BUNDESFINANZHOF
Az.: VI R 55/00
Urteil vom 26. Juli 2001
Vorinstanz: Hessisches FG
Leitsätze:
Stellt sich nach Ablauf eines Kalenderjahres heraus, dass die Einkünfte oder Bezüge eines Kindes den Jahresgrenzbetrag gemäß § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG überschreiten, so ist die Familienkasse berechtigt, die Festsetzung des Kindergeldes rückwirkend mit Wirkung zu Beginn dieses Kalenderjahres aufzuheben.
Normen: § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Abs. 2 AO 1977; § 31 Satz 3, § 32 Abs. 4 Satz 2, § 70 Abs. 2, § 71 EStG
Gründe
Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist der Großvater eines im Jahr 1977 geborenen Kindes. Dieses befand sich im Jahr 1997 in der Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann. Seine Ausbildungsvergütung betrug 16 494 DM, die Werbungskosten betrugen –wie mittlerweile unstreitig ist– 3 068 DM.
Der Kläger hatte mit Schreiben vom 20. Dezember 1996 voraussichtliche Werbungskosten seines Enkels für 1997 in Höhe von 5 081 DM geltend gemacht. Davon entfielen auf Fahrtkosten 3 024 DM, auf Aufwendungen für Berufskleidung 1 408 DM, auf deren Reinigung 432 DM, auf Schulbücher 170 DM und auf Schreibmittel 47 DM. Der Beklagte und Revisionskläger (das Arbeitsamt –Familienkasse–) erkannte die Minderung um die Aufwendungen für Schreibmittel nicht an und ging auf dieser Grundlage von Einkünften und Bezügen des Enkels des Klägers für 1997 in Höhe von 11 404 DM aus. Die Familienkasse bewilligte deshalb im Februar 1997 zunächst Kindergeld für den Enkel von Januar bis August 1997. In der Folgezeit, beginnend im September 1997, überprüfte die Familienkasse die Berechnung der Werbungskosten durch den Kläger durch Anforderung von Belegen und Einholung von Auskünften. Die Familienkasse gelangte zu dem Ergebnis, dass die vom Kläger aufgeführten Aufwendungen nicht in voller Höhe als Werbungskosten anzuerkennen seien. Insbesondere die von dem Kläger als Arbeitskleidung angesetzten Kleidungsstücke (Jeans, Hemden, Schuhe) und deren Reinigung ließ sie nicht zum Abzug zu.
Mit Bescheid vom 14. Juli 1998 hob die Familienkasse die Festsetzung des Kindergeldes ab Januar 1997 gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) wegen Überschreitens des Jahresgrenzbetrages des § 32 Abs. 4 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) auf und forderte das für die Monate Januar bis August 1997 gezahlte Kindergeld in Höhe von 1 760 DM zurück. Der Einspruch des Klägers hatte keinen Erfolg.
Im finanzgerichtlichen Verfahren vertrat der Kläger die Auffassung, der Gesamtbetrag der Werbungskosten sei zu zwölfteln und sodann jeweils zu prüfen, ob das Einkommen des Enkels die Grenze von 1 000 DM pro Monat überschritten habe. Dies sei nur in den Monaten ab August 1997 der Fall.
Das Finanzgericht (FG) behandelte das Klagebegehren als Anfechtungsklage gegen die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung für die Monate Januar bis Juli 1997. Es gab der Klage mit den in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2000, 575 veröffentlichten Gründen statt.
Mit ihrer Revision rügt die Familienkasse die Verletzung von § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977. Das FG habe den Begriff des rückwirkenden Ereignisses verkannt.
Die Familienkasse beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Er beruft sich dafür im Wesentlichen auf die Gründe des erstinstanzlichen Urteils.
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung –FGO–).
1. Dem Kläger stand für die Monate Januar bis Juli 1997 kein Kindergeld für seinen Enkel zu. Gemäß § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Satz 2, § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 a i.V.m. Satz 2 EStG in der für 1997 geltenden Gesetzesfassung wird ein Kind für das Kindergeld dann berücksichtigt, wenn es sich in einer Ausbildung befindet und Einkünfte und Bezüge von nicht mehr als 12 000 DM im Jahr hat. Der Enkel des Klägers befand sich während des gesamten Jahres 1997 in der Ausbildung. Seine Einkünfte und Bezüge in diesem Jahr überschritten den Betrag von 12 000 DM.
2. a) Die Familienkasse war nicht gehindert, die Festsetzung des Kindergeldes mit dem angefochtenen Bescheid rückwirkend aufzuheben (vgl. schon Senatsurteil vom 21. Juli 2000 VI R 153/99, BFHE 192, 316, BStBl II 2000, 566, unter II. 4.). Dies ergibt sich daraus, dass § 31 Satz 3 und § 71 EStG einerseits vorsehen, dass das Kindergeld laufend (monatlich) zu zahlen ist und § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG andererseits bestimmt, dass ein Kind, das das 18., aber noch nicht das 27. Lebensjahr vollendet hat, nur dann berücksichtigt wird, wenn die Einkünfte und Bezüge einen bestimmten Betrag pro Kalenderjahr (Jahresgrenzbetrag) nicht überschreiten. Ob der Jahresgrenzbetrag überschritten wird, entscheidet sich erst im Laufe des Kalenderjahres. Insoweit besteht ein grundlegender Unterschied zu feststehenden Tatbestandsmerkmalen wie etwa der Haushaltszugehörigkeit eines Kindes oder der Absolvierung einer Ausbildung. Über das Vorliegen oder Nichtvorliegen solcher feststehender Tatbestandsmerkmale kann die Behörde jederzeit befinden und somit die Leistung des Kindergeldes stets zeitnah den tatsächlichen Verhältnissen anpassen. Ob die Einkünfte und Bezüge eines Kindes hingegen den Jahresgrenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG überschreiten, kann sich im Laufe eines Kalenderjahres unterschiedlich darstellen und kann regelmäßig abschließend erst nach Ablauf des Jahres geprüft werden. Gleichwohl ist die Behörde gehalten, das Kindergeld monatlich auszuzahlen. Diese gesetzliche Konzeption macht es erforderlich, Kindergeldfestsetzungen, die vor Beginn oder während eines Kalenderjahres erlassen worden sind, wieder aufheben zu können, wenn abzusehen ist oder bekannt wird, dass die Höhe der Einkünfte oder Bezüge des Kindes dazu führen wird, dass das Kind für das Kalenderjahr nicht berücksichtigungsfähig ist. Dabei kann offen bleiben, ob die Änderung in diesen Fällen auf § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 allein oder i.V.m. § 175 Abs. 2 AO 1977 (so die h.M., Niedersächsisches FG, Urteil vom 5. Mai 1999 II 651/97 Ki, EFG 1999, 906; FG Köln, Urteil vom 16. November 1999 2 K 7567/98, EFG 2000, 180; FG Düsseldorf, Urteil vom 19. November 1999 18 K 8117/98 Kg, EFG 2000, 272; FG des Landes Sachsen-Anhalt, Urteil vom 1. März 2000 2 K 597/98, EFG 2000, 797; Bergkemper in Herrmann/Heuer/ Raupach, Einkommensteuer- und Körperschaftsteuergesetz mit Nebengesetzen, Kommentar, § 70 EStG Anm. 13; Greite in Korn, § 70 EStG Rz. 17; Heuermann in Blümich, Einkommensteuergesetz, § 70 Rz. 40; Jachmann in Kirchhof, Einkommensteuergesetz, § 70 Rn. 2 a.E.) oder auf § 70 Abs. 2 EStG zu stützen ist (so Niedersächsisches FG, Urteil vom 19. August 1997 VII 604/96 Ki, EFG 1998, 109; MIT, Anm. zu Bundesfinanzhof –BFH– vom 1. März 2000 VI R 32/99, Deutsches Steuerrecht –DStR– 2000, 968).
Dem steht nicht entgegen, dass der Kläger der Familienkasse bereits im Dezember 1996 mitgeteilt hatte, wie sich die voraussichtlichen Werbungskosten seines Enkels zusammensetzten, so dass die Familienkasse bereits zu diesem Zeitpunkt an der Entstehung der Werbungskosten in der vom Kläger angenommenen Höhe hätte zweifeln können. Maßgeblich ist, dass die tatsächliche Höhe der im Jahr 1997 anfallenden Werbungskosten zum Zeitpunkt der Prognoseentscheidung der Familienkasse weder ihr noch dem Kläger selbst bekannt war, so dass eine abschließende Entscheidung über die Berücksichtigungsfähigkeit des Enkels noch nicht getroffen werden konnte. Der Senat kann offen lassen, wie zu entscheiden gewesen wäre, wenn der Familienkasse bei ihrer Entscheidung bei feststehendem Sachverhalt ein reiner Rechtsanwendungsfehler unterlaufen wäre. Ein solcher Fall liegt hier nicht vor.
b) Die Festsetzung des Kindergeldes ist bei Überschreiten des Jahresgrenzbetrages des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG mit Wirkung ab Beginn des Kalenderjahres aufzuheben. Der Gesetzgeber hat festgelegt, welchen Betrag die Einkünfte und Bezüge eines Kindes während eines Kalenderjahres nicht übersteigen dürfen. Er hat sich damit für einen Jahres- und nicht für einen Monatsgrenzbetrag entschieden. Dementsprechend entfällt der Anspruch auf Kindergeld vom Beginn des Kalenderjahres an, wenn dieser Betrag überschritten wird. Eine Zwölftelung der angefallenen Werbungskosten mit der Folge einer monatsweisen Berücksichtigung des Enkels des Klägers kommt daher nicht in Betracht.
3. Da aufgrund der rechtmäßigen Aufhebung der Kindergeldfestsetzung der rechtliche Grund für die Zahlung des Kindergeldes an den Kläger weggefallen war, konnte die Familienkasse gemäß § 37 Abs. 2 AO 1977 auch das für 1997 gezahlte Kindergeld in Höhe von 1 760 DM zurückfordern.