 20; jeweils mwN). Überdies wollte der Gesetzgeber dem Berufungsführer mit der Einräumung der Stellungnahmefrist zum Hinweisbeschluss des Berufungsgerichts die Möglichkeit geben, die Kosten des Berufungsverfahrens durch eine Rücknahme der Berufung möglichst gering zu halten (vgl. BT-Drucks. 14/4722, S. 98).

bb) Diese Möglichkeit der Einflussnahme auf das weitere Verfahren und den Inhalt der Entscheidung hat das Berufungsgericht der Beklagten genommen, indem es die Berufung ohne vorherige Verbescheidung des Fristverlängerungsantrags zurückgewiesen hat.

(1) Der von der Beklagten erstmals gestellte und mit einem erheblichen Grund (vgl. § 224 Abs. 2 ZPO) – einer aufgrund einer Auslandsreise des Sachbearbeiters noch nicht erfolgten Erörterung mit der Partei – begründete Fristverlängerungsantrag war, wie die Nichtzulassungsbeschwerde aufzeigt, bereits am 6. Oktober 2022 und damit innerhalb der noch laufenden Stellungnahmefrist beim Berufungsgericht eingegangen.

Dem fristgemäßen Eingang steht nicht entgegen, dass der betreffende Schriftsatz fälschlicherweise mit dem Aktenzeichen des vormals zuständigen 7. Zivilsenats – und nicht mit dem des nunmehr zuständigen 9. Zivilsenats – des Berufungsgerichts versehen war und deshalb der Geschäftsstelle des 9. Zivilsenats erst nach Ablauf der Stellungnahmefrist vorlag. Denn unter Berücksichtigung der weiteren Angaben in dem lediglich aus zwei Sätzen bestehenden Schriftsatz – insbesondere der namentlichen Bezeichnung der Parteien, der Nennung des betreffenden Hinweisbeschlusses mit Datum und Ende der gesetzten Frist sowie der Angabe des (vormaligen) Aktenzeichens – ergab sich eindeutig, dass sich der Antrag auf das von den Parteien nunmehr vor dem 9. Zivilsenat geführte Berufungsverfahren bezog.

Für den fristgerechten Eingang eines Schreibens bei Gericht ist es grundsätzlich nicht erforderlich, dass das Schreiben der richtigen Akte zugeordnet oder der betreffenden Geschäftsstelle übergeben wird (vgl. BVerfG, NJW 2013, 925 unter II 2; NJW 2023, 2173 Rn. 26; Senatsbeschluss vom 10. Juni 2003 – VIII ZB 126/02, NJW 2003, 3418 unter II 2). Das Gesetz schreibt die Angabe eines bereits zugeordneten und mitgeteilten Aktenzeichens nicht vor. Diese soll lediglich die Weiterleitung innerhalb des Gerichts erleichtern und für eine rasche Bearbeitung sorgen (vgl. Senatsbeschluss vom 10. Juni 2003 – VIII ZB 126/02, aaO). Für den fristgerechten Eingang des Fristverlängerungsantrags der Beklagten war deshalb allein entscheidend, dass dieser vor Ablauf der gesetzten Frist in den Machtbereich des Berufungsgerichts gelangt war (vgl. BVerfG, NJW 2023, 2173 Rn. 26; Senatsbeschluss vom 10. Juni 2003 – VIII ZB 126/02, aaO).

(2) Dementsprechend hätte das Berufungsgericht vor seiner abschließenden Entscheidung über die Berufung der Beklagten über die rechtzeitig beantragte Verlängerung der Stellungnahmefrist befinden müssen. Verzögerungen bei der Weiterleitung des Fristverlängerungsantrags innerhalb des Gerichts können unter den hier gegebenen Umständen nicht zu Lasten der Beklagten gehen. Dabei kommt es nicht darauf an, ob den Prozessbevollmächtigten der Beklagten im Hinblick auf die Angabe des unzutreffenden Aktenzeichens ein Verschulden trifft und ob er mit einer rechtzeitigen Gewährung der beantragten Fristverlängerung rechnen durfte. Denn es geht hier nicht um eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (vgl. BVerfG, NJW 2023, 2173 Rn. 27, 29; vgl. auch Senatsbeschluss vom 10. Juni 2003 – VIII ZB 126/02, NJW 2003, 3418 unter II 2).

b) Die darin liegende Gehörsverletzung ist entscheidungserheblich. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht die beantragte Fristverlängerung gewährt und bei Berücksichtigung der im Schriftsatz der Beklagten vom 21. Oktober 2022 enthaltenen Ausführungen zur Sach- und Rechtslage seine im Hinweisbeschluss geäußerte Einschätzung geändert hätte.

3. Die weiteren von der Nichtzulassungsbeschwerde erhobenen Rügen hat der Senat geprüft, jedoch nicht für durchgreifend erachtet. Von einer Begründung wird insoweit abgesehen (§ 544 Abs. 6 Satz 2 ZPO).

III.

Nach alledem ist der Zurückweisungsbeschluss des Berufungsgerichts aufzuheben und der Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 544 Abs. 9 ZPO).

Der Senat weist – die Gewährung der beantragten Fristverlängerung vorausgesetzt – vorsorglich auf folgende, bereits im Erkenntnisverfahren zu berücksichtigende Gesichtspunkte hin: Wäre der Klägerin die Rückgewähr des Fahrzeugs in Natur nicht mehr möglich, dürfte ein Zurückbehaltungsrecht der Beklagten, das erstinstanzlich noch gemäß § 348 Satz 2, §§ 320, 322 BGB zur Zug-um-Zug-Verurteilung geführt hat, nicht mehr auf deren Anspruch auf Rückgewähr des Fahrzeugs gemäß § 346 Abs. 1 BGB gestützt werden können. Zudem dürfte sich die Beklagte dann wegen der Unmöglichkeit der Gegenleistung nicht mehr im Verzug mit der Annahme des Fahrzeugs befunden haben (vgl. BGH, Urteil vom 19. Dezember 1991 – IX ZR 96/91, BGHZ 117, 1, 6).

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