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Verkehrsunfall – Anscheinsbeweis für Sorgfaltspflichtverstoß des Anfahrenden

Unfall oder Fahrlässigkeit: Ein Verkehrsstreit vor dem Landgericht Mönchengladbach

Zwischen einem VW Polo und einem Opel Astra hat sich am 15.10.2018 um 20:15 Uhr ein Verkehrsunfall in Mönchengladbach ereignet, der seither zu Streitigkeiten zwischen den beiden Parteien führt. Beide Parteien beanspruchen den jeweils anderen als Schuldigen und fordern den Schadensersatz für den an ihren Autos entstandenen Schaden. Ein klares Bild der Unfallursache lässt sich nicht zeichnen, da die Beteiligten unterschiedliche Schilderungen des Geschehens präsentieren. Die Klärung des Sachverhalts gestaltet sich somit als komplexe Angelegenheit.

Direkt zum Urteil Az: 5 S 29/20 springen.

Differenzen in den Darstellungen der Parteien

Der Kläger behauptet, er sei unter Beachtung der Rückschaupflicht und mit Betätigung des Fahrtrichtungsanzeigers auf die Straße eingefahren, nachdem er seine Arbeitskollegin aufgenommen hatte. Ihm zufolge kam der Beklagte mit überhöhter Geschwindigkeit angefahren, zog an ihm vorbei und scherte wieder ein, woraufhin es zur Kollision kam.

Hingegen stellt der Beklagte dar, dass der Kläger ohne Fahrtrichtungsanzeiger vom Parkstreifen auf die Straße gefahren sei. Um eine Kollision zu vermeiden, habe er nach links gelenkt und aufgrund des Gegenverkehrs sofort wieder nach rechts, um eine schlimmere Kollision zu verhindern.

Beweiserhebung und Urteilsfindung

Zur Klärung des Sachverhalts hat das Amtsgericht Beweise erhoben. Hierbei wurden der Kläger sowie eine Zeugin angehört und ein unfallanalytisches Gutachten eingeholt. Eine Anhörung des Beklagten konnte allerdings nicht stattfinden, da eine Ladung an seine Elternadresse verschickt wurde und er sie zu spät zur Kenntnis nehmen konnte. Trotz der Korrektur der Adresse durch seine Rechtsvertretung fand keine erneute Ladung statt.

Das Amtsgericht hat schließlich die Beklagten mit einem Urteil vom 23.07.2020 zur Zahlung von 1.730,06 EUR sowie weiteren 255,85 EUR verpflichtet. Dieses Urteil wurde jedoch vom Landgericht Mönchengladbach nach Berufung der Beklagten teilweise abgeändert.

Endgültiges Urteil und Konsequenzen

Das Landgericht entschied, die Klage abzuweisen. Darüber hinaus wurde der Kläger dazu verpflichtet, die Kosten des Rechtsstreits zu tragen. Das Urteil ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der genaue Hergang des Unfalls bleibt somit weiterhin umstritten, wobei die finanzielle Verantwortung nun beim Kläger liegt.


Das vorliegende Urteil

LG Mönchengladbach – Az.: 5 S 29/20 – Urteil vom 16.02.2021

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Amtsgerichts Mönchengladbach-Rheydt vom 06.05.2020 (Az. 11 C 121/19) unter Zurückweisung der Berufung des Klägers teilweise abgeändert und insgesamt wie folgt gefasst:

1.  Die Klage wird abgewiesen.

2.  Die Kosten des Rechtsstreits hat der Kläger zu tragen.

3.  Das Urteil ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.

Gründe

I.

Verkehrsunfall - Anfahrender verletzt Sorgfaltspflicht
(Symbolfoto: ambrozinio/Shutterstock.com)

Die Parteien streiten über Schadensersatzansprüche des Klägers aus einem Verkehrsunfall, der sich am 15.10.2018 gegen 20:15 Uhr auf der … Mönchengladbach ereignete. Die … ist an der Unfallstelle zweispurig, mit jeweils einer Fahrspur je Fahrtrichtung und erlaubt eine maximale Geschwindigkeit von 50 km/h. Unfallbeteiligt waren der im Eigentum des Klägers stehende und von diesem geführte PKW VW Polo und der vom Beklagten zu 1) geführte sowie bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherte und mittlerweile veräußerte PKW Opel Astra. Zwischen den Fahrzeugen kam es zu einer Kollision auf der Fahrspur in Fahrtrichtung …, in Höhe einer Einfahrt ca. 20 bis 30 Meter hinter der …, wobei das klägerische Fahrzeug am vorderen linken Kotflügel getroffen und die gesamte rechte Seite des Beklagtenfahrzeugs beschädigt wurde. Am Klägerfahrzeug entstand ein Schaden in Höhe von 2.858,91 EUR netto, für dessen Feststellung der Kläger weitere 576,20 EUR für einen privaten Sachverständigen aufwandte.

Der Kläger hat behauptet, er habe zunächst vor der … in der … in den parallel zur Fahrbahn verlaufenden Parkstreifen gehalten und die Zeugin …, eine Arbeitskollegin, zusteigen lassen. Dann sei er unter Beachtung der Rückschaupflicht sowie Betätigung des Fahrtrichtungsanzeigers in die … eingefahren und sei auf dieser ca. 30 bis 40 Meter gefahren. Währenddessen habe er den Beklagten zu 1) mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit herannahen sehen. Dieser sei sodann an ihm vorbei gezogen und ohne erkennbaren Grund, insbesondere habe kein Gegenverkehr bestanden, wieder nach rechts eingeschert und habe ihn am vorderen rechten Kotflügel touchiert.

Der Beklagte zu 1) hat hingegen behauptet, der Kläger sei plötzlich ohne Betätigung eines Fahrtrichtungsanzeigers vom Parkstreifen in die … eingefahren. Zur Vermeidung einer Kollision habe er zunächst nach links gelenkt, aufgrund des Gegenverkehrs aber unmittelbar wieder nach rechts lenken müssen, um eine schlimmere Kollision zu vermeiden.

Das Amtsgericht hat Beweis erhoben durch informatorische Anhörung des Klägers, Befragung der Zeugin … und Einholung eines unfallanalytischen Gutachtens des Sachverständigen … vom 24.03.2020. Zu einer informatorischen Anhörung des Beklagten zu 1) ist es trotz angeordneter Anwesenheit nicht gekommen, da die Ladung an die in der Klageschrift genannte Anschrift seiner Eltern gesandt worden ist und er sie deshalb erst verspätet zur Kenntnis nehmen konnte. Eine erneute Ladung an seine Wohnanschrift ist trotz deren Richtigstellung durch seine Prozessbevollmächtigte nicht erfolgt.

Das Amtsgericht hat die Beklagten mit Urteil vom 23.07.2020 als Gesamtschuldner zur Zahlung von 1.730,06 EUR nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz sei dem 04.12.2018 sowie zur Zahlung weiterer 255,85 EUR nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 09.05.2020 im Hinblick auf den Beklagten zu 1) und seit dem 10.05.2019 im Hinblick auf die Beklagte zu 2) verurteilt. Dabei hat es eine jeweils hälftigen Haftung beider Seiten für die durch das Unfallgeschehen verursachten Schäden angenommen. Den Kläger treffe ein Verstoß gegen § 10 S. 1 StVO, da der Unfall im unmittelbaren räumlichen und zeitlichen Zusammenhang zum Anfahren des Klägers in die Fahrbahn geschehen sei und gegen diesen daher der nicht widerlegte Beweis des ersten Anscheins streite. Der Beklagte zu 1) habe wiederum gegen die allgemeine Sorgfaltspflicht aus § 1 Abs. 2 StVO verstoßen habe, indem er ohne Grund, nachdem er nach links bereits ausgewichen sei, sein Fahrzeug wieder nach rechts gelenkt und dadurch die Kollision verursacht habe. Die Behauptung des Beklagten zu 1), dies sei aufgrund Gegenverkehrs zur Verhinderung einer schlimmeren Kollision nötig gewesen, hat das Amtsgericht, ohne ihn selbst anzuhören, aufgrund der Schilderung der Zeugin -… und des Klägers als nicht erwiesen angesehen. Die Verstöße der Unfallbeteiligten wögen bei gleicher Betriebsgefahr gleich schwer, was eine jeweils hälftige Haftung der Parteien rechtfertige.

Gegen das Urteil haben der Kläger und die Beklagten jeweils form- und fristgerecht Berufung eingelegt und diese jeweils begründet.

Der Kläger rügt mit seiner Berufung die Verletzung materiellen Rechts und verfolgt sein erstinstanzliches Ziel des vollständigen Schadenersatzes durch die Beklagten weiter. Ein Verstoß des Klägers gegen § 10 S. 1 StVO liege nicht vor. Durch das zunächst durch den Beklagten zu 1) erfolgte Ausweichen nach links sei die durch das Auffahren des Klägers auf die Fahrbahn gesetzte Gefahr abgewendet worden. Dass der Beklagte zu 1) sodann ohne Not wieder nach rechts gelenkt und dadurch den Unfall verursacht habe, sei der ursprünglichen Gefährdung des Klägers nicht mehr zuzurechnen, vielmehr sei der Zurechnungszusammenhang unterbrochen.

Der Kläger beantragt,

1.  die Beklagten und Berufungsbeklagten unter Abänderung des am 23.07.2020 verkündeten Urteils des Amtsgerichts Mönchengladbach-Rheydt (Aktenzeichen: 11 C 121/19) als Gesamtschuldner zu verurteilen, an den Kläger und Berufungskläger weitere 1.730,05 € nebst Zinsen in Höhe von 5 %-Punkten über dem jeweiligen Basiszins ab dem 04.12.2018 zu zahlen;

2.  die Beklagten und Berufungsbeklagten unter Abänderung des am 23.07.2020 verkündeten Urteils des Amtsgerichts Mönchengladbach-Rheydt (Aktenzeichen: 11 C 121/19) als Gesamtschuldner zu verurteilen, an den Kläger und Berufungskläger weitere 156,79 € nebst Zinsen in Höhe von 5 %-Punkten über dem Basiszins seit Rechtshängigkeit zu zahlen;

3.  die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Die Beklagten beantragen,

1.  das angefochtene amtsgerichtliche Urteil dahingehend abzuändern, dass die Klage insgesamt abgewiesen wird; hilfsweise, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur weiteren Verhandlung an das Amtsgericht zurückzuweisen;

2.  die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Die Beklagten rügen mit ihrer Berufung die Verletzung formellen sowie materiellen Rechts. Zum einen habe das Amtsgericht durch die Nichtanhörung des Beklagten zu 1) zur Behauptung, der Kläger sei plötzlich auf die Straße geschert und ein Ausweichen infolge Gegenverkehrs nicht möglich gewesen, dessen Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 103 GG verletzt. Das Gericht wäre vor dem Hintergrund seiner Überzeugungsbildung auf der Grundlage der Anhörung des Klägers und der Vernehmung der in seinem Lager stehenden Zeugin … aus Gründen der Waffengleichheit verpflichtet gewesen, den Beklagten zu 1) jedenfalls informatorisch anzuhören. Zum anderen wiege der Verstoß des Klägers gegen den höchsten Sorgfaltsmaßstab aus § 10 S. 1 StVO jedenfalls erheblich schwerer als ein allenfalls nur leichter Sorgfaltsverstoß des Beklagten zu 1). Durch das Fahrmanöver des Klägers habe sich der Beklagte nämlich in einer Schrecksituation befunden, in der ihm nach den sachverständigen Feststellungen nach Abzug der üblichen Reaktionszeit von einer Sekunde nur weiter 0,4 Sekunden verblieben, eine Ausweichreaktion zu zeigen. Dass diese nur bedingt gelang, könne ihm nicht oder jedenfalls nur sehr eingeschränkt zum Vorwurf gemacht werden.

Von einer weiteren Darstellung der tatsächlichen Feststellungen wird gemäß § 540 Abs. 2, 313a Abs. 1 S. 1 ZPO i.V.m. § 26 Nr. 8 ZPO abgesehen.

Das Berufungsgericht hat den Kläger und den Beklagten im Beisein des Sachverständigen … informatorisch angehört. Für das Ergebnis der Anhörung wird auf das Sitzungsprotokoll vom 16.02.2021 verwiesen.

II.

Die Berufung der Beklagten hat Erfolg, die Berufung des Klägers hat keinen Erfolg.

Das angegriffene Urteil beruht im Sinne der §§ 513 Abs. 1, 546 ZPO auf einer Verletzung des Rechts und die gemäß § 529 ZPO zugrunde zu legenden Tatsachen rechtfertigen eine andere Entscheidung.

1.

Der Kläger hat gegen die Beklagten keinen Anspruch auf Schadensersatz gemäß §§ 7 Abs. 1, 17 Abs. 1 und 2, 18 Abs. 1 StVG, im Hinblick auf die Beklagte zu 2) in Verbindung mit § 115 Abs. 1 Nr. 1 VVG i.V.m. § 1 PflVersG.

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a.

Zutreffend hat das Amtsgericht das Unfallgeschehen für beide unfallbeteiligten Fahrzeugführer als unvermeidbar gemäß § 17 Abs. 3 StVG angesehen, da beiden Parteien der ihnen insoweit obliegende Nachweis der Unvermeidbarkeit nicht gelungen ist. An diese Feststellungen sieht sich das Berufungsgericht gebunden, da die zugrunde liegende Beweiswürdigung konkrete Anhaltspunkte für Zweifel an ihrer Richtigkeit und Vollständigkeit nicht erkennen lässt, § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO.

b.

Keinen Bestand haben kann hingegen die Überzeugungsbildung von den einzelnen Verursachungsbeiträgen der Unfallbeteiligten im Rahmen ihrer Abwägung nach § 17 Abs. 1 und 2 StVG. Diese geschah zum einen unter Auslassung der gebotenen informatorischen Anhörung des Beklagten zu 1), diese war nachzuholen (vgl. BGH, Beschluss vom 27.09.2017 – XII ZR 48/17, Rn. 12 f., juris.de, m.w.N.). Zum anderen ergibt die Abwägung der Verursachungsbeiträge, dass der Unfall im Wesentlichen durch den Kläger verursacht worden ist. Dies rechtfertigt seine alleinige Haftung für die unfallbedingt eingetretenen Schäden.

Die Kammer hat bei der gebotenen Abwägung nur sämtliche festgestellten, das heißt unstreitigen, zugestandenen oder nach § 286 ZPO bewiesenen Umstände berücksichtigt, die sich auf den Unfall ausgewirkt haben (BGH, Urteil vom 07.02.2012 – VI ZR 133/11, Rn. 5, juris.de). Jeder Halter hatte hierbei die Umstände zu beweisen, die dem anderen zum Verschulden gereichen und aus denen er die nach der Abwägung für sich günstigen Rechtsfolgen herleiten will (OLG Düsseldorf, Urteil vom 24.10.2017 – I-1 U 133/16, Rn. 17, juris.de, m.w.N.).

Angesichts dieser Maßstäbe ist die Kammer davon überzeugt, dass der Kläger durch seine Auffahrt auf die Duvenstraße  gegen die höchste Sorgfaltspflicht des § 10 S. 1 StVO verstieß. Den gegen ihn streitenden Beweis des ersten Anscheins hat er nicht zu widerlegen vermocht. Insoweit sind die Feststellungen des Amtsgerichts richtig.

Gemäß § 10 Abs. 1 S. 1 StVO hat der von einem Fahrbahnrand Anfahrende eine Gefährdung der am fließenden Verkehr Teilnehmenden auszuschließen, der grundsätzlich auf die Einhaltung seiner Bevorrechtigung vertrauen darf. Kommt es in unmittelbarem zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit dem Anfahrenden zu einer Kollision mit dem fließenden Verkehr, so spricht aufgrund der Typizität eines solchen Unfallgeschehens, der Beweis des ersten Anscheins für einen Sorgfaltspflichtverstoß des Anfahrenden (KG Berlin, Beschluss vom 10.12.2007 – 12 U 33/07, Rn. 5, juris.de). Die höchste Sorgfaltspflicht des § 10 Abs. 1 S. 1 StVO entfällt regelmäßig erst dann, wenn sich der Anfahrende endgültig in den fließenden Verkehr eingeordnet hat und jede Einflussnahme des Anfahrvorgangs auf das weitere Verkehrsgeschehen ausgeschlossen ist (KG Berlin, Beschluss vom 27.12.2006 – 12 U 94/06, Rn. 21, juris.de).

Die Kammer ist aufgrund der erstinstanzlich durchgeführten Beweisaufnahme gemäß § 286 ZPO davon überzeugt, dass der Anfahrvorgang des Klägers auf die Duvenstraße noch nicht abgeschlossen war, als es zur Kollision zwischen seinem und dem Fahrzeug des Beklagten zu 1) gekommen ist. Denn zum Zeitpunkt seines Einfahrens in die Fahrbahn war eine Einflussnahme auf das weitere Verkehrsgeschehen noch nicht ausgeschlossen, da der erst ca. 10 bis 11 Meter vor der Unfallstelle erkennbar in den Fahrstreifen einfuhr und dem sich von hinten in der gleichen Fahrtrichtung nähernden Beklagten zu 1) zur Vermeidung eines unmittelbaren Auffahrens nur noch eine Reaktionszeit von 1,4 Sekunden verblieb.

Diese Überzeugungsbildung fußt im Wesentlichen auf den Bekundungen des Klägers in seiner informatorischen Anhörung durch das Amtsgericht sowie den Feststellungen des gerichtlich bestellten Sachverständigen … Der Kläger hat erklärt, dass vor seiner Anfahrt auf dem Parkstreifen vor der H. …hinter, aber nicht vor ihm, ein PKW gestanden habe, und er sodann ca. 30-40 Meter gefahren sei, bevor es zur Kollision gekommen sei. Der Sachverständige hat in seinem Gutachten vom 24.03.2020 unter Auswertung von Lichtbildern des Unfallorts sowie entsprechendem Kartenmaterial diese Schilderung als plausibel bewertet. An die Hausnummer … schließe in Fahrtrichtung die H. sowie der parallel zur Fahrbahn verlaufende Parkstreifen von einer Länge von 22 Metern bis zur Unfallörtlichkeit des abgesenkten Bordsteins an, die auf den Lichtbildern vom Unfallabend zu erkennen ist. Bei einer in Ermangelung anderer Schilderungen typischerweise zu unterstellenden linearen Einfahrt in die Fahrbahn, der klägerseits behaupteten Geschwindigkeit von ca. 30 km/h, einer nicht erwiesenen Geschwindigkeit des Beklagten zu 1) von mehr als 50 km/h, den aufgrund der Schäden her leitbaren Kollisionswinkel von 10 Grad und der bekannten Haltestelle des klägerischen PKW, müsse bei entsprechender Rückrechnung die Unfallstelle sechs bis sieben Meter vor dem Abstellort liegen und der Kläger zehn Meter zuvor erkennbar auf die Fahrbahn aufgefahren sein. Bei Annahme dieser Geschwindigkeiten verblieben dem Beklagten zu 1) zur Vermeidung einer unmittelbaren Auffahrkollision 1,4 Sekunden, wobei eine Sekunde diejenige Zeit sei, die ein durchschnittlicher Fahrer regelmäßig brauche, um auf eine Gefahrensituation zu reagieren. Die erstmalige informatorische Anhörung des Beklagten im Termin vom 16.02.2021 rechtfertige eine andere sachverständige Bewertung der Sachlage nicht.

Diese Feststellungen des als fachlich versiert bekannten Sachverständigen sind für die Kammer anhand der auch graphisch unterstützten Weg-Zeit-Berechnungen nachvollziehbar und überzeugend. Insbesondere die der Annahme zugrundeliegenden Fahrtwege entsprechen dem aufgrund der Örtlichkeit üblichen und erwartbaren Fahrverhalten.

Die Bekundungen der Zeugin … vor dem Amtsgericht, auf deren erneute Einvernahme in der Berufungsverhandlung im gegenseitigen Einverständnis aller Beteiligten verzichtet worden ist, bieten aus Sicht der Kammer darüber hinaus keine weiteren Anhaltspunkte. Sie stützen die Angaben des Klägers zwar im Kern, schildern dabei aber kaum konkret überprüfbare Begebenheiten. Die erstmalige informatorische Anhörung des Beklagten zu 1) hat ebenfalls keine weitergehenden belastbaren Angaben ergeben. Aufgrund des erheblichen Zeitablaufs hat er über die Einfahrt des Klägers in seine Fahrstreifen und der dann eingetretenen Kollision hinaus keine detaillierten Erinnerungen mehr an das Unfallgeschehen wiederzugeben vermocht.

Da es in unmittelbarer Nähe des Einfahrens des Klägers in die Fahrbahn zu einer Kollision mit dem herannahenden und bevorrechtigten Beklagten zu 1) gekommen ist, ist zu vermuten, dass der Kläger seiner höchsten Sorgfaltspflicht nicht nachgekommen ist. Die diesem Unfallgeschehen innewohnende Typizität des Hergangs ist durch den Kläger nicht durch Nachweis eines atypischen Verlaufs, der die Verschuldensfrage in einem anderen Lichte erscheinen ließe, widerlegt worden (BGH, Urteil vom 16.01.2007 – VI ZR 248/05, Rn. 5, juris.de).

Anders als der Kläger in seiner Berufung meint, wurde auch nicht ein etwaiger Zurechnungszusammenhang zwischen seiner Pflichtverletzung gemäß § 10 S. 1 StVO und dem weiteren Kollisionsgeschehen durch die nach rechts erfolgte Lenkbewegung des Beklagten zu 1) unterbrochen. Es ist zwar anerkannt, dass ein adäquater Zusammenhang dann fehlen kann, wenn der Geschädigte oder ein sonstiger Dritter dem Geschehen eine Wendung gibt, die die Wertung erlaubt, dass das zunächst gesetzte Risiko für das Unfallgeschehen von völlig untergeordneter Bedeutung wird, seine Haftung daher gerechtfertigt erscheint (vgl. BGH, Urteil vom 10.02.2004 – VI ZR 218/03, Rn. 13 ff., juris.de, m.w.N.). Hierbei ist anhand einer wertenden Betrachtung festzustellen, ob der geltend gemachte Schaden in einem inneren Zusammenhang mit der durch den Schädiger geschaffenen Gefahrenlage steht; ein “äußerlicher”, gleichsam “zufälliger” Zusammenhang genügt nicht (BGH, Urteil vom 26.02.2013 – VI ZR 116/12, Rn. 12, juris.de). Ein solcher Fall liegt hier jedoch nicht vor.

Zum einen ist es dem Kläger schon nicht gelungen, zur Überzeugung der Kammer nachzuweisen, dass der Beklagte zu 1) sein Fahrzeug im Rahmen einer Ausweichbewegungen bewusst und willentlich nach links und wieder nach rechts gelenkt, und es sich hierbei nicht um ein in Schrecksekunden erwartbar misslungenes Ausweichmanöver gehandelt hat. Sofern nicht ausnahmsweise Umstände dargelegt und bewiesen werden, ausweislich derer der Geschädigte ausreichend Zeit dazu hatte, besonnen und ruhig das Richtige und Sachgerechte zur Verhütung des Unfalls zu unternehmen, ist von der vom Kläger geltend gemachten Zäsur nicht auszugehen (OLG Düsseldorf, Urteil vom 11.10. 2011 – I-1 U 17/11, Rn. 31, juris.de, m.w.N.). Hierfür bestehen nach den Ausführungen des Sachverständigen in seinem Gutachten vom 24.03.2020 wie auch der Anhörung vom 16.02.2021 keine objektiven Anhaltspunkte, da dem Beklagten zu 1) nach Abzug der üblichen Reaktionszeit von 1 Sekunde lediglich 0,4 Sekunden verblieben, ein mögliches Ausweichmanöver einzuleiten. Selbst bei einer willentlichen Lenkung des Beklagten zu 1) nach rechts, weil dieser fälschlich glaubte, den Kläger bereits überholt zu haben, bestünde weiterhin ein innerer Zusammenhang zu der Sorgfaltspflichtverletzung des Klägers. Auch die weitere Lenkbewegung des Beklagten war Teil der unmittelbar auf die Einfahrt des Klägers eingeleiteten Ausweichbewegung und kann daher auch angesichts der Kürze des Geschehens nicht als losgelöste, rein zufällig mit der Pflichtverletzung zusammentreffende, eigenständige Handlung des Beklagten zu 1) gesehen werden.

Dem Kläger ist es daher nicht gelungen, eine Sorgfaltspflichtverletzung des Beklagten zu 1) nachzuweisen. Weder hat die Kammer sich angesichts der sachverständigen Feststellungen davon zu überzeugen vermocht, dass der Beklagte zu 1) mit erhöhter Geschwindigkeit gefahren wäre, die Geschwindigkeit betrug nachweislich nicht mehr als 50 km/h, noch bestehen aus den vorgenannten Gründen Anhaltspunkte dafür, dass der Beklagte zu 1) im Rahmen eines etwaigen Ausweichmanövers willentlich und nicht bloß aus der Schrecksekunde der Ausweichbewegung mit dem klägerischen Fahrzeug kollidiert wäre.

Bei der Abwägung der gegenseitigen Verursachungsbeiträge wiegt der Sorgfaltspflichtverstoß des Klägers besonders schwer. Der Kläger hatte zum einen das Vorrecht des Beklagten zu 1) als Teil des fließenden Verkehrs mit höchster Sorgfalt zu beachten. Zum anderen hatte der Kläger das Beklagtenfahrzeug bereits nach der eigenen Bekundung von weiterer Entfernung herannahen sehen, hätte also das Unfallgeschehen durch kurzes Zuwarten und Passierenlassen des Beklagten zu 1) ohne weiteres vermeiden können. Dies rechtfertigt es, die hiernach lediglich beim Beklagten zu 1) verbleibende einfache Betriebsgefahr seines in bevorrechtigter Geradeausfahrt befindlichen PKW vollständig hinter der durch den schwerwiegenden Sorgfaltspflichtverstoß erhöhten Betriebsgefahr des Klägerfahrzeugs zurücktreten zu lassen.

2.

In Ermangelung eines Hauptanspruchs hat der Kläger gegen die Beklagten als Gesamtschuldner auch keinen Anspruch auf Erstattung vorgerichtlicher Anwaltskosten gemäß §§ 7 Abs. 1, 17 Abs. 1 und 2, 18 Abs. 1 StVG, im Hinblick auf die Beklagte zu 2) in Verbindung mit § 115 Abs. 1 Nr. 1 VVG i.V.m. § 1 PflVersG.

3.

Die prozessualen Nebenentscheidungen folgen aus §§ 91, 97, 100 Abs. 1 und 4, 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO i.V.m. § 26 Nr. 6 EGZPO.

Der Streitwert wird für das erstinstanzliche wie auch das Berufungsverfahren festgesetzt auf jeweils 3.460,11 EUR.


Die folgenden rechtlichen Bereiche sind u.a. in diesem Urteil relevant:

  1. Verkehrsrecht: Das Verkehrsrecht ist das zentrale Rechtsgebiet in diesem Fall, da es sich um einen Verkehrsunfall handelt. Es umfasst Regeln und Vorschriften, die das Verhalten der Verkehrsteilnehmer auf den Straßen regeln. In diesem speziellen Fall geht es um die Frage der Haftung bei einem Verkehrsunfall. Die Beteiligten haben unterschiedliche Versionen des Unfallhergangs vorgebracht und es wird geprüft, inwieweit jeder der Beteiligten gegen die Verkehrsvorschriften verstoßen hat.
  2. Straßenverkehrsordnung (StVO): Innerhalb des Verkehrsrechts sind zwei spezielle Normen der Straßenverkehrsordnung relevant. Zum einen § 10 Satz 1 StVO, der besagt, dass beim Anfahren in den Verkehr jeder dafür Sorge zu tragen hat, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Zum anderen § 1 Abs. 2 StVO, der die allgemeine Sorgfaltspflicht beim Führen eines Fahrzeugs festlegt. Beide Vorschriften wurden im Urteil genannt und die Verstöße gegen sie wurden als Grundlage für die Entscheidung über die Haftung herangezogen.
  3. Zivilrecht/Schadensersatzrecht: Das Zivilrecht ist auch relevant, da der Kläger Schadensersatz für den durch den Unfall verursachten Schaden fordert. Insbesondere das Schadensersatzrecht kommt zur Anwendung, das regelt, wann und in welchem Umfang ein Schaden zu ersetzen ist. Im vorliegenden Fall wurde die Frage der Haftung auf der Grundlage des Verstoßes gegen die Verkehrsvorschriften geklärt und entsprechend Schadensersatz zugesprochen.
  4. Zivilprozessrecht: Schließlich ist auch das Zivilprozessrecht betroffen, da der Fall vor Gericht verhandelt wurde. Im Urteil wurden Verfahrensfragen angesprochen, zum Beispiel die Beweiserhebung durch Zeugenaussagen und Sachverständigengutachten sowie die Frage, ob die Berufung der Beklagten begründet war.

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