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Haftungsverteilung bei Kettenauffahrunfall

Verantwortung bei Auffahrunfällen: Klärung durch OLG Hamm

Im dichten Straßenverkehr können sich unerwartete Ereignisse häufig nicht verhindern lassen. Hier haben wir den Fall eines Autounfalls, der sich in der Stadt auf der „H-Ring“ Straße ereignete. Der Hauptakteur, der Beklagte, wollte links abbiegen und hatte dazu auch den Blinker gesetzt. Die Klägerin hingegen behauptet, dass der Beklagte ohne triftigen Grund abrupt gebremst hätte, was schließlich zu einem Auffahrunfall führte. Hier wurde also die typische Frage aufgeworfen: Wer trägt die Schuld in einem solchen Unfallszenario?

Direkt zum Urteil Az.: I-7 U 24/19 springen.

Beobachtung des Verkehrs und die Rolle von Zeugenaussagen

Es wurde ermittelt, dass der Beklagte tatsächlich den linken Blinker gesetzt hatte, wie der Zeuge L glaubwürdig bestätigte. Der Zeuge L gab weiter an, dass der Beklagte vor dem Abbiegevorgang stark abgebremst habe. Dies stand jedoch im Gegensatz zur Aussage des Zeugen C. Es wurde angeführt, dass die Klägerin auf das Fahrverhalten des Beklagten hätte reagieren können, sie hatte jedoch das Manöver nicht selbst beobachtet.

Das Fahrverhalten und die Einhaltung der Sorgfaltspflicht

Das Urteil verweist auf die Verpflichtung des Fahrers, seine Fahrweise so zu gestalten, dass er bei einem Hindernis auf der Straße rechtzeitig anhalten kann. Der Beklagte setzte rechtzeitig den linken Fahrtrichtungsanzeiger und ordnete sich nicht widerlegbar links ein. Es wurde argumentiert, dass diese Maßnahmen den nachfolgenden Verkehr auf das bevorstehende Abbiegemanöver hinweisen sollten.

Der Aspekt des typischen Geschehensablaufs

Bei einem Auffahrunfall spricht der erste Anschein dafür, dass der Auffahrende den Unfall schuldhaft verursacht hat, entweder durch Nichteinhaltung des erforderlichen Sicherheitsabstands, Unaufmerksamkeit oder nicht an die Straßen- und Sichtverhältnisse angepasste Geschwindigkeit. In diesem Fall wurde jedoch ein atypischer Verlauf festgestellt, der das Verschuldungsfrage in einem anderen Licht erscheinen lässt.

Es ist klar, dass sich jeder Fahrer an die Bedingungen der Straße anpassen und vorausschauend fahren muss. Allerdings hat sich im vorliegenden Fall eine daraus resultierende besondere Betriebsgefahr nicht realisiert, da der Beklagte durch sein Verhalten die Voraussetzungen dafür geschaffen hat, dass der nachfolgende Verkehr auf das beabsichtigte Abbiegemanöver reagieren konnte. […]


Das vorliegende Urteil

OLG Hamm – Az.: I-7 U 24/19 – Urteil vom 27.11.2020

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil der Einzelrichterin der 2. Zivilkammer des Landgerichts Münster vom 25.03.2019 (Az. 02 O 318/18) wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.

Dieses sowie das angefochtene Urteil sind vorläufig vollstreckbar.

Der Klägerin wird nachgelassen, die Vollstreckung der Beklagten durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des aus den Urteilen vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Gründe

I.

Die Klägerin nimmt die Beklagten auf vollumfänglichen Ersatz ihres Schadens aufgrund eines Verkehrsunfalls in Anspruch, der sich am 14.06.2018 auf der O-Straße/Einmündung H-Ring in F ereignete.

Der Beklagte zu 1 befuhr mit seinem bei der Beklagten zu 2 haftpflichtversicherten Pkw Skoda Fabia die O-Straße in Richtung F. Hinter ihm fuhr der Zeuge L mit einem BMW 118 i, diesem folgte die Gesellschafterin der Klägerin mit dem klägerischen VW Touran.

Haftungsverteilung bei Kettenauffahrunfall
Bei Auffahrunfällen ist die Schuldfrage komplex. Das OLG Hamm betont, dass das rechtzeitige Setzen des Blinkers und die angemessene Reaktion des nachfolgenden Verkehrs entscheidend sind. (Symbolfoto: ColorMaker /Shutterstock.com)

Der Beklagte zu 1 beabsichtigte, nach links abzubiegen und bremste sein Fahrzeug zu diesem Zweck ab. Es kam zu einem Kettenauffahrunfall, bei dem zunächst der Zeuge L auf das Beklagtenfahrzeug auffuhr, sodann die Gesellschafterin der Klägerin auf das Fahrzeug des Zeugen L, welches dann erneut auf das Beklagtenfahrzeug aufgeschoben wurde.

Die Klägerin hat erstinstanzlich behauptet, der Beklagte zu 1 habe plötzlich ohne erkennbaren Anlass eine Vollbremsung vorgenommen, da er beabsichtigt habe, vor dem an der Ecke O-Straße/H-Ring gelegenen Imbiss zu halten. Er habe den Blinker nicht betätigt. Diesen Unfallhergang habe er nach dem Unfall auch gegenüber den hinzugerufenen Polizeibeamten sowie der Zeugin M bestätigt.

Dem Zeugen L sowie ihrer Gesellschafterin sei es nicht mehr möglich gewesen, rechtzeitig zu bremsen.

Die Beklagten haben behauptet, der Beklagte zu 1 habe den als Beifahrer in seinem Fahrzeug befindlichen Zeugen C nach Hause bringen und deshalb in den H-Ring abbiegen wollen.

In Höhe des Beginns des letzten Hauses auf der linken Seite der O-Straße vor dem H-Ring habe der Zeuge C ihm bedeutet, dass er jetzt nach links abbiegen müsse. Daraufhin habe der Beklagte zu 1 den linken Fahrtrichtungsanzeiger gesetzt und gleichzeitig gebremst. Er habe sich zur Fahrbahnmitte eingeordnet. Wegen Gegenverkehrs habe er nicht sofort abbiegen können, sondern habe zunächst anhalten müssen. Dabei habe er nicht stark gebremst.

Die Beklagten haben behauptet, der Unfall sei darauf zurückzuführen, dass die Gesellschafterin der Klägerin bzw. der Zeuge L unaufmerksam gewesen seien oder den erforderlichen Sicherheitsabstand nicht eingehalten hätten.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes einschließlich der erstinstanzlich gestellten Anträge der Parteien wird gemäß § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils (Bl. 64 ff. d. A.) Bezug genommen.

Das Landgericht hat die Klage nach persönlicher Anhörung der Gesellschafterin der Klägerin und des Beklagten zu 1. sowie Vernehmung der Zeugen L und C abgewiesen.

Zur Begründung hat es ausgeführt, nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme stehe fest, dass der Beklagte zu 1 in die Straße „H-Ring“ habe abbiegen wollen, sich soweit möglich nach links eingeordnet und den Blinker gesetzt habe. Die Behauptung der Klägerin, er habe ohne verkehrsbedingten Grund eine Vollbremsung vorgenommen, sei hingegen nicht bewiesen worden.

Die entsprechende Angabe der Gesellschafterin der Klägerin sei widerlegt durch die Aussage der Zeugen L und C.

Aufgrund der glaubhaften Angabe des Zeugen L stehe zunächst fest, dass der Beklagte zu 1 links geblinkt habe.

Zwar habe der Zeuge L im Gegensatz zu dem Zeugen C bestätigt, dass der Beklagte zu 1 vor dem Abbiegevorgang stark abgebremst habe.

Dies allein führe jedoch nicht zu einer Haftung der Beklagten. Vielmehr spreche die Anscheinsvermutung dafür, dass der Zeuge L den erforderlichen Sicherheitsabstand nicht eingehalten habe, ebenso wie die Gesellschafterin der Klägerin. Umstände, die eine Mithaftung des Linksabbiegers rechtfertigen würden, könnten nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht festgestellt werden.

Möglicherweise sei zwar der Bremsweg für das klägerische Fahrzeug durch das vorangegangene Auffahren des Zeugen L verkürzt worden. Dies würde jedoch nicht zu einer Haftung der Beklagten, sondern allenfalls zu einer Mithaftung des Zeugen L führen und nicht zu einem stattgebenden Urteil für die Klägerin.

Wegen der weiteren Einzelheiten der Begründung wird auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils verwiesen.

Gegen dieses Urteil wendet sich die Klägerin mit ihrer Berufung, mit der sie ihr erstinstanzliches Klagebegehren vollumfänglich weiterverfolgt.

Sie meint, das Landgericht habe aufgrund falscher Beweiswürdigung ein Verschulden des Beklagten zu 1 verneint. Zunächst habe es versäumt, die klägerseits benannten Zeugen K, T und M zu der plötzlichen und unvorhersehbaren Vollbremsung des Beklagten zu 1 zu vernehmen. Hätten die Zeugen die Vollbremsung bestätigt, wäre auch – ggf. durch Sachverständigengutachten – nachgewiesen worden, dass der Anhalteweg für die Gesellschafterin der Klägerin unzumutbar verkürzt worden und es ihr nicht möglich gewesen sei, rechtzeitig abzubremsen. Darüber hinaus sei das Landgericht zu Unrecht von einem Anscheinsbeweis zu Lasten der Klägerin ausgegangen, da es an einem typischen Geschehensablauf fehle.

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Die Klägerin beantragt, unter Abänderung des am 25.03.2019 verkündeten Urteils des Landgerichts Münster, Az. 02 O 318/18, die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an sie einen Betrag i.H.v. 21.790,12 EUR nebst Zinsen i.H.v. 5%-punkten über dem Basiszinssatz seit dem 22.09.2018 sowie vorgerichtliche Kosten i.H.v. 502,30 EUR nebst Zinsen i.H.v. 5%-punkten über dem Basiszinssatz seit dem 26.10.2018 zu zahlen.

Die Beklagten beantragen, die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigen das erstinstanzliche Urteil.

Das Landgericht habe sich zutreffend auf die Angaben der Zeugen L und C gestützt. Diese hätten angegeben, dass der Beklagte zu 1 nach links geblinkt und gebremst habe. Die Gesellschafterin der Klägerin selbst habe wegen der Sichtbehinderung durch das Fahrzeug des Zeugen L bereits keine Angaben zum Fahrverhalten des Beklagten zu 1 machen können. Die Behauptung der Klägerin, dieser habe grundlos gebremst, stelle eine Behauptung ins Blaue hinein dar, für die keine tatsächlichen Anhaltspunkte bestünden. Tatsächlich hätten der Zeuge L und die Fahrerin des Klägerfahrzeugs den einzuhaltenden Sicherheitsabstand unterschritten. Dies allein sei kausal für das spätere Unfallgeschehen geworden. Für einen Sorgfaltspflichtverstoß der Gesellschafterin der Klägerin spreche bereits ein Anscheinsbeweis.

Dieser sei auch durch die Angaben des Zeugen L, wonach der Beklagte zu 1 zunächst rechts geblinkt und dann stark abgebremst habe, nicht erschüttert worden, da der Zeuge C anderslautende Angaben gemacht habe.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.

Der Senat hat den Beklagten zu 1 persönlich gem. § 141 ZPO angehört und ergänzend Beweis erhoben durch erneute Vernehmung des Zeugen C.

Wegen des Ergebnisses der Anhörung und der Beweisaufnahme wird auf den Berichterstattervermerk vom 04.09.2020 (Bl. 146 ff. d. A.) Bezug genommen.

II.

Die zulässige Berufung ist unbegründet und war daher zurückzuweisen.

1.

a)

Im Ergebnis zu Recht ist das Landgericht davon ausgegangen, dass der Klägerin aufgrund des Verkehrsunfallereignisses keine Ersatzansprüche gegen die Beklagten gemäß §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1, 17 Abs. 1 und 2 StVG, bezüglich der Beklagten zu 2 i.V.m. 115 Abs. 1 Nr. 1 VVG, zustehen.

aa)

Der streitgegenständliche Verkehrsunfall, bei dem unstreitig das im Eigentum der Klägerin stehende Fahrzeug beschädigt wurde, hat sich zunächst beim Betrieb des Beklagtenfahrzeugs ereignet, auch wenn es zu keiner direkten Kollision der beiden Fahrzeuge gekommen ist.

Das Haftungsmerkmal „bei Betrieb“ ist nach der Rechtsprechung des BGH entsprechend dem umfassenden Schutzzweck der Vorschrift weit auszulegen (Urteil vom 08.12.2015, VI ZR 139/15 – juris Rn. 11). Es genügt, dass sich eine von dem Kraftfahrzeug ausgehende Gefahr ausgewirkt hat, und das Schadensgeschehen in dieser Weise durch das Kraftfahrzeug mitgeprägt worden ist (BGH, Urteil vom 08.12.2015, a.a.O.; OLG Hamm, Urteil vom 21.05.2019, 9 U 56/18 – juris; Laws/Lohmeyer/Vinke in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, Stand: 25.03.2020, § 7 StVG Rn. 25). Der erforderliche Ursachenzusammenhang mit dem Betrieb setzt nicht unbedingt eine Fahrzeugberührung voraus. Allerdings muss das Kraftfahrzeug über seine bloße Anwesenheit hinaus durch seine Fahrweise (oder sonstige Verkehrsbeeinflussung) zu der Entstehung des Schadens beigetragen haben; eine mittelbare Verursachung des Unfalls ist ausreichend (BGH, Urteil vom 22.11.2016, VI ZR 533/15, NJW 2017, 1173; König, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 45. Aufl. 2019, § 7 StVG Rn. 10).

Der Beklagte zu 1 hat sein Fahrzeug im fließenden Verkehr zwecks Abbiegens abgebremst und dadurch eine kritische Verkehrslage für den nachfolgenden Verkehr geschaffen, der auf das Bremsen seinerseits reagieren musste (vgl. dazu BGH, Urteil vom 22.11.2016, a.a.O. Rn. 17). Das Fahrverhalten des Beklagten zu 1 hat sich damit auf die Fahrweise der nachfolgenden Fahrzeuge ausgewirkt, sodass nach der vom BGH vorgenommenen weiten Auslegung das Merkmal „bei Betrieb“ des Beklagtenfahrzeugs auch hinsichtlich des Klägerfahrzeugs erfüllt ist.

Höhere Gewalt im Sinne des § 7 Abs. 2 StVG liegt nicht vor.

bb)

Der Unfall war jedenfalls für die Fahrerin des klägerischen Fahrzeugs nicht unabwendbar.

Unabwendbar i.S.d. § 17 Abs. 3 StVG ist ein Ereignis, das auch durch äußerste Sorgfalt, die insbesondere die Einhaltung der geltenden Verkehrsvorschriften beinhaltet, nicht abgewendet werden kann. Abzustellen ist insoweit auf das Verhalten des sog. „Idealfahrers“ (OLG Hamm, Urteil vom 03.06.2016, Az. 7 U 14/16 – juris; König, in: Hentschel/König/Dauer, a.a.O., § 17 StVG Rn. 22 m.w.N.). Zur äußersten Sorgfalt gehört die Berücksichtigung aller möglichen Gefahrenmomente.

Den Beweis für die Unabwendbarkeit des Unfallgeschehens muss jeweils die Partei führen, die sich darauf beruft (König, in: Hentschel/König/Dauer, a.a.O., § 17 StVG, Rn. 23).

Für eine Unabwendbarkeit des Unfalls für den Beklagten zu 1 i.S.d. § 17 Abs. 3 StVG spricht vordergründig, dass er keinen direkten Einfluss auf die Kollision des klägerischen Fahrzeugs mit dem des Zeugen L hatte. Allerdings bleibt zu Lasten der Beklagten nach dem Ergebnis der erst- und zweitinstanzlichen Beweisaufnahme die Möglichkeit im Raum stehen, dass der Beklagte zu 1 durch eine zunächst irrtümlich verwechselnde Betätigung des rechten Fahrtrichtungsanzeigers einen Gefahrenmoment geschaffen hat, was letztlich aber offen bleiben kann, da dies im Rahmen der Abwägung der Verursachungsbeiträge jedenfalls – wie nachfolgend ausgeführt wird – zurücktritt.

Eine Unabwendbarkeit des Unfalls für die Fahrerin des klägerischen Fahrzeugs ist weder schlüssig dargetan noch sonst ersichtlich.

Nach eigenem Bekunden im Rahmen ihrer persönlichen Anhörung als gesetzliche Vertreterin der Klägerin gemäß § 141 ZPO in erster Instanz hat sie auf Nachfrage schließlich eingeräumt, erst auf die für sie überraschende Vollbremsung durch den Zeugen L reagiert zu haben; denn das Fahrmanöver des Beklagten zu 1 habe sie selbst gar nicht beobachtet.

Insoweit ist zunächst bereits weder dargetan noch sonst ersichtlich, dass ihr dies, also die idealfahrertypische Beobachtung des weiteren innerorts vorausfahrenden Verkehrs, nicht möglich gewesen wäre oder dass auch bei Beobachtung keine andere, insbesondere frühere Reaktion zur Unfallvermeidung geführt hatte; denn die Prüfung der Unabwendbarkeit im Sinne des § 17 Abs. 3 StVG darf sich nicht auf die Frage beschränken, ob der Fahrer in der konkreten Gefahrensituation wie ein Idealfahrer reagiert hat, sondern ist auf die weitere Frage zu erstrecken, ob ein Idealfahrer überhaupt in die konkrete Gefahrenlage geraten wäre. Es wird ein Unfall, der sich aus einer abwendbaren Gefahrenlage entwickelt, nicht dadurch unabwendbar, dass sich der Fahrer in der Gefahr nunmehr – zu spät – ideal verhält (BGH, Urteil vom 13.12.2005, VI ZR 68/04, NJW 2006, 896 Rn. 21; OLG Düsseldorf, Urteil vom 31.03.2020, 1 U 101/19 – juris Rn. 29).

Dass der Unfall für die Fahrerin des klägerischen Fahrzeugs auch bei (möglicher) Beobachtung des weiteren vorausfahrenden Verkehrs unabwendbar war, lässt sich dem zugrunde zulegenden klägerischen Vortrag nicht entnehmen.

Soweit die Klägerin, obwohl die Fahrerin ihres Fahrzeugs die Fahrweise des Beklagten zu 1 selbst gar nicht beobachtet hat, gleichwohl behauptet hat, der Beklagte zu 1 habe abrupt ohne rechtzeitiges Einordnen und ohne Betätigung des Fahrtrichtungsanzeigers abgebremst, um zu einem linksseitig hinter der Einmündung H-Ring gelegenen Imbiss zu fahren, soll diese Version schlicht aus nach dem Unfall am Unfallort geführten Gesprächen folgen. Ein solcher Ablauf ist jedoch nach dem Ergebnis der erst- und zweitinstanzlichen Beweisaufnahme zweifelsfrei widerlegt. Fahrtziel des Beklagten zu 1 und damit Anlass für ein Abbremsen zwecks Linksabbiegens war, dass er seinen Beifahrer, den Zeugen C, der im H-Ring wohnte, nach Hause bringen wollte. Das haben der Beklagte zu 1 und der Zeuge C übereinstimmend bekundet. Anhaltspunkte dafür, dass sie die Unwahrheit gesagt haben könnten, bestehen nicht. Vielmehr passt dazu, dass der Zeuge L, der sich mit dem von ihm geführten Pkw direkt hinter dem des Beklagten zu 1 befand, ausgesagt hat, der Beklagte zu 1 habe erst den rechten und dann den linken Fahrtrichtungsanzeiger betätigt, bevor er nach seinem Empfinden im Bereich der linksseitigen Einmündung „H-Ring“ stärker abgebremst habe. Von einem plötzlichen abrupten Abbremsen zwecks Linksabbiegens ohne jede Betätigung eines Fahrtrichtungsanzeigers auf den Parkplatz vor dem Imbiss kann also nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht die Rede sein. Infolgedessen kann dahinstehen, was Inhalt der Gespräche nach dem Unfall zwischen den Beteiligten war. Entgegen klägerischer Ansicht bedurfte es insoweit keiner ergänzenden Beweisaufnahme, und zwar konkret weder zum Inhalt der Gespräche am Unfallort noch zur Unvermeidbarkeit der Kollision für die klägerische Fahrerin unter Zugrundelegung des durch die Beweisaufnahme widerlegten Hergangs eines plötzlichen und unangekündigten Abbiegemanövers des Beklagten zu 1 durch Einholung des in der Klageschrift (Bl. 3 GA) sowie in der Berufungsbegründung (Bl. 101 GA) explizit nur hierfür angebotenen Sachverständigengutachtens.

Soweit die klägerischen Behauptungen in Bezug auf die Fahrweise des Beklagten zu 1 vor dem Unfall lediglich auf Vermutungen und der Interpretation von Äußerungen nach dem Unfall beruhen, sind sie in der Klageschrift nicht als solche kenntlich gemacht worden. Damit wäre die Klage an sich bereits als unschlüssig anzusehen (vgl. hierzu OLG Hamm, NJW-RR 2017, 281 unter RN 23, beck-online); allerdings ist auf der Basis gefestigter Rechtsprechung des BGH grundsätzlich davon auszugehen, dass sich eine Partei regelmäßig ein für sie günstiges Beweisergebnis zu eigen macht (vgl. BGH, Beschluss vom 29.8.2018 – VII ZR 195/14, NJW-RR 2018, 1287, beck-online sowie Beschluss vom 28. Januar 2016 – VII ZR 126/13 -, Rn. 13, juris). Ob dieser Grundsatz auch vorliegend eingreift, obwohl die Berufungsbegründung an der Version einer plötzlichen und unvorhersehbaren Vollbremsung festhält, kann dahinstehen, da auch in Anwendung des Grundsatzes eine Unabwendbarkeit für die klägerische Fahrerin nicht annehmbar ist.

Insoweit steht nach dem Ergebnis der erst- und zweitinstanzlich ergänzend durchgeführten Beweisaufnahme fest, dass der Beklagte zu 1 unter Anpassung seiner Geschwindigkeit in Annäherung an die nur wenige Meter auseinanderliegenden, zunächst in Fahrtrichtung rechts- und dann linksseitig gelegenen Nebenstraßen „H-Ring“ zuerst kurzzeitig den rechten und dann den linken Fahrtrichtungsanzeiger betätigt hat. Es ist weder dargetan noch sonst ersichtlich, dass bzw. warum die klägerische Fahrerin trotz Geschwindigkeitsverringerung und beidseitigen Betätigens des Fahrtrichtungsanzeigers keinerlei Anhaltspunkt für eine bevorstehende Stockung im innerstädtischen Verkehr, in dem vermehrt mit verkehrsbedingtem Abbremsen der Vorausfahrenden zu rechnen ist, gehabt haben sollte. Insoweit bleibt offen, ob sie nicht bei (möglicher) Beobachtung des Fahrverhaltens des Beklagten zu 1, das ein Fahrmanöver unter Abbremsen erwarten ließ, mit dadurch herausgeforderter erhöhter Bremsbereitschaft die gefährliche Situation, erst auf die überraschende Vollbremsung des Vordermannes L reagieren zu können, vermieden hätte – was wiederum im Rahmen des § 17 Abs. 3 StVG zu Lasten der für die Unabwendbarkeit nachweispflichtigen Klägerin geht.

cc)

Die damit eröffnete Abwägung gem. § 17 Abs. 1 und 2 StVG ist aufgrund aller feststehenden, d.h. unstreitigen, zugestandenen oder bewiesenen Umstände vorzunehmen, die sich auf den Unfall ausgewirkt haben. In erster Linie ist hierbei das Maß der Verursachung von Belang, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben. Ein Faktor bei der Abwägung ist dabei das beiderseitige Verschulden (so der BGH in std. Rspr., vgl. z.B. BGH, Urteil vom 15.05.2018, VI ZR 231/17, r+s 2018, 447, Rn. 10 m.w.N.).

(1)

Zunächst ist vorauszuschicken, dass nach ständiger Rechtsprechung des BGH im Rahmen der Abwägung der Verursachungsanteile unter mehreren Unfallbeteiligten diejenigen für die Feststellung der auf sie entfallenden Quote eine Einheit bilden, deren Verhalten sich im Wesentlichen in ein und demselben zum Unfall führenden Ursachenbeitrag ausgewirkt hat, bevor der von einem oder mehreren anderen Beteiligten zu vertretende Kausalverlauf hinzugetreten ist. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn die Verhaltensweisen mehrerer Schädiger zu einem einheitlichen unfallursächlichen Umstand geführt haben (Haftungseinheit, vgl. BGH, r + s 1996, 261, beck-online). Daran fehlt es, wenn mehrere Schädiger voneinander verschiedene Verursachungsfaktoren gesetzt haben. Sind die Verantwortungsbeiträge der an dem Erstunfall Beteiligten nicht identisch und verschmelzen sie nicht zu einem einheitlichen Tatbeitrag miteinander, bevor es zu dem Zweitunfall kam (so aktuell OLG Hamm, Urteil vom 08. November 2019 – I-9 U 10/19 -, juris für den Fall, dass bei einem Erstunfall KFZ-Teile auf die Fahrbahn gelangen, die als Zweitunfall von einem nachfolgenden Kraftfahrer überfahren werden), stehen die Verantwortungsbeiträge der Beteiligten des Erstunfalls im Verhältnis zu dem des Geschädigten des Zweitunfalls selbständig nebeneinander; es ist nämlich eine Gefahrenaddition (Gefahrerhöhung) eingetreten (vgl. hierzu Lemcke, r + s 2009, 45, beck-online).

Nach Maßgabe dieser Grundsätze fehlt es an einer Haftungseinheit zwischen den unzweifelhaft eine Haftungseinheit bildenden Beklagten einerseits und dem Zeugen L andererseits; denn entweder hat jeweils allein der Beklagte zu 1 durch Verstoß gegen die Sorgfaltsanforderungen beim Linksabbiegen oder der Zeuge L infolge Nichtbeachtung der gebotenen Aufmerksamkeit oder Unterschreitung des erforderlichen Abstandes zum Zweitunfall beigetragen oder es haben sich beide Beiträge jeweils ausgewirkt. Keinesfalls aber sind beide zu einem einheitlichen Tatbeitrag verschmolzen (so auch Lemcke, r + s 2009, 45, 48 unter 2., beck-online).

Folglich kommt vorliegend eine Haftungsquote nur im Rahmen einer bilateralen Einzelabwägung im Verhältnis zwischen Geschädigtem (Klägerin) und in Anspruch genommenem Schädiger (hier dem Beklagten zu 1 bzw. den Beklagten als Haftungseinheit) in Betracht. Der Haftungsanteil des weiteren möglichen Schädigers (hier des Zeugen L) sowie die Betriebsgefahr des von ihm geführten Fahrzeugs sind im Rahmen einer Gesamtabwägung erst zu berücksichtigen, wenn dieser in Anspruch genommen wird (vgl. BGH, Urteil vom 13.12.2005, a.a.O.; OLG Hamm, Urteil vom 20.03.2000, 6 U 216/99 – juris Rn. 19 f.; Scholten, in: Freymann/Wellner, a.a.O., Rn. 46 ff.; s. dazu auch Lemcke, r + s 2009, 45 ff.).

(a)

Dem Beklagten zu 1 ist auch nach dem Ergebnis der ergänzenden Beweisaufnahme durch den Senat kein Verkehrsverstoß anzulasten.

(aa)

Zunächst kann ein Verstoß gegen die Sorgfaltspflichten beim Linksabbiegen gem. § 9 Abs. 1 StVO nicht festgestellt werden.

Die auf die Angaben der Zeugen L und C gestützte Feststellung des Landgerichts, dass der Beklagte zu 1 beabsichtigt habe, nach links in den H-Ring abzubiegen, ist aus Sicht des Senats – wie bereits zur Unabwendbarkeit ausgeführt – nicht zu beanstanden.

Ausgehend von dem damit einschlägigen Pflichtenprogramm des § 9 Abs. 1 StVO war der Beklagte zu 1 gehalten, den beabsichtigten Abbiegevorgang gemäß § 9 Abs. 1 S. 1 StVO rechtzeitig durch Setzen des linken Fahrtrichtungsanzeigers anzukündigen. Dies hat eine Warnfunktion für den nachfolgenden Verkehr, der die Absicht des Vorausfahrenden erkennen soll, um auf die Gefährdung, die aus der Verringerung der Fahrgeschwindigkeit einerseits und dem Richtungswechsel andererseits folgt, reagieren zu können (vgl. Scholten, in: jurisPK-Straßenverkehrsrecht, a.a.O., § 9 Rn. 13).

Dass der Beklagte zu 1 diese Pflicht verletzt hat, ist auch nach dem Ergebnis der ergänzenden Beweisaufnahme durch den Senat nicht festzustellen.

Der Zeuge L hat, obwohl für ihn nachteilig, nicht den klägerischen Vortrag bestätigt, sondern angegeben, der Beklagte zu 1 habe den linken Fahrtrichtungsanzeiger gesetzt.

Dass auf der Grundlage des Ergebnisses der zweitinstanzlichen Anhörung des Beklagten zu 1 sowie der Vernehmung des Zeugen C in Bestätigung der Aussage des Zeugen L (dessen ergänzender Vernehmung durch den Senat es daher nicht mehr bedurfte) anzunehmen ist, dass der Beklagte zu 1 den Fahrtrichtungsanzeiger zunächst nach rechts und erst dann nach links betätigt hat, wirkt sich nicht aus; denn auch bei einem Rechtsabbiegen ist mit einer Verringerung der Geschwindigkeit und mit einem Abbremsen zu rechnen, worauf sich der nachfolgende Verkehr einzustellen hat, so dass die Warnfunktion auch in diesem Fall erfüllt wird. Ein Wechsel hebt die Funktion nicht auf, sondern ein erkannter Wechsel fordert im Gegenteil eine erhöhte Aufmerksamkeit durch den nachfolgenden Verkehr.

Zudem kann nicht festgestellt werden, dass das Setzen des „richtigen“ (linken) Fahrtrichtungsanzeigers nicht rechtzeitig erfolgt ist. Der Beklagte zu 1 hat in seiner persönlichen Anhörung vor dem Senat angegeben, er habe den Wechsel an der Einmündung der Einbahnstraße (U-Str..) vorgenommen. Dies deckt sich mit der Angabe des Zeugen L in seiner erstinstanzlichen Vernehmung. Die entsprechende Einmündung befindet sich ausweislich des in der mündlichen Senatsverhandlung herangezogenen Kartenausdrucks mindestens 15 m vor der Fahrspur des H-Rings, in die der Beklagte zu 1 abbiegen wollte, und damit in einer ausreichenden Entfernung, um von einem rechtzeitigen Setzen des Fahrtrichtungsanzeigers auszugehen. Ein späterer Wechsel nach links ergibt sich auch nicht aus den insoweit unergiebigen Angaben des Zeugen C.

(bb)

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme kann darüber hinaus nicht festgestellt werden, dass sich der Beklagte zu 1 entgegen § 9 Abs. 1 Satz 2 StVO nicht rechtzeitig bis zur Mitte der Fahrbahn eingeordnet hat. Dies haben die vernommenen Zeugen weder erstinstanzlich noch zweitinstanzlich bestätigt. Der Zeuge C hat vielmehr vor dem Landgericht angegeben, der Beklagte zu 1 habe sich links gehalten, um links abbiegen zu können.

(cc)

Schließlich ist dem Beklagten zu 1 auch kein Verstoß gegen § 9 Abs. 1 Satz 4 StVO anzulasten, wonach vor dem Einordnen und nochmals vor dem Abbiegen auf den nachfolgenden Verkehr zu achten ist.

Insoweit ist die Angabe des Beklagten zu 1 in seiner persönlichen Anhörung vor dem Senat, wonach zu dem hinter ihm befindlichen Fahrzeug des Zeugen L genügend Abstand bestanden habe, als er in der Mitte der Verkehrsinsel das letzte Mal nach hinten geschaut habe, nicht widerlegt.

(dd)

Vor diesem Hintergrund ist auch nicht von einem Verstoß des Beklagten zu 1 gegen § 4 Abs. 1 Satz 2 StVO auszugehen.

Danach darf, wer vorausfährt, nicht ohne zwingenden Grund stark bremsen.

Insofern hat die Klägerin schon nicht nachgewiesen, dass der Beklagte zu 1 i.S.d. Vorschrift stark gebremst hat. Starkes Bremsen bedeutet eine Verringerung der Geschwindigkeit, die deutlich über das Maß eines normalen Bremsvorgangs hinausgeht (König, in: Hentschel/König/Dauer, a.a.O., § 4 Rn. 14; Helle, in: Freymann/Wellner, a.a.O., § 4 StVO Rn. 22).

Der Zeuge L hat angegeben, der Beklagte zu 1 habe „relativ stark“ gebremst, so dass er selbst eine Vollbremsung eingeleitet habe (Bl. 57 d.A.). Die Einschätzung „relativ stark“ ist nicht geeignet, hinreichende Rückschlüsse auf den konkreten Bremsvorgang und die Intensität des Bremsens zuzulassen, so dass schon die Aussage des Zeugen L nicht geeignet ist, nach dem Maßstab des § 286 ZPO überhaupt ein starkes Bremsen festzustellen. Vor allem bestand hierzu, vor dem Hintergrund, dass eine Geschwindigkeitsverringerung zwecks bereits durch den Fahrtrichtungsanzeiger angekündigten Abbiegens ohnehin erforderlich war, kein Grund. Hinzu kommt, dass der Zeuge C bekundet hat, der Beklagte zu 1 habe „normal“ gebremst und keine Vollbremsung gemacht, so dass jedenfalls von einem non liquet auszugehen ist.

Jedenfalls kann nicht festgestellt werden, dass der Beklagte zu 1 ein etwaiges starkes Bremsen – ein solches unterstellt – ohne zwingenden Grund vorgenommen hat.

Auf der Grundlage der erstinstanzlichen Bekundung des Beklagten zu 1, die durch die Beweisaufnahme nicht widerlegt wurde, war er aufgrund des entgegenkommenden bevorrechtigten Gegenverkehrs gezwungen, abzubremsen.

Damit liegt jedoch ein zwingender Grund für das Abbremsen i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 StVO vor. Der Beklagte zu 1 war gem. § 9 Abs. 3 Satz 1 StVO verpflichtet, Gegenverkehr durchzulassen. Da der Beklagte zu 1 – wie dargetan – nicht gegen die sich aus § 9 Abs. 1 StVO ergebenden Pflichten beim Linksabbiegen verstoßen hat, durfte er zu diesem Zweck auch stärker abbremsen. Auf ein plötzliches scharfes Bremsen des Vorausfahrenden musste sich der nachfolgende Verkehr ohnehin einstellen (vgl. BGH, Urteil vom 16.01.2007, VI ZR 248/05 – juris Rn. 6; OLG Karlsruhe, Urteil vom 28.04.2017, 9 U 189/15, NJW 2017, 2626 Rn. 24), zumal dieser durch das vorherige Setzen des Fahrtrichtungsanzeigers auch entsprechend vorbereitet war.

Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass der Beklagten zu 1 auf den ihm erkennbaren Gegenverkehr verspätet reagiert hat, sind nicht ersichtlich und werden auch von der Klägerin nicht geltend gemacht.

(b)

Ob der Fahrerin des klägerischen Fahrzeugs ein Verkehrsverstoß zur Last fällt, kann im vorliegenden Rechtsstreit dahinstehen.

Entgegen der Auffassung des Landgerichts greift in der gegebenen Konstellation kein Anscheinsbeweis gegen die auffahrende Gesellschafterin der Klägerin ein, da es an dem erforderlichen typischen Geschehensablauf fehlt.

Grundsätzlich spricht bei einem Auffahrunfall der erste Anschein dafür, dass der Auffahrende den Unfall schuldhaft dadurch verursacht hat, dass er entweder den erforderlichen Sicherheitsabstand nicht eingehalten hat, unaufmerksam war oder aber mit einer den Straßen- und Sichtverhältnissen unangepassten Geschwindigkeit gefahren ist; denn der Kraftfahrer ist verpflichtet, seine Fahrweise so einzurichten, dass er notfalls rechtzeitig anhalten kann, wenn ein Hindernis auf der Fahrbahn auftaucht (BGH, Urteil vom 13.12.2016, VI ZR 32/16, NJW 2017, 1177; Urteil vom 16.01.2007, VI ZR 248/05 – juris; OLG Hamm, Beschluss vom 06.09.2018, 7 U 31/18 – juris).

Dieser Anscheinsbeweis wird nach allgemeinen Grundsätzen nur dadurch erschüttert, dass ein atypischer Verlauf, der die Verschuldensfrage in einem anderen Lichte erscheinen lässt, von dem Auffahrenden dargelegt und bewiesen wird (BGH, Urteil vom 16.01.2007, VI ZR 248/05 – juris). Dies ist vorliegend der Fall.

Bei einem Kettenauffahrunfall kommt ein Anscheinsbeweis im Verhältnis zwischen Auffahrendem und Vorausfahrendem für eine schuldhafte Verursachung des Heckaufpralls durch den letzten in der Kette auffahrenden Verkehrsteilnehmer nur dann in Betracht, wenn feststeht, dass das ihm vorausfahrende Fahrzeug rechtzeitig hinter seinem Vordermann zum Stehen gekommen ist und nicht durch einen Aufprall auf das vorausfahrende Fahrzeug den Bremsweg des ihm folgenden Fahrzeugs verkürzt hat (OLG Hamm, Urteil vom 06.02.2014, 6 U 101/13 – juris; König, in: König/Hentschel/Dauer, a.a.O., § 4 StVO Rn. 36).

Zwar muss ein Kraftfahrer ein plötzliches scharfes Bremsen des Vorausfahrenden grundsätzlich einkalkulieren. Er muss jedoch nicht mit einem ruckartigen Stehenbleiben seines Vordermannes infolge Auffahrens auf ein Hindernis rechnen, durch das sein Anhalteweg außergewöhnlich verkürzt wird (BGH, Urteil vom 09.12.1986 – VI ZR 138/85 – juris; Urteil vom 16.01.2007, VI ZR 248/05 – juris Rn. 6; Senat, Urteil vom 31.08.2018, 7 U 70/17 – juris Rn. 22; KG Berlin, Urteil vom 06.07.1995, 12 U 1976/94 – juris; OLG Düsseldorf, Urteil vom 12.06.2006, 1 U 206/05 – juris Rn. 30; Helle, in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, Stand 22.07.2019, § 4 StVO Rn. 47).

Vorliegend ist unstreitig, dass der Zeuge L seinerseits (leicht) auf das klägerische Fahrzeug aufgefahren ist und der Anhalteweg der Gesellschafterin der Klägerin dadurch verkürzt wurde.

Damit fehlt es im Verhältnis zwischen dem Zeugen L und der Klägerin an dem erforderlichen typischen Geschehensablauf, ein Anscheinsbeweis greift nicht ein.

Dies gilt auch im Verhältnis zum Beklagten zu 1 als erstem Fahrer in der Kette.

Damit ist die Frage, inwieweit die Gesellschafterin der Klägerin den gem. § 4 Abs. 1 Satz 1 StVO gebotenen Sicherheitsabstand zum Fahrzeug des Zeugen L eingehalten und ob sie wie gem. § 1 Abs. 2 StVO geboten auf dessen Vollbremsung reagiert hat, offen. Eine weitere diesbezügliche Aufklärung durch Einholung eines Sachverständigengutachtens war jedoch nicht erforderlich, da auch für den Fall, dass der Gesellschafterin kein Verkehrsverstoß nachgewiesen werden kann, die Betriebsgefahr des klägerischen Fahrzeugs im Verhältnis zu der des Beklagtenfahrzeugs im Rahmen der gebotenen Einzelabwägung der Verursachungsbeiträge des Beklagten zu 1 und der Gesellschafterin der Klägerin so deutlich überwiegt, dass diese dahinter vollständig zurücktritt.

(c)

In Bezug auf das Beklagtenfahrzeug ist nur die allgemeine Betriebsgefahr in die Abwägung einzustellen. Erhöht ist die Betriebsgefahr, wenn die Gefahren, die regelmäßig und notwendigerweise mit dem Kfz-Betrieb verbunden sind, durch das Hinzutreten besonderer unfallursächlicher Umstände vergrößert werden. Betriebsgefahrerhöhende Umstände können zu Lasten eines Unfallbeteiligten jedoch nur dann berücksichtigt werden, wenn sie sich auf den Unfall ausgewirkt haben (BGH, Urteil vom 27.06.2000, VI ZR 126/99 – juris; Urteil vom 26.04.2005, VI ZR 228/03, NZV 2005, 407 Rn. 22; König, in: Hentschel/König/Dauer, a.a.O., § 17 StVG Rn. 11).

Ein Linksabbiegemanöver kann zwar grundsätzlich eine Erhöhung der Betriebsgefahr begründen, da durch den Abbiegevorgang – wie zum Merkmal „bei Betrieb“ dargetan – eine kritische Verkehrslage geschaffen wird, auf die sich der nachfolgende Verkehr einstellen muss.

Allerdings hat sich eine daraus resultierende besondere Betriebsgefahr vorliegend nicht realisiert, da der Beklagte zu 1 wie dargetan durch rechtzeitiges Setzen des Fahrtrichtungsanzeigers sowie nicht widerlegte Einordnung nach links die Voraussetzungen dafür geschaffen hat, dass der nachfolgende Verkehr auf das beabsichtigte Abbiegemanöver reagieren konnte. Der Wechsel der Fahrtrichtungsanzeige hat sich – wie bereits ausgeführt – auf den Unfall nicht kausal ausgewirkt, da auch das Rechtsblinken die erforderliche Warnfunktion für den nachfolgenden Verkehr erfüllt hat. Die Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs beschränkt sich damit darauf, dass der nachfolgende Verkehr aufgrund des erlaubten Fahrmanövers, das den Anforderungen insbesondere des § 9 StVO genügte, zum Bremsen veranlasst wurde. Der Beklagte zu 1 hat sich hier unwiderlegt verkehrsgerecht verhalten, so dass sich der nachfolgende Verkehr auf sein Abbiegemanöver hätte einstellen können. Dass dies fehlgeschlagen ist, möglicherweise weil der Zeuge L den erforderlichen Sicherheitsabstand nicht eingehalten hat, ist mangels Haftungseinheit nicht dem Beklagten zu 1 anzulasten. Insofern stellt sich die Situation gegenüber der Klägerin faktisch so dar, dass der Beklagte zu 1 mit seinem Fahrzeug lediglich am Kollisionsort anwesend war und sich dessen Betrieb nur mittelbar, ohne die Gefahr einer Schadensverursachung zu erhöhen, ausgewirkt hat.

Demgegenüber steht die besondere Betriebsgefahr des klägerischen Fahrzeugs. Besondere Betriebsgefahr ist hierbei die Gesamtheit der Umstände, welche in der konkreten Verkehrssituation zur allgemeinen, die Gefährdungshaftung auslösenden Betriebsgefahr hinzutreten und die Gefahr einer Schadensverursachung erhöhen (vgl. BGH, Urteil vom 10.01.1995 – VI ZR 247/94, NJW 1995, 1029, beck-online), so dass hierdurch die allgemeine Betriebsgefahr erhöht wird, ohne dass bereits Verschuldensmomente hinzukommen. Die besondere Betriebsgefahr ist stets situationsbezogen (so auch Berz/Burmann StraßenverkehrsR-HdB, 4. A. Allgemeines Rn. 126, beck-online).

Situationsbezogen ergab sich jedenfalls, also ungeachtet eines eigenen Verkehrsverstoßes der Fahrerin, für das klägerische Fahrzeug eine besondere Betriebsgefahr. Bei der von der Gesellschafterin der Klägerin nach ihren Angaben gefahrenen (und unterstellt zulässigen) Geschwindigkeit im Bereich von 40 bis 45 km/h im innerstädtischen Kolonnenverkehr traf sie – auch bei (hier unterstellt) verkehrsangepasstem Verhalten – das in diesem Fall jedenfalls bei der streitgegenständlichen Kollision kausal gewordene Risiko einer Bremswegverkürzung infolge einer Unaufmerksamkeit des plötzlich vollbremsenden und/oder mit dem Vordermann kollidierenden Vorausfahrenden. Dieses dem Kolonnenverkehr immanente Risiko hat jedenfalls – insbesondere wenn der Blick auf den weiteren Verkehrsfluss voraus beeinträchtigt war – die Gefahr einer Schadensverursachung erhöht.

Infolgedessen hält es der Senat für gerechtfertigt, die allgemeine Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs hinter der situationsbezogen besonderen des Klägerfahrzeugs vollständig zurücktreten zu lassen.

2.

Nachdem der Klägerin entsprechend den Ausführungen zu Ziffer 1. keine Zahlungsansprüche im Zusammenhang mit dem streitgegenständlichen Verkehrsunfallereignis zustehen, bestehen auch die geltend gemachten Nebenforderungen (Zinsen, vorgerichtliche Rechtsanwaltsgebühren) nicht.

3.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit auf den §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

4.

Der Senat hat die Revision nicht zugelassen, da die diesbezüglichen Voraussetzungen des § 543 Abs. 2 ZPO nicht gegeben sind.


Die folgenden rechtlichen Bereiche sind u.a. in diesem Urteil relevant

  1. Verkehrsrecht: Das Verkehrsrecht regelt die Teilnahme von Personen und Fahrzeugen am Straßenverkehr. Zentraler Bestandteil des Falles ist ein Verkehrsunfall und dessen rechtliche Aufarbeitung. Dabei spielen insbesondere die Vorschriften der Straßenverkehrsordnung (StVO) eine Rolle, die im Text auch ausdrücklich genannt werden (§§ 4, 9 StVO). Darüber hinaus berührt der Fall auch grundsätzliche Fragen des Verkehrsrechts wie die Haftung bei Betrieb eines Kraftfahrzeugs und die Sorgfaltspflichten der Verkehrsteilnehmer.
  2. Versicherungsrecht: Insbesondere bei Verkehrsunfällen spielt das Versicherungsrecht eine wichtige Rolle, da hier die Haftungsfragen oft über Kfz-Haftpflichtversicherungen abgewickelt werden. Der genannte § 1 VVG (Versicherungsvertragsgesetz) regelt die Grundlagen des Versicherungsvertrags. In diesem Fall scheint es eine relevante Rolle zu spielen, ob und inwiefern der Unfall und die daraus resultierenden Schäden durch die Versicherung gedeckt sind.
  3. Beweisrecht: Das Beweisrecht ist ein Teil des Zivilprozessrechts und regelt, wie Tatsachen im Prozess bewiesen werden können. Im vorliegenden Fall spielt es eine wichtige Rolle, wie die Aussagen der Zeugen L und C gewertet werden und ob die Anscheinsvermutung greift. Die Anscheinsvermutung ist ein wichtiges beweisrechtliches Instrument, besonders bei Verkehrsunfällen.
  4. Zivilprozessrecht: Bei der Aufarbeitung des Unfalls spielt das Zivilprozessrecht eine bedeutende Rolle, da es das Verfahren bestimmt, in dem private Rechtsstreitigkeiten gerichtlich geklärt werden. Hier spielen Themen wie Beweisaufnahme, Anhörungen und die Begründetheit von Klagen eine Rolle.
  5. Schadensersatzrecht: Dieser Rechtsbereich regelt die Kompensation von Schäden, die eine Partei einer anderen zugefügt hat. Im vorliegenden Fall wäre das der Schaden am Fahrzeug der Klägerin. In diesem Zusammenhang ist auch das Konzept der Betriebsgefahr relevant, das die grundsätzliche Haftung des Halters eines Fahrzeugs für Schäden, die bei dessen Betrieb entstehen, festlegt.

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