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Missachtung von Unfallverhütungsvorschriften – Haftung

Haftungsfragen bei Missachtung von Sicherheitsvorschriften: Ein komplexer Fall aus dem Arbeits- und Versicherungsrecht

In einem bemerkenswerten Fall hat das Landgericht Kempten (Allgäu) die Haftungsfragen im Zusammenhang mit der Missachtung von Unfallverhütungsvorschriften am Arbeitsplatz beleuchtet. Der Fall dreht sich um einen Mitarbeiter, der nach einem Arbeitsunfall nicht mehr in seinem ursprünglichen Beruf als Zimmermann arbeiten kann. Der Arbeitgeber und seine Firma wurden bereits in der Vergangenheit wegen Verstößen gegen Sicherheitsvorschriften, insbesondere Absturzsicherungen, ermahnt. Das Hauptproblem in diesem Fall liegt in der Klärung der Haftungsquote und der Frage, ob grobe Fahrlässigkeit vorliegt.

Weiter zum vorliegenden Urteil Az.: 23 O 2016/12   >>>

Die Rolle des Arbeitgebers in der Haftungsfrage

Missachtung von Unfallverhütungsvorschriften - Haftung
Haftungsfragen und Missachtung von Sicherheitsvorschriften: Ein komplexer Fall mit weitreichenden Konsequenzen. (Symbolfoto: Attasit saentep /Shutterstock.com)

Der Beklagte zu 1, der Arbeitgeber, wurde für 50% der Haftung verantwortlich gemacht. Er und andere leitende Mitarbeiter der Firma wurden bereits wegen wiederholter Verstöße gegen Unfallverhütungsvorschriften ermahnt. Trotz dieser Vorgeschichte und der Ermahnungen wurde festgestellt, dass keine strukturierte Vorgehensweise zur Beseitigung dieses Problems existiert. Der Beklagte zu 1 konnte sich auch nicht darauf berufen, nur im kaufmännischen Bereich ausgebildet zu sein und sich von Fachleuten beraten zu lassen.

Mitverschulden des Geschädigten

Interessant ist auch der Aspekt des Mitverschuldens des Geschädigten. Obwohl er als Vorarbeiter tätig und mit den Unfallverhütungsvorschriften vertraut war, hat er die fehlende Sicherung nicht gemeldet und ist bei Dunkelheit und Nässe auf das Dach gestiegen. Das Gericht bewertete sein Mitverschulden mit 50%, was die Haftungsquote des Arbeitgebers entsprechend minderte.

Passivlegitimation und Unternehmereigenschaft

Ein weiterer wichtiger Punkt war die Frage der Passivlegitimation des Beklagten zu 1. Er argumentierte, als Kommanditist und Geschäftsführer der Komplementär-GmbH nicht die Voraussetzungen der Unternehmereigenschaft im Sinne des § 136Abs. 3 SGB VII zu erfüllen. Das Gericht wies dieses Argument zurück und stellte fest, dass er als Unternehmer im Sinne des Gesetzes gilt.

Keine grobe Fahrlässigkeit des zweiten Beklagten

Der zweite Beklagte, der als Bauleiter tätig war, wurde von der Haftung freigesprochen. Obwohl er für die Sicherheit an der Baustelle verantwortlich war, konnte ihm keine grobe Fahrlässigkeit nachgewiesen werden. Er hatte Sicherheitsvorkehrungen getroffen, und das Gericht fand seine Angaben in der mündlichen Verhandlung glaubhaft.

Zukünftige Aufwendungen und Schmerzensgeld

Das Gericht stellte fest, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin sämtliche zukünftigen Aufwendungen zu ersetzen. Der Anspruch auf Schmerzensgeld wurde ebenfalls anerkannt, wobei die Höhe im Ermessen des Gerichts liegt, jedoch mindestens 30.000 Euro beträgt.

Haftungsrisiken bei Missachtung von Unfallverhütungsvorschriften: Schützen Sie Ihre Rechte

Der Fall des Landgerichts Kempten zeigt deutlich, wie gravierend die Folgen einer Missachtung von Unfallverhütungsvorschriften sein können. Nicht nur für den Geschädigten, sondern auch für Arbeitgeber und leitende Angestellte. Wenn Sie sich in einer ähnlichen Situation befinden und Unsicherheiten bezüglich Ihrer Haftung oder Ihrer Rechte als Geschädigter haben, ist professionelle rechtliche Unterstützung unerlässlich. Wir bieten eine fundierte Ersteinschätzung Ihrer Situation sowie eine umfassende Beratung, um Ihre rechtlichen Optionen zu klären. Zögern Sie nicht und nehmen Sie Kontakt mit uns auf, um Ihre Interessen bestmöglich zu wahren.

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Das vorliegende Urteil

 

Landgericht Kempten (Allgäu) – Az.: 23 O 2016/12 – Grundurteil vom 15.02.2016

1. Der Beklagte zu 1 haftet dem Grunde nach mit einer Haftungsquote von 50 %. Der Beklagte zu 2 haftet nicht.

2. Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Tatbestand

Die Klägerin als Sozialversicherungsträgerin begehrt von den Beklagten den Ersatz von Aufwendungen nach einem Betriebsunfall gemäß § 110 SGB VII.

Der Beklagte zu 1 ist Geschäftsführer der Firma …, welche Komplementärin der … ist. Letztere ist die Arbeitgeberin des Geschädigten, des Zeugen …, welcher bei dieser als Zimmerergeselle tätig war und nach dem Unfall im Lager tätig ist. Der Beklagte zu 2 ist angestellter Bauleiter bei der ….

Im Oktober 2011 wurde die Firma … mit der Errichtung eines Melkgebäudes in … beauftragt. Auf dem Gebäude wurde ein Trapezblechdach in Sandwichbauweise angebracht. Das Dach hatte eine Neigung von 19°. Die Länge vom Giebel bis zur Traufe betrug 10 m. Der Beklagte zu 2 war als Bauleiter für die Beschaffung der Sicherheitseinrichtung für die Baustelle verantwortlich. Keiner der beiden Beklagten war auf der Baustelle zugegen.

Am 5.10.2011 reiste der Zeuge … mit seinem Kollegen … zur Baustelle, um Restarbeiten an dem Dach des Gebäudes durchzuführen. Es sollte ein Hubfirst und ein Lichtband angebracht werden. Am 6. Oktober wurden die Arbeiten durch einen Regenschauer unterbrochen. Die beiden Arbeitnehmer verließen das Dach und stiegen anschließend mittels einer anliegenden Leiter wieder hinauf. Am Dach befanden sich keine seitliche Fangeinrichtungen oder Absturzsicherungen. Lediglich zur Halleninnenseite war ein Netz gespannt. Das Dach war aufgrund des Regenschauers nass. Der Geschädigte verlor den Halt, rutschte über das Dach hinunter und fiel über die Dachkante hinab auf dem Boden. Er kann mit den Füßen auf und erlitt eine beidseitige Fersenbeinfraktur.

Am 7.10.2011 wurde er in die berufsgenossenschaftliche Unfallklinik … verlegt und operiert. Am 31.10.2011 wurde er entlassen. Vom 29.11.2011 bis 30.12.2011 befand er sich in stationärer Reha. Vom 2.1.2012 bis 13.1.2012 erfolgte eine erneute stationäre Aufnahme wegen Wundheilungsstörungen. Seit dem 16.4.2012 arbeitet der Geschädigte im Lager der Firma des Beklagten zu 1, da eine Tätigkeit als Zimmermann nicht länger möglich ist.

Der Beklagte zu 1 und auch andere leitende Mitarbeiter der Firma wurden bereits in der Vergangenheit wegen wiederholter Verstöße gegen Unfallverhütungsvorschriften, insbesondere im Hinblick auf Absturzsicherungen, sowohl vom Gewerbeaufsichtsamt als auch von der Klägerin ermahnt (siehe Anlage in K 3, K4, K5, K6, K 14, K 15).

Mit Schreiben der Anlage K 10 forderte die Klägerin zur Zahlung auf, mit Schreiben der Anlage K 11 erfolgte die Ablehnung des Beklagten zu 1.

Der Geschädigte leidet unter Belastungsschmerzen im Bereich beider Fersen sowie einer Bewegungseinschränkung mit Kraftminderung des linken oberen Sprunggelenks. Auch die Beweglichkeit des unteren Sprunggelenks ist reduziert. An der Fersenaußenseite tritt ein Taubheitsgefühl auf. Es liegen Dysästhesien am lateralen Fußballen links vor. Im Bereich der linken Sprunggelenke kam es zu arthrotischen Veränderungen. Der Geschädigte muss orthopädisches Schuhwerk tragen. Seit dem 16.4.2012 bezieht er eine Verletztenrente in Höhe von 538,80 € monatlich, da eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 30 % vorliegt.

Die Klägerin behauptet, dass der Absturz aus einer Höhe von ca. 5 m erfolgt sei. Eine schriftliche Beauftragung des Beklagten zu 2 im Sinne des § 13 BGV A1 habe nicht stattgefunden. Der Geschädigte habe Arbeitsschuhe getragen und ein Fanggurt bzw. Anseilschutz sei ihm nicht zur Verfügung gestanden.

Die Klägerin ist der Ansicht, dass ein Verstoß gegen § 12 Abs. 1 Nr. 4 BGV und gegen Ziffer 2.4 der BGI 807 vorliege. Beiden Beklagten sei ein grob fahrlässiges Verhalten im Sinne des § 110 SGB VII vorzuwerfen. Eine Enthaftung des Beklagten zu 1 gebe es nicht, da die Vorschriften des § 13 BGV A1 nicht erfüllt seien.

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Die Klägerin stellt folgende Anträge:

1. Die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an die Klägerin EUR 51.008,49 zu zahlen.

2. Den Beklagten zu 1. zu verurteilen, an die Klägerin Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 16.918,71 EUR seit dem 08.02.2012 sowie gesamtschuldnerisch aus weiteren 34.089,78 EUR seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

3. Den Beklagten zu 2. zu verurteilen, an die Klägerin Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 16.918,71 EUR seit Rechtshängigkeit sowie gesamtschuldnerisch aus weiteren 34.089,78 EUR, ebenfalls seit Rechtshängigkeit, zu zahlen.

4. Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin sämtliche zukünftigen Aufwendungen zu ersetzen, die diese aus Anlass des Arbeitsunfalls ihres Versicherten Christian Lutz vom 06.10.2011 zu erbringen hat, wobei der Anspruch der Klägerin auf die Höhe des zivilrechtlichen Schadens zuzüglich eines Schmerzensgeldes, dessen Höhe in das Ermessen das Gericht gestellt wird, zumindest aber in Höhe von 30.000,– EUR, beschränkt wird.

Die Beklagten beantragen, Klageabweisung.

Die Beklagten behaupten, dass der Beklagte zu 2 für die konkrete Baustelle bei der Subunternehmerin eine Traufabsturzsicherung und ein Fangnetz vorbestellt habe. In einem Telefongespräch habe der Vorarbeiter der Subunternehmerin dem Beklagten zu 2 mitgeteilt, dass bei Errichtung der Seitenwände der Halle mit einer Hebebühne gearbeitet werden. Das außenseitige Fanggerüst sollte daher erst nach Durchführung dieser Arbeiten errichtet werden. Die Arbeiten des Geschädigten seien zeitlich nachgeordnet erfolgt. Für diese Arbeiten sollte das bereits bestellte Fanggerüst errichtet werden, was dann aber aus Versehen unterblieben sei.

In regelmäßigen Schulungen (einmal jährlich) würden die Mitarbeiter in der Einhaltung der Unfallverhütungsvorschriften (zum Beispiel Absturzeinrichtung, Anseilschutz) unterwiesen werden. Es gebe die Anweisung, dass bei Fehlen einer Absturzsicherung Arbeiten nicht aufzunehmen sein, sondern telefonisch der Bauleiter zu informieren sei.

Im Bereich der Arbeitssicherheit gebe es eigene zuständige Mitarbeiter.

Im Montagefahrzeug habe sich eine persönliche Schutzausrüstung befunden. Diese hätte sich auf dem Dach ohne weiteres befestigen lassen, da entsprechende Anschlagpunkte in Gestalt von Dachbindern vorhanden gewesen seien. Das Vorhandensein und der Zustand der PSA würden regelmäßig kontrolliert. Hätte der Geschädigte die PSA genutzt, wäre er nicht vom Dach gefallen.

Die Halle sei bereits im wesentlichen fertig gestellt gewesen und habe hinsichtlich des Arbeitsschutzes keine besondere Gefährdungslage aufgewiesen.

Die Beklagten sind der Ansicht dass der Geschädigte gegen § 4 BGV C 22 verstoßen habe, weil er keine Mitteilung von der fehlenden Sicherung gemacht habe. § 8 BGV C 22 sei nicht anwendbar, da die Dachneigung< 20° ist. Ein Fanggerüst sei entbehrlich, da gemäß § 12 BGV C 22 eine Absicherung über eine PSA hätte erfolgen können. Da das Dach bereits fertig gewesen sei, wäre ein Fanggerüst unzweckmäßig im Sinne des § 12 Abs. 3 BGV C 22 gewesen.

Als Geschäftsführer übe der Beklagte zu 1 eine rein kaufmännische Tätigkeit aus. Da er von dem Einsatz des Geschädigten nichts wusste und diesen auch nicht angeordnet habe, sei eine grobe Fahrlässigkeit nicht gegeben.

Es liege ein Mitverschulden des Geschädigten vor, da er die fehlende Sicherung nicht meldete und trotz seiner Kenntnisse aus der Ausbildung bezüglich der Unfallverhütungsvorschriften und seiner Tätigkeit als Vorarbeiter bei Dunkelheit und Nässe auf das Dach stieg. Der Entschluss in der Dämmerung nach einem Regenschauer auf das Dach zu steigen stammte vom Geschädigten selbst. Eine Anweisung eines der Beklagten habe es hierzu nicht gegeben.

Die Beklagten rügen die Passivlegitimation des Beklagten zu 1. Dieser sei als Kommanditist kein persönlich haftender Gesellschafter und als Geschäftsführer der Komplementärin nur ein bloßes Organ der GmbH. Er erfülle damit nicht die Voraussetzungen der Unternehmereigenschaft im Sinne des § 136 Abs. 3 SGB VII.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einvernahme der Zeugen … und durch die informatorische Anhörung der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vom 25.4.2014 (Blatt 139–152). Die Akte der Staatsanwaltschaft Coburg, Aktenzeichen 118 JS 1707/12, wurde beigezogen und zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht. Zur Ergänzung des Tatbestandes wird im Übrigen auf die zwischen den Parteien und ihren Vertretern gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung Bezug genommen.

Gründe

Die Klage ist zulässig. Gegen den Beklagten zu 1 besteht ein Haftungsanspruch dem Grunde nach in Höhe von 50 % der berechtigten Forderungen. Gegen den Beklagten zu 2 bestehen keine Ansprüche.

I.

Die Klage ist zulässig. Das Landgericht Kempten ist örtlich und sachlich gemäß den §§ 71, 23 GVG sowie §§ 12, 13 ZPO zuständig.

II.

Gegen den Beklagten zu 1 besteht ein Haftungsanspruch dem Grunde nach in Höhe von 50 % der berechtigten Forderungen. Gegen den Beklagten zu 2 bestehen keine Ansprüche.

Ein Anspruch des Sozialversicherungsträgers auf Erstattung von infolge eines Versicherungsfalles entstandenen Aufwendungen gegen Personen, deren Haftung nach den §§ 104–107 Sozialgesetzbuch VII beschränkt ist, ist gemäß § 110 Sozialgesetzbuch VII nur gegeben, wenn diese Personen den Versicherungsfall vorsätzlich oder grob fahrlässig herbeigeführt haben.

Vorliegend wurde grobe Fahrlässigkeit geltend gemacht. Grobe Fahrlässigkeit bezeichnet die Verletzung der im Einzelfall erforderlichen Sorgfalt in ungewöhnlich hohem Grad. Sie liegt zum Beispiel vor, wenn schon einfachste, sich aufdrängende Überlegungen nicht angestellt werden, wenn das, was jedermann einleuchtet, nicht beachtet wird. Hierbei ist neben der objektiv erforderlichen Sorgfalt auch die subjektive Seite zu beachten, zu welchen Erkenntnissen und Handlungsweisen die Schädiger nach ihrer Persönlichkeit in der Lage waren (Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, Sozialgesetzbuch VII, § 110, Rn. 5). Ein besonders gewichtiger objektiver Pflichtenverstoß kann den Schluss auf ein auch subjektiv gesteigertes Verschulden nahe legen (BGH vom 18.10.1988, NJW RR 1989, 339 ff). Zur Bestimmung, ob in besonders schwerwiegender Weise gegen die erforderlichen Sorgfalt verstoßen wurde, ist eine Gesamtwürdigung der von den Parteien vorgetragenen Umstände vorzunehmen (BGH vom 18.10.1988, NJW RR 1989, 339 ff, Rn. 9). Nach ständiger gefestigter Rechtsprechung ist nicht jeder Verstoß gegen die einschlägigen Unfallverhütungsvorschriften schon als ein grob fahrlässiges Verhalten im Sinne des § 110 Sozialgesetzbuch VII zu werten (u.a. BGH in VersR 1984, 775). Vielmehr kommt es darauf an, ob es sich um eine Unfallverhütungsvorschrift handelt, die sich mit Vorrichtungen zum Schutz der Arbeiter vor tödlichen Gefahren befasst und somit elementare Sicherungspflichten zum Inhalt hat (BGH vom 30.1.2001, Aktenzeichen VI ZR 49/00, in juris Rn. 14). Allerdings lässt ein Verstoß gegen Unfallverhütungsvorschriften die Ursächlichkeit für den Schaden vermuten (Kasseler Kommentar, zu § 110 Rn. 5).

1. Vorliegend wurde gegen Unfallverhütungsvorschriften verstoßen.

a) Zum einen wurde gegen die BGI 807 verstoßen.

Dort heißt es unter Nummer 4 der Begriffsbestimmungen:

Randsicherungen sind Einrichtungen, die den Absturz von Personen an Decken- und Dachkanten von Flächen mit einem Neigungswinkel kleiner gleich 20° verhindern. Sie bestehen aus Randsicherungspfosten, Schutznetzen und Seilen.

Eine solche Randsicherung lag unstreitig nicht vor. Das Dach hatte auch unstreitig eine Neigung von 19°.

Ob diese berufsgenossenschaftliche Information unter die Unfallverhütungsvorschriften im engeren Sinne fällt ist fraglich. Es handelt sich hierbei laut der Vorbemerkung der BGI um Hinweise und Empfehlungen der Berufsgenossenschaft Bau, die die praktische Anwendung von Vorschriften erleichtern soll. Die endgültige Entscheidung über diese Frage kann hier jedoch dahinstehen, da jedenfalls ein Verstoß gegen eine „klassische“ Unfallverhütungsvorschrift gegeben ist.

b) Vorliegend wurde gegen § 12 BGV C 22 verstoßen. Dieser sieht in Abs. 1 Nr. 4 vor, dass bei Arbeiten auf Dächern mit mehr als 3 m Absturzhöhe Absturzsicherungen vorhanden sein müssen. Eine solche Absturzsicherung war unstreitig nicht vorhanden. Soweit die Beklagtenseite darauf abstellt, dass ein Anseilschutz im Sinne des Abs. 3 des § 12 BGV C 22 ausreichend gewesen wäre und auch vorhanden gewesen sei, kann dem nicht gefolgt werden. Ausweislich des Wortlautes der Vorschrift greift Abs. 3 nur abweichend von Abs. 2 ein. Damit müssen also zunächst die Voraussetzungen des Abs. 2 vorliegen. Dieser sieht vor, dass Absturzsicherungen aus arbeitstechnischen Gründen nicht verwendet werden können. Erst dann sind auf Auffangeinrichtungen zulässig. Es erfolgte jedoch kein Vortrag hierzu, wieso Absturzsicherungen aus arbeitstechnischen Gründen nicht verwendet werden konnten. Die Klägerseite hatte hierauf auch auf Seite 13 ihres Schriftsatzes vom 28.3.2013 hingewiesen. Dort führt sie zurecht an: „Und schließlich verkennt der Beklagte zu 1, das kollektive (technische) Sicherungsmaßnahmen gemäß dem berufsgenossenschaftlichen Durchführungsanweisungen immer Vorrang vor der Verwendung von persönlichen Schutzausrüstungen wie zum Beispiel Anseilschutz haben.“ Aus hiesiger Sicht kann damit dahinstehen, ob dem Geschädigten eine PSA zur Verfügung stand oder nicht. Nur der Vollständigkeit halber sei angefügt, dass dies offensichtlich einen Monat lang nicht der Fall gewesen ist, obwohl der Geschädigte darauf aufmerksam gemacht hatte.

c) Hierbei handelt es sich um eine Vorschrift, die dem Schutz der Arbeiter vor tödlichen Gefahren dient. Es kann vorliegend dahinstehen, ob die Absturzhöhe nun 4 oder 6 m betrug. Sie lag jedenfalls über den 3 m in der Vorschrift zur Unfallverhütung. Ein Sturz aus einer solchen Höhe kann tödlich enden. Es bleibt letztendlich dem Zufall überlassen, ob der Stürzende überlebt oder nicht. Dies hängt allein davon ab, wie der Stürzende auf dem Boden auftrifft. Die in Höhe von 3 m ist nicht umsonst in den Sicherheitsvorschriften verankert.

2. Im Rahmen der vorgeschriebenen Gesamtabwägung kann nach der durchgeführten Beweisaufnahme trotz des Verstoßes gegen eine Unfallverhütungsvorschrift nicht von einer groben Fahrlässigkeit des Beklagten zu 2 ausgegangen werden.

Zwar war der Beklagte zu 2 unstreitig als Bauleiter dafür verantwortlich, dass eine ausreichende Sicherung an der Baustelle vorhanden ist, welche letzten Endes nicht gegeben war.

Vorliegend ist ein objektiver Verstoß zu bejahen. Allerdings geht das Gericht nicht davon aus, dass damit auch ein Schluss auf ein subjektiv gesteigertes Verschulden, welches für die Bejahung der groben Fahrlässigkeit ebenfalls erforderlich ist, hier gerechtfertigt ist.

Das Gericht hält die Angaben des Beklagten zu 2 in seiner informatorischen Anhörung für glaubhaft. Der Beklagte zu 2 schilderte nachvollziehbar die gängige Vorgehensweise und erläuterte dann, warum im konkreten Fall davon abgewichen wurde. Er gab an, dass die Taufabsturzsicherung von ihm bestellt worden war und auch auf der Baustelle vorhanden war. Dann räumte er den von ihm begangenen Fehler ein, dass er nach Planungsänderung durch den Subunternehmer nicht mehr nachgefragt hatte, ob die Fangnetze auch wirklich vom Subunternehmer angebracht worden waren. Er habe letztendlich noch im Kopf gehabt, was er bestellt hatte und dass die Netze komplett für die Dachmontage bestellt worden waren.

Die Ausführungen des Beklagten zu 2 waren detailreich und logisch nachvollziehbar. Sie konnten deshalb der Entscheidung zu Grunde gelegt werden. Einer zusätzlichen Vernehmung des ansonsten noch benannten Zeugen Nusser bedurfte es deshalb nicht.

Die geschilderte fehlende erneute Überprüfung stellt jedenfalls eine Fahrlässigkeit des Beklagten zu 2 dar. Jedoch erfülle sie nach hiesiger Sicht nicht die Voraussetzungen einer groben Fahrlässigkeit. Der Beklagte zu 2 hatte dafür gesorgt, dass auf der Baustelle die ausreichenden Sicherheitsvorkehrungen vorhanden waren, indem er sie rechtzeitig vorbestellte. Das Vergessen des nochmaligen Nachfragens kann jedoch nicht als schlechthin unentschuldbar bewertet werden, zumal die Beweisaufnahme auch ergab, dass es unter den Mitarbeitern bekannt war, dass im Falle von nicht vorhandenen Sicherungen ein Anruf beim Bauleiter die Grundregel war. Einen solchen Anruf hatte der Zeuge … allerdings nicht getätigt.

2. Den Beklagten zu 1 trifft eine Haftung in Höhe von 50 % der gerechtfertigten Forderungen.

a) Der Beklagte zu 1 ist passivlegitimiert. Als Kommanditist unterfällt er der Vorschrift des § 104 Sozialgesetzbuch VII. Unternehmer ist derjenige, dem das wirtschaftliche Ergebnis des Unternehmens, der Wert oder Unwert der in dem Unternehmen verrichteten Arbeiten unmittelbar zum Vorteil oder Nachteil gereicht, mithin derjenige, der das Geschäftswagnis, das Unternehmerrisiko, trägt (Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, zu § 104 Rn. 11). Im Einzelfall zu entscheiden ist dies bei Kommanditisten; diese können für die KG als Beschäftigte oder als Unternehmer tätig werden. Die Unternehmereigenschaft eines Kommanditisten i.S.d. UV setzt voraus, dass er wenigstens maßgeblichen Einfluss auf die kaufmännische Leitung des Unternehmens hat (Kasseler Kommentar, zu § 136 Rn. 29, zu § 7 Rn. 92). Das ist vorliegend der Fall. Der Beklagte zu 1 ist Geschäftsführer der Komplementär GmbH.

b) Der Beklagte zu 1 kann sich seiner Verantwortung auch nicht entziehen, indem er sich darauf beruft, sich von seinen Fachleuten beraten zu lassen und selbst lediglich im kaufmännischen Bereich ausgebildet zu sein (Geigel, Haftpflichtprozess, 26. Auflage, 32. Kapitel, Rn. 16). Zwar besteht die Möglichkeit, dass ein Unternehmer zuverlässige und fachkundige Personen damit beauftragt, ihm nach Unfallverhütungsvorschriften obliegende Aufgaben in eigener Verantwortung wahrzunehmen. Diese Übertragung muss allerdings gemäß § 13 BGV A1 schriftlich erfolgen und den Verantwortungsbereich und die Befugnisse klar festlegen. Eine solche Übertragung hat es nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme vorliegend nicht gegeben. Der Beklagte zu 1 räumt selbst ein, dass so etwas schriftlich nicht erfolgt sei.

c) Dem Beklagten zu 1 ist vorliegend auch ein subjektiv gesteigertes Verschulden vorwerfbar.

Ausweislich der vorgelegten Anlagen in B1/4 und B1/5 sowie der Aussagen der Zeugen … und … gab es jährliche Besprechungen der Zimmerei, in denen die Sicherheitsmaßnahmen vermittelt wurden. Zeitlich nahmen diese bei den Besprechungen 1/3 bis 1/4 der Gesamtbesprechungszeit ein. Es wurde offensichtlich deutlich gemacht, dass Gerüste vorhanden sein müssen. Die Nichteinhaltung sollte gemeldet werden.

Das Durchführen dieser Schulungen reicht allerdings vor dem Hintergrund der bereits bis zum Zeitpunkt des Unfalls ergangenen Aufforderungen und Bußgeldbescheide nicht aus, um den Beklagten zu 1 zu entlasten. In der Anlage K3 hatte bereits das Gewerbeaufsichtsamt im Jahr 2009 das Arbeiten ohne Gerüst/Netz angemahnt. In der Anlage K4 wurde am 31.3.2010 gegen den Beklagten zu 1 ein Bußgeld in Höhe von 9.200 € festgesetzt. Dort wurde ebenfalls ein Verstoß gegen die hier einschlägige Vorschrift des § 12 Abs. 1 und 2 BGV C 22 moniert. Aus diesem geht hervor, dass gegen den Zeugen Novacek bereits dreimal rechtskräftige Geldbußen wegen Verstoßes gegen Unfallverhütungsvorschriften, insbesondere fehlende Absturzsicherungen auf Hallendächern, ergingen. Die Anlage K5 erging als sofort vollziehbare Anordnung ebenfalls wegen fehlenden Absturzsicherungen am 8.4.2010. Damit war bereits vor dem streitgegenständlichen Unfall offensichtlich klar, dass in der Firma nicht ausreichend für die Beachtung von Sicherheitsvorschriften Sorge getragen wird. Eine Aufstockung der Bauleiter erfolgte erst nach und nach laut Aussage des Zeugen …. Dieser gab auch an, dass bei den Baustellen immer das gleiche Problem vorlag. Die Sicherheitsnetze waren vorhanden, aber nicht aufgebaut. Dies sei das Problem im Rahmen der Bußgeldverfahren gewesen. Damit ist genau die hier streitgegenständliche Problematik seit Jahren Thema im Betrieb des Beklagten zu 1. Eine strukturierte planvolle Vorgehensweise zur Beseitigung dieses Problem konnte der Beweisaufnahme nicht entnommen werden. Aus den vorgelegten Anlagen der Schulungen geht auch deren genauer Inhalt nur rudimentär hervor. Ein gezieltes Beauftragen und Kontrollieren von zahlenmäßig ausreichenden Fachkräften im Bereich Sicherheit bzw. ein vorschriftsmäßiges Delegieren an solche zum Zeitpunkt des Unfalls durch den Beklagten zu 1 konnte die Beweisaufnahme nicht ergeben. Den Beklagten zu 1 trifft aus diesem Grunde auch ein subjektives Verschulden, womit die grobe Fahrlässigkeit im Sinne der Anspruchsgrundlage gegeben ist.

d) Allerdings ist hier auch ein Mitverschulden des Geschädigten zu berücksichtigen, weshalb lediglich eine Haftung des Beklagten zu 1 in Höhe von 50 % angesetzt wird. Als Maßstab für die Verantwortlichkeit eines Arbeitnehmers können die mildernden Grundsätze der Arbeitnehmerhaftung spiegelbildlich herangezogen werden. Dies bedeutet, dass ein Verschulden eines Arbeitnehmers bei der Verursachung eines betrieblichen Schadensereignisses grundsätzlich in einem milderen Licht zu sehen ist. In erster Linie obliegt es dem Arbeitnehmer, den Arbeitgeber auf erkennbare und von ihm erkannte Gefahren mündlich und gegebenenfalls mehrmals aufmerksam zu machen (OLG Bamberg, Beschluss vom 3.3.2008, Aktenzeichen 1 U 207/07). Vorliegend wird die Verpflichtung zur Meldung von sicherheitstechnisch nicht einwandfreien Einrichtungen sogar durch § 4 Abs. 3 BGV C 22 explizit geregelt. Bei dem Geschädigten handelt es sich um einen erfahrenen Handwerker, der als Vorarbeiter eingesetzt wurde. Er gab selbst in seiner Zeugenaussage an, dass ihm die Regelung bekannt war, dass bei Fehlen von Vorrichtungen eine Rückmeldung erfolgen könne. Diese Regelung war nach seiner Aussage als Grundregel zwischen den Arbeitskollegen bekannt. Der Zeuge räumte in seiner Aussage selbst ein, betriebsblind gewesen zu sein. Er habe nicht mal nach der Sicherheitsausrüstung im Auto geschaut, da er diese nicht für nötig gehalten habe. Das Dach sei so flach gewesen, dass er sich keine Gedanken gemacht habe. Damit hat auch der Geschädigte eine grob fahrlässige Herangehensweise an den Tag gelegt, als er in dem Bewusstsein der fehlenden seitlichen Sicherung auf das Dach stieg, obwohl dieses nass war und es bereits dämmerte, zumal ihm auch am Tag des Unfalls ein anderer Mitarbeiter an die Seite gestellt war. Der Grad des Mitverschuldens des Geschädigten ist mit 50 % zu bewerten.

Die Argumentation der Klägerseite, dass dem Geschädigten nichts anderes übrig geblieben sei als auf das Dach zu steigen, da er nicht unverrichteter Dinge hätte zurückfahren können, verfängt nicht. Zum einen war es dem Geschädigten – wie bereits ausgeführt – unbenommen einen Telefonanruf zu tätigen und Rücksprache zu halten. Dies wäre sogar seine Pflicht gewesen. Zum anderen war der Gedanke an einen möglichen Arbeitsplatzverlust bei Verweigerung der Arbeitsausführung nach eigener Aussage des Zeugen … gar nicht in seinen Erwägungen vorhanden.

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