Übersicht:
- Das Wichtigste in Kürze
- Der Fall vor Gericht
- LG Saarbrücken: Voller Ersatz fiktiver Reparaturkosten bei Weiternutzung trotz anfänglicher Verkehrsunsicherheit – Nachweis durch Gerichtsgutachten und TÜV genügt
- Der Unfallhergang in Saarbrücken und die strittige Schuldfrage
- Schadensermittlung: Nettoreparaturkosten, Wiederbeschaffungswert und die Frage der Verkehrssicherheit
- Das Verfahren vor dem Amtsgericht: Volle Haftung, aber nur begrenzter Schadensersatz
- Die Berufung vor dem Landgericht: Kampf um die vollen Nettoreparaturkosten
- Die Entscheidung des Landgerichts Saarbrücken: Voller Schadensersatz für den Autobesitzer
- Die Begründung des Landgerichts: Nachweis der Weiternutzung und Verkehrssicherheit als Schlüssel
- Die Schlüsselerkenntnisse
- Häufig gestellte Fragen (FAQ)
- Wann kann ich nach einem Verkehrsunfall fiktive Reparaturkosten geltend machen?
- Was bedeutet „Wiederbeschaffungswert“ und „Wiederbeschaffungsaufwand“ im Schadensfall?
- Was ist der Unterschied zwischen „fahrbereit“ und „verkehrssicher“ nach einem Unfall?
- Welche Rolle spielt ein Gutachten nach einem Verkehrsunfall und wer trägt die Kosten?
- Was bedeutet „Beweis des ersten Anscheins“ und wie wirkt er sich auf meine Schuldfrage aus?
- Glossar
- Wichtige Rechtsgrundlagen
- Das vorliegende Urteil
Urteil Az.: 13 S 88/23 | Schlüsselerkenntnis | FAQ | Glossar | Kontakt
Zum vorliegendenDas Wichtigste in Kürze
- Gericht: LG Saarbrücken
- Datum: 20.06.2024
- Aktenzeichen: 13 S 88/23
Beteiligte Parteien:
- Kläger: Der Eigentümer des beschädigten PKW. Er forderte vollständigen Ersatz der geschätzten Reparaturkosten.
- Beklagte: Der Fahrer, die Eigentümerin und die Haftpflichtversicherung des am Unfall beteiligten LKW. Sie bestritten die Unfallursache und wollten nur einen geringeren Betrag zahlen.
Worum ging es in dem Fall?
- Sachverhalt: Nach einem Verkehrsunfall zwischen einem PKW und einem LKW stritten die Parteien über die Unfallursache. Der Kläger behauptete, der LKW sei rückwärts gerollt, die Beklagten bestritten dies.
- Kern des Rechtsstreits: Im Zentrum stand die Frage, wie viel Schadenersatz dem Kläger zusteht, insbesondere ob er bei fiktiver Abrechnung die höheren geschätzten Reparaturkosten verlangen kann, auch wenn das Fahrzeug nach dem Unfall zunächst als nicht verkehrssicher galt, er es aber nachweislich reparieren ließ und weiternutzt.
Was wurde entschieden?
- Entscheidung: Das Landgericht änderte das Urteil der Vorinstanz und verurteilte die Beklagten, dem Kläger einen weiteren Betrag zur vollständigen Abdeckung seines geltend gemachten Schadens zu zahlen, zuzüglich Zinsen und weiterer Anwaltskosten. Die Beklagten tragen die gesamten Prozesskosten.
- Begründung: Das Gericht bestätigte die alleinige Haftung der Beklagten für den Unfall. Es stellte fest, dass der Kläger die geschätzten Reparaturkosten verlangen kann, da er bewiesen hat, dass das Fahrzeug nach dem Unfall repariert und in einen verkehrssicheren Zustand gebracht wurde, was unter anderem durch ein Gutachten und die bestandene TÜV-Prüfung belegt war.
- Folgen: Der Kläger erhält den vollen von ihm geltend gemachten Schadenersatz auf Basis der geschätzten Reparaturkosten sowie seine Anwaltskosten. Die Beklagten müssen diesen Betrag zahlen und alle Kosten des Rechtsstreits tragen.
Der Fall vor Gericht
LG Saarbrücken: Voller Ersatz fiktiver Reparaturkosten bei Weiternutzung trotz anfänglicher Verkehrsunsicherheit – Nachweis durch Gerichtsgutachten und TÜV genügt

Das Landgericht Saarbrücken hat in einem aktuellen Urteil (Az. 13 S 88/23 vom 20.06.2024) entschieden, unter welchen Bedingungen ein Unfallgeschädigter die Fiktive Abrechnung von Nettoreparaturkosten verlangen kann, auch wenn diese Kosten den Wiederbeschaffungsaufwand übersteigen, aber unter dem Wiederbeschaffungswert liegen und das Fahrzeug nach dem Unfall zunächst als nicht verkehrssicher galt. Entscheidend sind der Nachweis der Weiternutzung und die Wiederherstellung der Verkehrssicherheit, die hier durch ein Gerichtsgutachten und eine bestandene Hauptuntersuchung erbracht wurden.
Der Unfallhergang in Saarbrücken und die strittige Schuldfrage
Am 28. Juli 2021 kam es in Saarbrücken zu einem Verkehrsunfall zwischen dem Personenkraftwagen eines Autofahrers und einem Lastkraftwagen. Beide Fahrzeuge hatten an einer roten Ampel gehalten. Nachdem die Ampel auf Grün umsprang, fuhr der LKW an und legte etwa 500 Meter zurück. Der Autofahrer gab an, der LKW sei beim Anfahren oder kurz danach rückwärts gerollt und mit seinem dahinterstehenden Fahrzeug kollidiert. Die Polizei nahm den Unfall auf und verwarnte den LKW-Fahrer mündlich als Unfallverursacher.
Die Haftpflichtversicherung des LKW, der LKW-Fahrer selbst und der Halter des LKW bestritten jedoch, dass der LKW eine Rückwärtsbewegung gemacht habe und somit den Unfall verursacht hätte. Sie argumentierten, der LKW sei mit einer Halbautomatik und einer Anfahrhilfe ausgestattet, die ein unabsichtliches Zurückrollen verhindern würden. Eine Kollision sei ihrer Ansicht nach nur möglich gewesen, wenn der Autofahrer beim Anfahren auf den LKW aufgefahren wäre. Hierfür spreche der sogenannte Beweis des ersten Anscheins gegen den Autofahrer.
Schadensermittlung: Nettoreparaturkosten, Wiederbeschaffungswert und die Frage der Verkehrssicherheit
Der Autofahrer ließ nach dem Unfall ein Schadensgutachten erstellen. Dieses Gutachten bezifferte die Nettoreparaturkosten für sein Fahrzeug auf 3.101,68 Euro. Der Wiederbeschaffungswert des Autos, also der Wert, den ein vergleichbares Fahrzeug auf dem Gebrauchtwagenmarkt hätte, wurde – nach Berücksichtigung eines bereits zuvor ausgetauschten Motors – auf 3.900,00 Euro korrigiert. Der Restwert des beschädigten Fahrzeugs wurde im Gutachten mit 1.510,00 Euro angegeben; die gegnerische Versicherung setzte diesen später mit 2.399,00 Euro an. Die Kosten für das Sachverständigengutachten beliefen sich auf 823,72 Euro.
Ein wichtiger Punkt im Gutachten war die Einstufung des Fahrzeugs zum Zeitpunkt der Besichtigung: Es wurde als „fahrfähig, nicht verkehrssicher“ bezeichnet. Die mangelnde Verkehrssicherheit betraf unstrittig die rechte vordere Beleuchtungseinrichtung.
Der Autofahrer forderte von der Haftpflichtversicherung des LKW die Erstattung der Nettoreparaturkosten, der Sachverständigenkosten sowie eine Unkostenpauschale von 25,00 Euro, insgesamt also 3.950,40 Euro. Die Versicherung regulierte den Schaden jedoch nur teilweise. Sie ging von einer Haftungsquote von 50% aus und legte ihrer Berechnung den sogenannten Wiederbeschaffungsaufwand zugrunde. Dieser errechnet sich aus dem Wiederbeschaffungswert abzüglich des Restwerts (hier: 3.802,50 Euro – 2.399,00 Euro = 1.403,50 Euro). Die Versicherung zahlte daher nur 714,25 Euro an den Autofahrer und 411,86 Euro direkt an den Sachverständigen, insgesamt 1.126,11 Euro. Eine weitergehende Zahlung lehnte sie ab, da der LKW-Fahrer den vom Autofahrer geschilderten Unfallhergang bestritt und ein Zurückrollen des LKW für ausgeschlossen hielt.
Das Verfahren vor dem Amtsgericht: Volle Haftung, aber nur begrenzter Schadensersatz
Der Autofahrer verklagte daraufhin die Versicherung, den LKW-Fahrer und den LKW-Halter auf Zahlung der restlichen 2.824,29 Euro sowie der ihm entstandenen vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten. Er beharrte darauf, dass der LKW rückwärts gerollt sei und er den Unfall nicht habe verhindern können, weshalb die Gegenseite zu 100% hafte. Er betonte, dass er das Fahrzeug weiterhin nutze und kein wirtschaftlicher Totalschaden vorliege, da die Reparaturkosten unter dem Wiederbeschaffungswert lägen. Er gab an, das Fahrzeug nach dem Unfall von einer Firma provisorisch in einen verkehrssicheren Zustand habe versetzen lassen.
Die Gegenseite bestritt weiterhin die Unfallschilderung des Autofahrers und behauptete, dieser sei aufgefahren. Für den Fall, dass doch eine Haftung ihrerseits bestehen sollte, argumentierten sie, dem Autofahrer stehe lediglich der Wiederbeschaffungsaufwand von 1.403,50 Euro zu. Bei einer fiktiven Abrechnung (also der Auszahlung der Reparaturkosten ohne Vorlage einer Reparaturrechnung) seien die Nettoreparaturkosten nur dann zu ersetzen, wenn das Fahrzeug mindestens sechs Monate in verkehrssicherem Zustand weiterbenutzt werde. Dies habe der Autofahrer nicht nachgewiesen, da sein eigenes Sachverständigengutachten das Fahrzeug als nicht verkehrssicher ausgewiesen habe.
Das Amtsgericht Saarbrücken gab dem Autofahrer nur teilweise Recht. Nach einer Beweisaufnahme kam es zu dem Schluss, dass der LKW tatsächlich rückwärts auf das stehende Fahrzeug des Autofahrers aufgefahren war und somit die Gegenseite zu 100% für den Unfall haftet. Hinsichtlich der Schadenshöhe teilte das Amtsgericht jedoch die Auffassung der Versicherung: Es sprach dem Autofahrer lediglich den Wiederbeschaffungsaufwand von 1.403,50 Euro zu. Zwar lägen die Reparaturkosten unter dem Wiederbeschaffungswert, aber nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) habe der Geschädigte bei fiktiver Abrechnung keinen Anspruch auf Ersatz der Nettoreparaturkosten, wenn er nicht nachweise, das Fahrzeug sechs Monate lang in verkehrssicherem Zustand weitergenutzt zu haben. Das vorgelegte Gutachten weise das Fahrzeug als nicht verkehrssicher aus, und ein Nachweis über eine Reparatur zur Beseitigung dieses Mangels fehle. Die Sachverständigenkosten und die Kostenpauschale wurden zusätzlich zugesprochen, der Anspruch auf Ersatz des Fahrzeugschadens jedoch auf den Wiederbeschaffungsaufwand begrenzt. Das Amtsgericht verurteilte die Gegenseite daher zur Zahlung von weiteren 1.126,11 Euro (zusätzlich zu den bereits gezahlten 1.126,11 Euro der Versicherung, die das Gericht hier anders verrechnete, aber im Ergebnis auf den vollen Wiederbeschaffungsaufwand plus Nebenkosten kam).
Die Berufung vor dem Landgericht: Kampf um die vollen Nettoreparaturkosten
Gegen dieses Urteil legte der Autofahrer Berufung ein und verfolgte seine ursprüngliche Forderung in voller Höhe weiter. Er betonte erneut, dass er das Fahrzeug nach wie vor nutze. Entgegen der Ansicht des Amtsgerichts habe der Sachverständige in seinem ursprünglichen Gutachten das Fahrzeug nicht generell als verkehrsunsicher eingestuft (obwohl das Gutachten dies explizit tat bezüglich der Beleuchtung). Zudem habe das Fahrzeug am 26. Juli 2023, also nach dem Urteil des Amtsgerichts, die TÜV-Prüfung (Hauptuntersuchung) bestanden. Die provisorische Reparatur des Scheinwerfers sei von einem Kfz-Meisterbetrieb aus Kulanz vorgenommen worden.
Die Gegenseite beantragte die Zurückweisung der Berufung und verteidigte das Urteil des Amtsgerichts, insbesondere hinsichtlich des fehlenden Nachweises der Verkehrssicherheit nach dem Unfall.
Die Entscheidung des Landgerichts Saarbrücken: Voller Schadensersatz für den Autobesitzer
Das Landgericht Saarbrücken änderte das Urteil des Amtsgerichts zugunsten des Autofahrers ab. Es verurteilte die Haftpflichtversicherung, den LKW-Fahrer und den LKW-Halter als Gesamtschuldner, an den Autofahrer weitere 2.824,29 Euro nebst Zinsen zu zahlen. Zusätzlich wurden dem Autofahrer weitere vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 367,23 Euro nebst Zinsen zugesprochen. Die gesamten Kosten des Rechtsstreits muss die Gegenseite tragen. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar; eine Revision wurde nicht zugelassen.
Die Begründung des Landgerichts: Nachweis der Weiternutzung und Verkehrssicherheit als Schlüssel
Das Landgericht begründete seine Entscheidung ausführlich. Die alleinige Haftung der LKW-Seite für den Unfall war in der Berufungsinstanz nicht mehr strittig und vom Amtsgericht korrekt mit 100% festgestellt worden. Der Streitpunkt war einzig die Höhe des Schadensersatzanspruchs.
Maßgeblich für die Schadensberechnung ist § 249 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB), der dem Geschädigten das Recht gibt, den zur Wiederherstellung des Zustands vor dem Unfall erforderlichen Geldbetrag zu verlangen. Das Gericht bestätigte die vom Amtsgericht festgestellten Schadenspositionen: Nettoreparaturkosten von 3.101,68 Euro, einen Wiederbeschaffungswert von 3.802,50 Euro und einen Wiederbeschaffungsaufwand von 1.403,50 Euro. Da der Reparaturaufwand (3.101,68 Euro) über dem Wiederbeschaffungsaufwand (1.403,50 Euro), aber unterhalb des Wiederbeschaffungswertes (3.802,50 Euro) liegt, handelt es sich um einen Fall der sogenannten „Stufe 2“ der BGH-Rechtsprechung zur fiktiven Schadensabrechnung. Diese Konstellation setzt ein sogenanntes „einfaches Integritätsinteresse“ des Geschädigten voraus – also sein nachvollziehbares Interesse, gerade dieses Fahrzeug weiter zu nutzen und nicht durch ein anderes zu ersetzen.
Nach ständiger Rechtsprechung des BGH kann der Geschädigte fiktive Reparaturkosten, die über dem Wiederbeschaffungsaufwand liegen, bis zur Höhe des Wiederbeschaffungswerts nur dann abrechnen, wenn er das Fahrzeug mindestens sechs Monate weiternutzt und es zu diesem Zweck, falls erforderlich, verkehrssicher (teil-)reparieren lässt.
Das Landgericht stellte fest, dass das Fahrzeug laut dem ursprünglichen Gutachten nach dem Unfall zwar fahrfähig, aber wegen der defekten rechten Vorderbeleuchtung nicht verkehrssicher war. Entscheidend war jedoch, dass der Autofahrer nach Ansicht des Landgerichts – anders als vom Amtsgericht bewertet – eine Reparatur seines Fahrzeugs, die zu einem verkehrssicheren Zustand geführt hat, nachgewiesen hat:
- Ein vom Amtsgericht bestellter Gerichtssachverständiger hatte in seinem Gutachten vom 19. Juni 2023 die provisorische Befestigung des rechten Scheinwerfers bildlich dokumentiert. Obwohl dieser Sachverständige die Reparatur als nicht optimal einstufte, kam er zu dem entscheidenden Schluss, dass das Fahrzeug „trotzdem… nicht als verkehrsunsicher einzustufen“ sei.
- Dieses Ergebnis wurde zusätzlich dadurch untermauert, dass das Fahrzeug des Autofahrers am 26. Juli 2023 die Hauptuntersuchung (TÜV) bestand und eine neue HU-Plakette erhielt (nachdem es bei einem ersten Versuch wegen anderer, unfallunabhängiger Mängel zunächst zurückgewiesen worden war). Das erfolgreiche Bestehen der HU ist ein starkes Indiz für die gegebene Verkehrssicherheit.
Das Landgericht grenzte den vorliegenden Fall von einer Entscheidung des Saarländischen Oberlandesgerichts ab, auf die sich das Amtsgericht bezogen hatte. In jenem Fall hatte das OLG für den Nachweis einer Reparatur in Eigenregie Belege über Ersatzteile oder einen Sachverständigennachweis gefordert. Dort stand das Fahrzeug während des Rechtsstreits jedoch nicht mehr für eine Begutachtung zur Verfügung. Im aktuellen Fall hingegen konnte der Gerichtssachverständige das Fahrzeug begutachten und die Art der Schadensbehebung dokumentieren. Dadurch stand fest, wie das Fahrzeug in einen verkehrssicheren Zustand gebracht wurde. Ein detaillierter Vortrag zu den Reparaturarbeiten oder Rechnungen dafür waren daher nicht zwingend erforderlich, da die Wiederherstellung der Verkehrssicherheit durch den Gerichtssachverständigen und die bestandene Hauptuntersuchung bestätigt wurde.
Folglich waren die Voraussetzungen für die Abrechnung der Nettoreparaturkosten erfüllt. Die korrekte Schadensberechnung beläuft sich somit auf 3.101,68 Euro (Reparaturkosten) + 823,72 Euro (Sachverständigenkosten) + 25,00 Euro (Unkostenpauschale) = 3.950,40 Euro. Davon waren bereits 1.126,11 Euro gezahlt worden, sodass ein offener Betrag von 2.824,29 Euro verblieb.
Der Autofahrer hat zudem Anspruch auf Erstattung seiner vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten, berechnet aus dem berechtigten Gesamtanspruch von 3.950,40 Euro. Dies ergab weitere 367,23 Euro. Der Zinsanspruch wurde ebenfalls zugesprochen. Die Nichtzulassung der Revision begründete das Gericht damit, dass der Fall keine grundsätzliche Bedeutung habe und die Entscheidung auf der Anwendung etablierter Rechtsgrundsätze auf den konkreten Einzelfall beruhe.
Die Schlüsselerkenntnisse
Das Urteil stärkt die Rechte von Unfallgeschädigten bei der fiktiven Abrechnung von Reparaturkosten. Es zeigt, dass auch bei zunächst verkehrsunsicheren Fahrzeugen der volle Ersatz der Reparaturkosten (über dem Wiederbeschaffungsaufwand) verlangt werden kann, wenn die Weiternutzung über sechs Monate und die Wiederherstellung der Verkehrssicherheit nachgewiesen werden. Für diesen Nachweis genügen ein Sachverständigengutachten und eine bestandene Hauptuntersuchung – detaillierte Reparaturnachweise oder Rechnungen sind nicht zwingend erforderlich. Diese praxisnahe Entscheidung erleichtert Geschädigten die Durchsetzung ihrer Ansprüche gegen Versicherungen.
Häufig gestellte Fragen (FAQ)
Wann kann ich nach einem Verkehrsunfall fiktive Reparaturkosten geltend machen?
Nach einem Verkehrsunfall haben Sie grundsätzlich das Recht, dass der Schaden an Ihrem Fahrzeug durch den Verursacher ersetzt wird. Eine Möglichkeit, diesen Schaden abzurechnen, ist die fiktive Abrechnung. Das bedeutet, Sie lassen sich die Reparaturkosten auszahlen, ohne das Fahrzeug tatsächlich oder in vollem Umfang in einer Werkstatt reparieren zu lassen.
Was sind „fiktive Reparaturkosten“?
Bei der fiktiven Abrechnung erhalten Sie das Geld, das eine Reparatur laut einem Kostenvoranschlag einer Werkstatt oder einem Sachverständigengutachten kosten würde. Sie können dieses Geld dann frei verwenden, zum Beispiel für eine günstigere Reparatur, eine Selbstreparatur oder auch gar keine Reparatur. Der Anspruch bezieht sich also auf die notwendigen Reparaturkosten, wie sie von einem neutralen Fachmann (Gutachter) oder einer qualifizierten Werkstatt (Kostenvoranschlag) geschätzt werden.
Die wichtigste Grenze: Die 130%-Regel
Sie können fiktive Reparaturkosten aber nicht unbegrenzt geltend machen. Eine sehr wichtige Grenze ist die sogenannte 130%-Regel. Diese Regel kommt ins Spiel, wenn die geschätzten Reparaturkosten sehr hoch sind im Vergleich zum Wert Ihres Fahrzeugs vor dem Unfall.
Dabei sind zwei Werte entscheidend:
- Wiederbeschaffungswert: Das ist der Wert, den Ihr Fahrzeug unmittelbar vor dem Unfall hatte. Stellen Sie sich vor, Sie müssten ein vergleichbares gebrauchtes Fahrzeug kaufen – das wäre ungefähr der Wiederbeschaffungswert.
- Reparaturkosten: Das sind die geschätzten Kosten, um den Unfallschaden fachgerecht zu reparieren.
Wenn die geschätzten Reparaturkosten netto (also ohne Mehrwertsteuer) mehr als 130% des Wiederbeschaffungswerts betragen, dann spricht man von einem wirtschaftlichen Totalschaden. In diesem Fall können Sie in der Regel nicht die vollen fiktiven Reparaturkosten verlangen. Stattdessen erhalten Sie normalerweise nur den sogenannten Wiederbeschaffungsaufwand.
Was bedeutet das praktisch?
Der Wiederbeschaffungsaufwand ist die Differenz zwischen dem Wiederbeschaffungswert und dem Restwert Ihres beschädigten Fahrzeugs. Der Restwert ist der Wert, den Ihr Fahrzeug nach dem Unfall noch hat, zum Beispiel beim Verkauf an einen Händler.
Wiederbeschaffungsaufwand = Wiederbeschaffungswert – Restwert
Wenn der Schaden so hoch ist, dass die Reparatur über 130% des Wiederbeschaffungswerts liegt, sieht das Gesetz es als unwirtschaftlich an, das Fahrzeug zu reparieren. Daher wird der Schaden auf Basis des Wiederbeschaffungsaufwands reguliert.
Liegen die geschätzten Reparaturkosten hingegen unter 130% des Wiederbeschaffungswerts, können Sie die fiktiven Reparaturkosten grundsätzlich abrechnen, auch wenn Sie nicht reparieren. Zusätzlich kann in solchen Fällen oft auch ein merkantiler Minderwert geltend gemacht werden – das ist der Wertverlust, den ein repariertes Unfallfahrzeug im Vergleich zu einem unfallfreien Fahrzeug hat.
Welche Nachweise brauche ich?
Um fiktive Reparaturkosten geltend zu machen, ist ein detailliertes Sachverständigengutachten in der Regel unerlässlich. Dieses Gutachten dokumentiert nicht nur den Schadenumfang und die geschätzten Reparaturkosten, sondern ermittelt auch den Wiederbeschaffungswert, den Restwert und gegebenenfalls den merkantilen Minderwert. Nur so kann die Gegenseite (meist die gegnerische Versicherung) Ihren Anspruch prüfen und feststellen, ob die 130%-Regel greift oder nicht.
Ein weiterer wichtiger Punkt bei der fiktiven Abrechnung ist die Mehrwertsteuer (VAT). Wenn Sie fiktiv abrechnen, erhalten Sie die Reparaturkosten in der Regel netto, also ohne die Mehrwertsteuer, die in einer Werkstatt anfallen würde. Haben Sie das Fahrzeug reparieren lassen und dafür Mehrwertsteuer bezahlt, können Sie diese gegen Nachweis der Reparatur (Rechnung) nachträglich von der Versicherung erhalten.
Was bedeutet „Wiederbeschaffungswert“ und „Wiederbeschaffungsaufwand“ im Schadensfall?
Wenn Ihnen ein Gegenstand, zum Beispiel Ihr Auto, durch einen Unfall beschädigt wird, sprechen Gutachter und Versicherungen oft vom Wiederbeschaffungswert und Wiederbeschaffungsaufwand. Diese Begriffe sind zentral, um zu verstehen, wie Ihr Schaden berechnet wird.
Der Wiederbeschaffungswert: Was ist mein Gegenstand „wert“?
Der Wiederbeschaffungswert beschreibt den Betrag, den Sie ausgeben müssten, um einen gleichwertigen Gegenstand auf dem regionalen Markt zu kaufen. Stellen Sie sich vor, Ihr zwei Jahre altes Auto mit einer bestimmten Laufleistung und Ausstattung wird beschädigt. Der Wiederbeschaffungswert ist der Preis, den Sie für ein ähnliches zwei Jahre altes Auto mit vergleichbarer Laufleistung und Ausstattung bei einem seriösen Händler zahlen müssten.
Es geht also nicht um den ursprünglichen Kaufpreis und auch nicht um den emotionalen Wert, sondern um den Preis, der nötig ist, um sich am Markt ein funktionsgleiches Ersatzstück zu beschaffen. Dieser Wert wird oft durch Gutachter ermittelt, die den Markt für gebrauchte Gegenstände der betreffenden Art beobachten.
Restwert und Wiederbeschaffungsaufwand: Die Berechnung des Schadens
Im Schadensfall bleibt vom beschädigten Gegenstand oft noch etwas übrig, zum Beispiel das Unfallfahrzeug selbst. Diesen verbleibenden Wert nennt man Restwert. Der Restwert ist der Betrag, den Sie erhalten könnten, wenn Sie den beschädigten Gegenstand (z.B. das Unfallauto) an einen Aufkäufer verkaufen.
Der Wiederbeschaffungsaufwand ist nun die Differenz zwischen dem Wiederbeschaffungswert und dem Restwert. Er zeigt an, wie viel Geld Ihnen fehlt, um sich nach Abzug des Restwerts einen gleichwertigen Ersatz zu beschaffen.
Die Berechnung sieht dann so aus: Wiederbeschaffungsaufwand = Wiederbeschaffungswert – Restwert
Dieser Wiederbeschaffungsaufwand ist oft der Betrag, den die Versicherung Ihnen ersetzt, insbesondere bei einem sogenannten „Totalschaden“. Ein Totalschaden liegt in der Regel vor, wenn die Reparaturkosten den Wiederbeschaffungswert übersteigen oder die Reparatur unwirtschaftlich wäre.
Was das für Ihren Schadensersatz bedeutet
Für Sie als Geschädigten ist das Verständnis dieser Begriffe wichtig, da sie die Höhe des Ihnen zustehenden Schadensersatzes maßgeblich beeinflussen können.
- Wenn Ihr Gegenstand so stark beschädigt ist, dass eine Reparatur nicht mehr sinnvoll oder zu teuer ist (Totalschaden), wird der Schaden oft auf Basis des Wiederbeschaffungsaufwands reguliert. Sie erhalten dann in der Regel den Wiederbeschaffungsaufwand ausgezahlt und können das beschädigte Objekt (den Restwert) selbst behalten und verkaufen oder den Erlös des Verkaufs anrechnen lassen.
- Wenn der Gegenstand repariert werden kann und die Reparaturkosten unterhalb des Wiederbeschaffungswerts liegen, wird in der Regel die Reparatur bezahlt. Übersteigen die Reparaturkosten den Wiederbeschaffungswert, spricht man oft vom Totalschaden, und die Abrechnung erfolgt über den Wiederbeschaffungsaufwand.
Die korrekte Ermittlung des Wiederbeschaffungswerts und des Restwerts ist daher entscheidend für die faire Abwicklung eines Schadensfalls.
Was ist der Unterschied zwischen „fahrbereit“ und „verkehrssicher“ nach einem Unfall?
Nach einem Unfall sind die Begriffe „fahrbereit“ und „verkehrssicher“ wichtig, aber sie bedeuten nicht dasselbe. Es ist entscheidend, den Unterschied zu kennen, um die Situation Ihres Fahrzeugs richtig einzuschätzen.
Was bedeutet „fahrbereit“?
Ein Fahrzeug ist „fahrbereit“, wenn es sich aus eigener Kraft bewegen kann. Das bedeutet einfach, dass Motor, Getriebe und Räder es ermöglichen, dass das Auto fährt, lenkt und vielleicht auch bremst – zumindest ein bisschen. Stellen Sie sich vor, Sie können das Auto aus einer Parklücke oder von der Fahrbahn bewegen. Das allein macht es fahrbereit. Ob es dabei Lärm macht, Teile schleifen oder Lichter fehlen, ist für die reine Fahrbereitschaft unerheblich.
Was bedeutet „verkehrssicher“?
Ein Fahrzeug ist „verkehrssicher“, wenn es die gesetzlichen Anforderungen für die Teilnahme am öffentlichen Straßenverkehr erfüllt. Das sind strenge Vorschriften, die sicherstellen sollen, dass vom Fahrzeug keine Gefahr für andere Verkehrsteilnehmer ausgeht. Dazu gehören zum Beispiel:
- Funktionierende Bremsen
- Intakte Beleuchtung (Scheinwerfer, Rücklichter, Blinker)
- Unbeschädigte Reifen mit ausreichender Profiltiefe
- Keine scharfen Kanten oder lose Teile am Fahrzeug
- Funktionierende Airbags und Gurtsysteme (nach einem Unfall oft ein Problem)
- Intakte Karosserie, die die Insassen schützt und die Fahrzeugteile an ihrem Platz hält
Kurz gesagt: Ein verkehrssicheres Fahrzeug ist technisch in Ordnung und entspricht den Regeln, die für das Fahren auf öffentlichen Straßen gelten.
Der entscheidende Unterschied nach einem Unfall
Der wichtige Punkt ist: Ein Fahrzeug kann nach einem Unfall fahrbereit sein, aber trotzdem nicht verkehrssicher!
Wenn Ihr Auto nach einem Zusammenstoß noch anspringt und fährt, ist es fahrbereit. Aber wenn dabei zum Beispiel die Beleuchtung beschädigt wurde, die Bremsleitung undicht ist, ein Airbag ausgelöst hat oder scharfe Blechteile hervorstehen, ist es nicht mehr verkehrssicher. Obwohl es sich noch bewegen lässt, darf es so nicht mehr am öffentlichen Straßenverkehr teilnehmen.
Warum dieser Unterschied bei der Schadensabwicklung wichtig ist
Ob Ihr Fahrzeug nach einem Unfall nur fahrbereit oder tatsächlich noch verkehrssicher ist, kann für die Abwicklung des Schadens eine Rolle spielen:
- Bewertung des Schadens: Ein Gutachter prüft nicht nur, ob das Auto noch fährt, sondern vor allem, ob es noch verkehrssicher ist. Der Grad der Beschädigung und die Frage der Verkehrssicherheit beeinflussen die Höhe des Schadens und ob eine Reparatur wirtschaftlich sinnvoll ist (Stichwort Totalschaden).
- Nutzung des Fahrzeugs: Ein Fahrzeug, das nicht mehr verkehrssicher ist, darf nach dem Unfall grundsätzlich nicht mehr auf öffentlichen Straßen gefahren werden. Wenn Sie ein nicht verkehrssicheres Fahrzeug dennoch nutzen und dadurch weitere Schäden entstehen oder Sie in einen neuen Unfall verwickelt werden, kann das Auswirkungen auf die ursprüngliche Schadensersatzforderung haben.
- Mietwagen oder Nutzungsausfall: Die Frage, ob und wie lange Ihnen Kosten für einen Mietwagen oder eine Nutzungsausfallentschädigung zustehen, hängt auch davon ab, wie schnell das Fahrzeug wieder verkehrssicher gemacht werden kann oder ob es ein Totalschaden ist, der nicht repariert wird.
Die Einschätzung, ob ein Fahrzeug nach einem Unfall noch verkehrssicher ist, sollte sehr ernst genommen werden, da die Weiterfahrt mit einem nicht verkehrssicheren Fahrzeug gefährlich ist und rechtliche Folgen haben kann. Oft ist hierfür die Begutachtung durch einen Sachverständigen notwendig.
Welche Rolle spielt ein Gutachten nach einem Verkehrsunfall und wer trägt die Kosten?
Nach einem Verkehrsunfall, insbesondere bei nicht nur unerheblichen Schäden am Fahrzeug, kann ein Schadengutachten eine wichtige Rolle spielen.
Die Rolle des Gutachtens
Ein Gutachten, erstellt von einem unabhängigen Sachverständigen, dient dazu, den am Fahrzeug entstandenen Schaden detailliert festzuhalten und zu dokumentieren. Stellen Sie sich vor, es ist wie ein präzises „Foto“ des Schadenszustands kurz nach dem Unfall.
Darüber hinaus berechnet das Gutachten die voraussichtlichen Kosten für die Reparatur des Fahrzeugs. Es gibt also eine klare Vorstellung davon, welcher finanzielle Aufwand nötig ist, um den Schaden zu beheben.
Ein Gutachten ermittelt auch wichtige Werte, die für die Abwicklung des Schadens entscheidend sein können:
- Den Wiederbeschaffungswert: Das ist der Wert, den Ihr Fahrzeug vor dem Unfall hatte, falls es nicht mehr repariert werden kann (Totalschaden) oder die Reparaturkosten den Wert übersteigen.
- Den Restwert: Das ist der Wert, den das beschädigte Fahrzeug noch hat, zum Beispiel für den Verkauf an einen Aufkäufer.
Das Gutachten schafft somit eine objektive Grundlage für die Schadensregulierung mit der gegnerischen Versicherung. Es hilft, die Höhe des Schadens festzustellen und die Ansprüche korrekt zu beziffern.
Wer trägt die Kosten?
Grundsätzlich gilt: Wenn Sie unverschuldet in einen Verkehrsunfall geraten sind, trägt die Versicherung des Unfallverursachers die Kosten für das Sachverständigengutachten.
Voraussetzung dafür ist, dass das Gutachten zur Feststellung des Schadens auch erforderlich war. Das ist in der Regel der Fall, wenn der Schaden am Fahrzeug eine bestimmte Höhe überschreitet. Bei kleineren Bagatellschäden, die offensichtlich gering sind (oft wird hier ein Richtwert von ca. 750 – 1000 Euro an Reparaturkosten genannt, dies kann aber variieren), ist ein teures Gutachten oft nicht zwingend erforderlich; hier kann unter Umständen eine Reparaturkostenkalkulation einer Werkstatt ausreichen.
Bei größeren Schäden gehört das Gutachten aber zu den notwendigen Kosten der Schadensfeststellung, die vom Schädiger bzw. dessen Versicherung übernommen werden müssen. Dies stellt sicher, dass Sie als Geschädigter nicht auf den Kosten sitzen bleiben, die zur Klärung der Schadenshöhe erforderlich sind.
Was bedeutet „Beweis des ersten Anscheins“ und wie wirkt er sich auf meine Schuldfrage aus?
Der „Beweis des ersten Anscheins“, juristisch auch Anscheinsbeweis genannt, ist ein juristisches Konzept, das auf typischen Geschehensabläufen im Alltag basiert. Stellen Sie sich eine Situation vor, die in den allermeisten Fällen auf eine bestimmte Art und Weise zustande kommt. Wenn genau diese typische Situation eintritt, geht das Gericht zunächst davon aus, dass auch die typische Ursache dafür verantwortlich ist.
Es handelt sich also um eine Art „tatsächliche Vermutung“, die aus der Lebenserfahrung abgeleitet wird. Ein sehr häufiges Beispiel kommt aus dem Straßenverkehr: Wenn jemand einem anderen Fahrzeug von hinten auffährt, spricht der erste Anschein dafür, dass der Auffahrende unaufmerksam war oder zu wenig Abstand gehalten hat. Das ist der typische Grund für einen Auffahrunfall.
Wie wirkt sich der Anscheinsbeweis auf die Beweislast aus?
Der Anscheinsbeweis vereinfacht die Beweisführung für die Partei, die sich auf diesen Anschein beruft. Wenn ein Gericht feststellt, dass ein typischer Geschehensablauf vorliegt (wie der Auffahrunfall von hinten), wird zunächst vermutet, dass die typische Ursache (Unaufmerksamkeit/Abstand) gegeben ist.
Für die andere Partei bedeutet das, dass sie nun nicht mehr nur abwarten kann, sondern aktiv werden muss. Sie muss den Beweis des ersten Anscheins entkräften oder widerlegen.
Wie kann der Anscheinsbeweis widerlegt werden?
Sie können den Beweis des ersten Anscheins widerlegen, indem Sie Tatsachen vortragen und gegebenenfalls beweisen, die darlegen, dass der Unfall oder das schädigende Ereignis trotz des typischen Ablaufs aus einem ganz anderen, untypischen Grund geschah.
Im Beispiel des Auffahrunfalls könnte das zum Beispiel sein:
- Der Vorausfahrende hat grundlos extrem stark abgebremst.
- Es gab einen unvorhersehbaren technischen Defekt an Ihrem Fahrzeug.
- Eine andere Person hat Sie von hinten auf das vordere Fahrzeug geschoben.
Es reicht dabei nicht aus, einfach zu behaupten, dass es anders war, oder bloß zu bestreiten, unaufmerksam gewesen zu sein. Sie müssen konkrete Umstände darlegen, die den typischen Ablauf als Ursache ernsthaft in Frage stellen und eine andere Möglichkeit nahelegen.
Die Folge für die „Schuldfrage“
Wenn der Anscheinsbeweis nicht widerlegt werden kann, geht das Gericht davon aus, dass die typische Ursache für das Ereignis vorlag. Dies führt oft dazu, dass die auf dem Anschein basierende Schuld oder Haftung angenommen wird.
Wird der Anscheinsbeweis hingegen erfolgreich widerlegt, ist die ursprüngliche Vermutung entkräftet. Das Gericht muss dann anhand aller vorgelegten Beweise frei entscheiden, wer für das Ereignis verantwortlich war. Die Beweislast liegt dann wieder bei der Partei, die ursprünglich einen Anspruch geltend gemacht hat.
Für Sie bedeutet das, dass bei einem typischen Geschehensablauf im Falle eines Streits zunächst eine starke Vermutung gegen die Partei spricht, die für diesen Ablauf typischerweise verantwortlich wäre. Diese Partei muss dann durch konkrete, untypische Umstände nachweisen, dass sie ausnahmsweise nicht die Ursache war.
Hinweis: Bitte beachten Sie, dass die Beantwortung der FAQ Fragen keine individuelle Rechtsberatung darstellt und ersetzen kann. Alle Angaben im gesamten Artikel sind ohne Gewähr. Haben Sie einen ähnlichen Fall und konkrete Fragen oder Anliegen? Zögern Sie nicht, uns zu kontaktieren – Fragen Sie unverbindlich unsere Ersteinschätzung an.
Glossar
Juristische Fachbegriffe kurz erklärt
Fiktive Abrechnung
Die fiktive Abrechnung bezeichnet im Schadensersatzrecht die Möglichkeit, Reparaturkosten geltend zu machen, ohne dass die Reparatur tatsächlich durchgeführt oder durch Rechnungen nachgewiesen wird. Stattdessen stützt sich der Geschädigte auf ein Gutachten oder einen Kostenvoranschlag, das die notwendigen Nettoreparaturkosten schätzt. Voraussetzung für die fiktive Abrechnung ist, dass das Fahrzeug nach dem Unfall weiter genutzt werden soll und mindestens sechs Monate mindestens verkehrssicher bleibt, um den Ersatzanspruch zu sichern (wie hier anwaltlich und gerichtlich diskutiert). Diese Regelung basiert auf der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (z.B. BGH, Urteil vom 19.11.2013 – VI ZR 13/13).
Wiederbeschaffungswert und Wiederbeschaffungsaufwand
Der Wiederbeschaffungswert ist der Betrag, den Sie aufwenden müssten, um ein gebrauchtes vergleichbares Fahrzeug in gleicher Art, Ausstattung und Zustand vor dem Unfall am Markt zu erwerben. Der Wiederbeschaffungsaufwand ergibt sich als Differenz zwischen dem Wiederbeschaffungswert und dem Restwert des beschädigten Fahrzeugs nach dem Unfall (also dem Verkaufswert des defekten Autos). Die Versicherung ersetzt im Schadensfall häufig statt der Reparaturkosten nur den Wiederbeschaffungsaufwand, wenn die Reparaturkosten den Wiederbeschaffungswert übersteigen oder eine Reparatur unwirtschaftlich ist (Totalschaden). Hier wurde die Schadensregulierung auf Basis des Wiederbeschaffungsaufwands vorgenommen, was bei der Abgrenzung zwischen Reparatur oder Ersatz des Fahrzeugs zentral ist.
Verkehrssicherheit
Verkehrssicherheit eines Fahrzeugs bedeutet, dass es die gesetzlichen Anforderungen für den Betrieb auf öffentlichen Straßen erfüllt und keine Gefahr für andere Verkehrsteilnehmer darstellt. Dies umfasst funktionierende Bremsen, Beleuchtung, intakte Reifen und keine sicherheitsrelevanten Beschädigungen. Ein Fahrzeug kann fahrbereit sein (also fahrfähig, motorbetrieben), aber dennoch nicht verkehrssicher sein, wenn z.B. wichtige Sicherheitskomponenten oder Beleuchtung fehlen. Hier war der Streitpunkt, ob das Fahrzeug nach dem Unfall den Zustand der Verkehrssicherheit erreicht hat, um Ersatz für fiktive Reparaturkosten beanspruchen zu können.
Beweis des ersten Anscheins (Anscheinsbeweis)
Der Beweis des ersten Anscheins ist eine Rechtsvermutung, die auf typischen, im Alltag häufig anzutreffenden Sachverhaltsabläufen beruht. Wenn ein typischer Geschehensablauf vorliegt, wird zunächst vermutet, dass die übliche Ursache auch hier ursächlich war. So wird etwa bei einem Auffahrunfall zunächst angenommen, dass der Auffahrende schuldhaft gehandelt hat. Diese Vermutung ist widerlegbar, wenn die Gegenseite nachweist, dass ein anderer untypischer Grund vorlag. Im vorliegenden Fall war der Anscheinsbeweis gegen den Autofahrer gerichtet, da nach Aussage der Gegenseite kein Rückwärtsrollen des LKW stattgefunden habe. Das Gericht musste daher prüfen, ob der Anscheinsbeweis widerlegt oder bestätigt wurde.
Gerichtssachverständiger (Gerichtsgutachter)
Ein Gerichtssachverständiger ist ein neutraler, vom Gericht beauftragter Fachmann, der den Sachverhalt wissenschaftlich oder technisch beurteilt und ein Gutachten erstellt. Dieses Gutachten dient als objektive Grundlage für die gerichtliche Entscheidungsfindung. Anders als private Sachverständigengutachten dient es der unabhängigen Beweisaufnahme im Prozess. Im vorliegenden Fall wurde der Gerichtssachverständige damit beauftragt, den Zustand des Fahrzeugs nach dem Unfall zu begutachten und die Frage der Verkehrssicherheit zu beurteilen. Seine Feststellungen waren entscheidend für die Beurteilung des Schadensersatzanspruchs.
Wichtige Rechtsgrundlagen
- § 249 Abs. 2 BGB (Bürgerliches Gesetzbuch): Regelt den Ersatz des Schadens durch den Geschädigten, wobei ihm der zur Wiederherstellung des vorherigen Zustands erforderliche Geldbetrag zu ersetzen ist. Dabei kann fiktiv abgerechnet werden, wenn die Reparaturkosten nachweisbar sind und eine Weiterverwendung des Fahrzeugs beabsichtigt ist. | Bedeutung im vorliegenden Fall: Die Grundlage für den Anspruch des Autofahrers auf Ersatz der Nettoreparaturkosten, da er die Reparaturkosten geltend macht und das Fahrzeug weiter nutzt.
- BGH-Rechtsprechung zur fiktiven Schadensabrechnung (Stufe 2): Bestimmt, dass bei Reparaturkosten über dem Wiederbeschaffungsaufwand bis zum Wiederbeschaffungswert nur Ersatz möglich ist, wenn das Fahrzeug mindestens sechs Monate in verkehrssicherem Zustand weitergenutzt wird. | Bedeutung im vorliegenden Fall: Entscheidet über den Umfang des Schadensersatzanspruchs, besonders ob der höhere Reparaturkostenbetrag anstatt nur des Wiederbeschaffungsaufwands erstattet werden kann.
- § 7 StVG (Straßenverkehrsgesetz) und Beweislastregeln im Haftungsrecht: Im Verkehrsrecht trägt derjenige die Beweislast für seine Unfallbehauptung; der Beweis des ersten Anscheins kann eine Beweiserleichterung bzw. Vermutung begründen, die widerlegt werden muss. | Bedeutung im vorliegenden Fall: Wichtig für die Feststellung der Haftung, da hier strittig war, ob der LKW rückwärts gerollt ist und die Gegenseite die Fahrweise abstreitet.
- § 823 BGB (Schadensersatzpflicht bei unerlaubten Handlungen): Regelt die Haftung bei schuldhafter Rechtsverletzung, insbesondere im Verkehrsunfallkontext für die verursachten Schäden. | Bedeutung im vorliegenden Fall: Grundlage für die Haftung des LKW-Fahrers und seiner Versicherung für die am Pkw entstandenen Schäden.
- Verkehrssicherheitsanforderungen und Hauptuntersuchung (§ 29 StVZO): Die Hauptuntersuchung bestätigt, ob ein Fahrzeug den Vorschriften zur Verkehrssicherheit entspricht; bestandene HU ist ein starker Indiz für die Verkehrssicherheit. | Bedeutung im vorliegenden Fall: Erbringt den Nachweis der Verkehrssicherheit nach Unfall und Reparatur, Voraussetzung für die Anerkennung der fiktiven Reparaturkosten.
- Rechtsprechung zur Beweisführung bei Reparatur und Verkehrssicherheit: Gerichtssachverständige können den Verkehrssicherheitszustand(sowie Reparaturmaßnahmen) auch ohne detaillierte Rechnungen oder Belege feststellen, insbesondere wenn das Fahrzeug begutachtet werden kann. | Bedeutung im vorliegenden Fall: Erlaubte dem Gericht, die Verkehrssicherheit durch gerichtliches Gutachten und bestandene HU zu bestätigen, wodurch der Autofahrer trotz fehlender detaillierter Reparaturdokumente die vollen Nettoreparaturkosten erstattet bekam.
Das vorliegende Urteil
LG Saarbrücken – Az.: 13 S 88/23 – Urteil vom 20.06.2024
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