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Verkehrsunfall – Kollision mit Streifenwagen auf Einsatzfahrt

Kollision mit Einsatzwagen: Missverständnis oder Missachtung der Verkehrsregeln?

Ein faszinierender Rechtsstreit beschäftigte das Landgericht Marburg, bei dem sich die Frage stellte, wer im Falle eines Unfalls zwischen einem Privatwagen und einem Einsatzfahrzeug die Verantwortung trägt. In diesem besonderen Fall ging es um eine Kollision zwischen einem Streifenwagen, der sich auf Einsatzfahrt befand, und einem privaten Opel Astra. Das Hauptproblem lag darin, dass der Streifenwagen trotz seiner Einsatzfahrt nicht das übliche akustische Signal (Sirene) benutzte, was zur Verwirrung auf Seiten der Klägerin führte. Im Kern ging es in diesem Rechtsstreit um die Frage der Haftung und Verantwortung bei einem Verkehrsunfall unter diesen besonderen Umständen.

Direkt zum Urteil Az: 7 O 278/18 springen.

Die Ereignisse am Unfallort

An einem Abend im Mai 2015 befand sich die Klägerin an einer Kreuzung und beabsichtigte, auf die Vorfahrtsstraße einzubiegen. Während sie diesen Abbiegevorgang durchführte, kollidierte sie mit einem von links kommenden Streifenwagen, der sich auf einer Einsatzfahrt befand. Der Streifenwagen war aufgrund eines gemeldeten Fahrraddiebstahls im Einsatz und fuhr mit aktiviertem optischen Warnsignal (Blaulicht), jedoch ohne Sirene.

Ein Streit um Sichtbarkeit und Verantwortung

Die Klägerin behauptete, sie habe sich vor dem Einbiegen vergewissert, dass kein Fahrzeug die Hauptstraße befahren würde. Sie argumentierte, dass der Streifenwagen aufgrund seiner hohen Geschwindigkeit, die weit über der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 70 km/h lag, und wegen des Kurvenbereichs nicht sichtbar war. Erst als sie bereits im Kreuzungsbereich war, bemerkte sie den von links kommenden Streifenwagen ohne akustische Warnsignale.

Die Entscheidung des Gerichts und ihre Folgen

Das Urteil des Landgerichts Marburg fiel zugunsten der Beklagten aus, wobei die Klägerin die Kosten des Rechtsstreits tragen musste. Dieses Urteil zeigt auf, wie komplex die Frage der Haftung und Verantwortung im Straßenverkehr sein kann, insbesondere wenn Einsatzfahrzeuge beteiligt sind. Es unterstreicht die Wichtigkeit von klaren und eindeutigen Regeln im Straßenverkehr, aber auch die Notwendigkeit für jeden Verkehrsteilnehmer, sich stets der umgebenden Situation bewusst zu sein.


Das vorliegende Urteil

LG Marburg – Az.: 7 O 278/18 – Urteil vom 14.05.2021

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits hat die Klägerin zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages.

Tatbestand

Die Parteien streiten um Ansprüche aus einem Verkehrsunfall vom 04.05.2015 in S..

Verkehrsunfall - Kollision mit Streifenwagen auf Einsatzfahrt
(Symbolfoto: Cineberg/Shutterstock.com)

Die Klägerin befuhr seinerzeit gegen 19:35 Uhr mit dem Fahrzeug der Marke Opel vom Typ Astra, amtliches Kennzeichen, die Straße „I. d. A.“. Im Bereich der Kreuzung zur B454 beabsichtigte die Klägerin, links auf die Vorfahrtsstraße in Richtung Z. einzubiegen, und hielt vor dem Kreuzungsbereich. Während des Abbiegevorganges kam es zum Zusammenstoß mit dem auf der Hauptstraße für die Klägerin von links kommenden, mit optischem Warnsignal („Blaulicht“) fahrenden Funkstreifenwagen mit dem amtlichen Kennzeichen, den der Zeuge G. steuerte und der im Unfallzeitpunkt von der Beklagten zu 1) gehalten wurde.

Der Streifenwagen war auf einer Einsatzfahrt gewesen, nachdem der Zeuge G. die Mitteilung erhalten hatte, dass ein Fahrraddieb gestellt und festgehalten werde, und er sich auf dem Weg dorthin befunden hatte.

Die Klägerin forderte die Beklagten mit Schreiben vom 01.03.2017 erfolglos zur Regulierung ihrer Schäden auf. Die Ansprüche ließen die Beklagten mit Schreiben vom 02.03.2017 zurückweisen.

Der Klägerin entstanden von ihr bereits gezahlte vorgerichtliche Rechtsanwaltsgebühren bei einem Gegenstandswert von 20.000,- Euro und 1,3 Gebühren nebst Telekommunikationspauschale und Umsatzsteuer in Höhe von 1.171,67 Euro.

Die Klägerin behauptet, der Funkstreifenwagen sei im Unfallzeitpunkt bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversichert gewesen.

Die Klägerin behauptet weiter, sie habe sich vor dem Kreuzungsbereich haltend versichert, dass kein Fahrzeug die Hauptstraße befahren hätte. Vor dem Einbiegen der Klägerin in den Kreuzungsbereich sei der Funkstreifenwagen aufgrund des Kurvenbereichs und seiner hohen Geschwindigkeit, die bei über 100 km/h und daher deutlich über der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 70 km/h gelegen habe, nicht sichtbar gewesen. Als sie bereits im Kreuzungsbereich gewesen sei, habe sie von links kommend den Funkstreifenwagen wahrgenommen. Dieser habe keine Sirene eingeschaltet gehabt.

Die Klägerin behauptet, sie sei bei dem Unfall erheblich verletzt worden, insbesondere eine Commotio Cerebri mit retrograder Amnesie, eine basale Fraktur des Os Occipitale, eine nicht dislozierte laterale Klavikularfraktur links, eine Fraktur der ersten Rippe dorsal links, eine Querfortsatzfraktur BWK 1 links, eine Kontusion des linken Unterarms, eine Beckenringfraktur mit ventraler Impression des Os sacrum links sowie eine Fraktur des Os puis links erlitten. Für Einzelheiten wird auf die Klageschrift, Bl. 33 d.A., sowie die Anlage K1 (Bl. 36 f. d.A.) und die Anlage K2 (Bl. 47 ff., 40 ff. d.A.) verwiesen.

Die Beschwerden der Klägerin dauerten fort, eine Heilung sei nicht absehbar. Es sei nicht auszuschließen, dass noch weitere materielle und immaterielle Schäden einträten, insbesondere weitere Krankenhausaufenthalte notwendig werden würden und die Klägerin ihrem Beruf nur noch vermindert nachgehen können würde.

Die Klägerin beantragt, die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an die Klägerin ein angemessenes Schmerzensgeld i.H.v. 20.000,- Euro zu bezahlen, nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz hieraus seit dem 02.03.2017;

die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an die Klägerin vorgerichtlich entstandene Rechtsanwaltsgebühren i.H.v. 1.171,67 Euro nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz hieraus seit Rechtshängigkeit zu zahlen;

festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin allen weiteren materiellen und immateriellen Schaden zu ersetzen, der der Klägerin aus dem Verkehrsunfall vom 04.05.2015 auf der Bundestraße …, Straßenabschnitt Kilometer 1,500, Netzknoten …, Einmündung i. d. A., … S.-T. noch entstehen wird, sofern der Anspruch nicht auf einen Sozialversicherungsträger oder einen Dritten übergegangen ist.

Die Beklagten beantragen, die Klage abzuweisen.

Die Beklagten behaupten, die Beklagte zu 2) sei lediglich als Eigenversicherer für das Land Hessen zuständig für die Abwicklung von Haftpflichtschäden.

Der Funkstreifenwagen sei bei einer uneingeschränkten Sichtweite von 140 Metern von der Klägerin schon vor dem Einfahren auf die Kreuzung wahrnehmbar gewesen. Er habe neben Blaulicht auch die Sirene angeschaltet gehabt. Die Klägerin sei noch nicht weit in die Kreuzung eingefahren, als es zum Zusammenstoß gekommen sei.

Zu den von der Klägerin behaupteten Verletzungen erklären sich die Beklagten mit Nichtwissen.

Die Klägerin behauptet hierzu, sie habe keine 140 Meter weit sehen können. Die Sicht sei aufgrund Streckenführung und Bewuchs eingeschränkt gewesen. Das Beklagtenfahrzeug sei aus einer Rechtskurve gekommen und daher erst im letzten Moment erkennbar gewesen. Die Klägerin sei im Zeitpunkt des Zusammenstoßes bereits mit der Fahrzeugfront im Bereich des Mittelbereichs der Straße gewesen. Der Funkstreifenfahrer habe versucht, nach links auszuweichen, was aufgrund der überhöhten Geschwindigkeit erfolglos geblieben sei. Bei nur 70 km/h hätte er dies gekonnt, wie er auch das Beklagtenfahrzeug schlicht hätte passieren oder auch das eigene Fahrzeug vorher zum Stillstand hätte bringen können.

Für das weitere Parteivorbringen wird auf die innerprozessual gewechselten Parteischriftsätze samt Anlagen verwiesen.

Die Kammer hat die Klägerin persönlich gehört und Beweis erhoben durch Vernehmung des Zeugen G. und der Zeugin W., für deren Ergebnis auf das Verhandlungsprotokoll vom 01.07.2019 (Bl. 108 ff. d.A.) verwiesen wird, sowie durch Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens nebst mündlicher Erläuterung, für dessen Ergebnis auf das schriftliche Gutachten (Bl. 151 ff. d.A.) und das Verhandlungsprotokoll vom 22.04.2021 (Bl. 224 ff. d.A.) verwiesen wird.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist zulässig gegen das Land Hessen, aufgrund vorgetragener Möglichkeit weiterer Schäden auch hinsichtlich des Feststellungsantrages. Das Land Hessen wird vertreten durch das Präsidium für Technik-Logistik und Verwaltung und dieses durch seinen Präsidenten gemäß Art. 103 HV, §§ 1 I, 2 hess. LVtrAnO i.V.m. Ziff. 222 des Minister-Zulassungs-Beschlusses i.V.m. § 2 I VertrAOMdIS, Ziff. 3.1, Ziff. 6 des PTLV-Organisationserlasses.

Die Klage gegen die Oberfinanzdirektion ist dagegen schon unzulässig. Das Finanzministerium wird zwar durch die Oberfinanzdirektion im Prozess vertreten, § 2 I Nr. 3 VertrAOMdFin (StAnz. 2013, S. 1488). Gleichwohl ist sie – wie auch das Finanzministerium selbst – keine eigene Rechtspersönlichkeit, die selbst unmittelbar Träger von Rechten und Pflichten wäre, sondern bloße Behörde des Landes Hessen. Damit fehlt ihr die Parteifähigkeit nach § 52 I ZPO. Daran ändern auch interne Zuständigkeitsregelungen nichts, welche der Oberfinanzdirektion die Bearbeitung der Haftpflichtschäden des Landes als Eigenversicherer zuweisen mögen, wie die Beklagten vortragen. Denn auch damit wird die Oberfinanzdirektion keine eigene Rechtspersönlichkeit, sondern bleibt eine dem Rechtsträger untergeordnete und unselbständige Verwaltungseinheit, die nicht selbständig verklagt werden kann.

Die Klage ist, soweit nicht schon unzulässig, unbegründet.

Der Klägerin kommt aus dem Verkehrsunfall kein Anspruch gegen den Beklagten zu 1) zu.

Ansprüche aus §§ 7 I, 18 I StVG sind hier nicht begründet.

Gemäß §§ 7 I, 18 I StVG i.V.m. § 115 I Nr. 1 VVG, 1 PflVG haften Halter, Fahrer und Versicherung für Schäden beim Betrieb eines Kraftfahrzeuges. Zwar ist bei Betrieb des Beklagtenfahrzeuges das Fahrzeug der Klägerin beschädigt worden und die Grundvoraussetzung der Haftung damit erfüllt. Im Verhältnis der Halter zueinander und zwischen Halter und gegnerischem Fahrer ist jedoch nach §§ 17 I, II, 18 III StVG, sofern beide dem Grunde nach haften und der Unfall für keinen von beiden unvermeidbar war (§ 17 III StVG), der Umfang der Haftung nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere den jeweiligen Verursachungsbeiträgen zu bemessen. Sofern der Unfall dagegen für einen oder beide Beteiligten unvermeidbar war im Sinne von § 17 III StVG, kommt eine Haftungszuweisung nicht in Betracht. Ein Anspruch des jeweiligen Gegners scheidet dann aus.

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Für die Klägerin war der Unfall nicht unvermeidbar. Sie hätte den herannahenden Streifenwagen schon aus einer Entfernung von 150 Metern sehen können. Das steht fest aufgrund des Gutachtens des Sachverständigen B. Dieser hat die Örtlichkeit selbst besichtigt und ausgemessen und ist hiernach zu der Einschätzung gelangt, dass die Bundesstraße vom Haltepunkt der Klägerin aus gesehen linkerhand, dem herannahenden Beklagtenfahrzeug entgegensehend, auf einer Strecke von 150 Metern einsehbar gewesen sei. Das Messergebnis des fachkundigen und neutralen Sachverständigen in Zweifel zu ziehen, hat die Kammer keinen Anlass. Die vom Sachverständigen gefertigten Lichtbilder stehen zu dieser Feststellung nicht in Widerspruch, sondern bestätigen sie bei laienhafter Würdigung und Beurteilung nach Augenmaß. Gleichfalls hat der Sachverständige unter Zugrundelegung zutreffender Parameter und Rückrechnung von der nach dem Schadensbild ermittelten Kollisionsgeschwindigkeit festgestellt, dass das Beklagtenfahrzeug selbst bei zugunsten der Klägerin unterstellter, höchstmöglicher Geschwindigkeit von 120 km/h bereits bis auf 105 Meter an die Unfallstelle herangekommen war, ehe die Klägerin ihr Abbiegemanöver begonnen hatte. Dann hätte sie das Beklagtenfahrzeug, zumal mit unstreitig eingeschaltetem Blaulicht, vor dem Abbiegen erkennen und sein Vorbeifahren abwarten können.

Gleichwohl kommt im Rahmen der gebotenen Abwägung nach § 17 I, II StVG eine Haftungsquote des Beklagten zu 1) nicht zustande. Deshalb mag dahinstehen, ob der Unfall für den Zeugen G. noch vermeidbar war, was angesichts der Maße der Fahrzeuge und der Feststellungen des Sachverständigen hypothetisch denkbar wäre etwa durch rechtsseitiges Passieren des Klägerfahrzeuges, angesichts der Kürze der Zeit und der Ungewissheit des Zeugen bezüglich des weiteren Verhaltens der Klägerin, ob diese abbremsen oder weiterfahren würde, jedoch auch bei idealem Fahrverhalten kaum denkbar ist. Denn auch ein Idealfahrer hätte angesichts des Einfahrens der Klägerin bei – sachverständig bestätigter – voller Sichtbarkeit des Beklagtenfahrzeuges kaum prognostizieren können, ob diese das Beklagtenfahrzeug noch erkennen und dann bremsen oder unbekümmert weiterfahren bzw. bei Erkennen des herannahenden Seitenverkehrs sogar beschleunigen würde. Im Übrigen wäre auch dem Idealfahrer eine Schreckreaktion zuzubilligen (OLG Saarbrücken, Urt. v. 30.01.2007 – 4 U 409/06, BeckRS 2007, 3907), die zum hier vorliegenden Linksfahren des Zeugen G. im Sinne eines Ausweichmanövers geführt hatte. Die etwaige Unvermeidbarkeit mag hier letztlich aber dahinstehen, denn die Abwägung nach § 17 I, II StVG ergibt keinen Haftungsanteil des Beklagten.

Bei der Abwägung sind die Umstände des Einzelfalles und insbesondere die jeweiligen Verursachungsbeiträge zu berücksichtigen.

Der Klägerin ist kein Verstoß gegen § 38 I 2 StVO vorzuwerfen. Denn im Rahmen der Abwägung dürfen nur erwiesene oder unstreitige Tatsachen Berücksichtigung finden. Für den Verstoß ist der Beklagte beweispflichtig. Dabei konnte die Kammer nicht die Überzeugung gewinnen, dass das Tonsignal des Streifenwagens ausreichende Zeit vor der Kollision angeschaltet gewesen wäre. Insoweit hat zwar der Zeuge G. angegeben, dieses mit dem Blaulicht angeschaltet und erst nach der Kollision ausgeschaltet zu haben. Die nicht minder glaubwürdige Zeugin W. erinnerte sich dagegen an Blaulicht, aber an keine Sirene, und will ausdrücklich „Stille“ nach der Kollision wahrgenommen haben. Die hiernach verbleibenden Zweifel nährt zudem der Umstand, dass nicht nur die Klägerin, sondern auch die unbeteiligte Zeugin hiernach das Warnsignal nicht gehört haben wollen, und die Wahrscheinlichkeit, dass beide das Signal schlicht überhört hätten, der Kammer sehr unwahrscheinlich anmutet. Freilich wären Wahrnehmungsstörungen und Erinnerungslücken auch durch die Erregungssituation und für die Klägerin nicht zuletzt durch den Unfall zu erklären. Gleichwohl konnten sowohl die Klägerin – für sie durchaus nachteilig – als auch die Zeugin sich sehr deutlich an das Blaulicht erinnern und ausschließlich nicht an das Tonsignal, das nach Einschätzung der Kammer einen nicht minder einprägsamen Eindruck hinterlassen hätte.

Die Klägerin trifft jedoch ein Verstoß gegen das Vorfahrtsgebot des § 8 I 2 Nr. 1 StVO, da sie von der nachrangigen Seitenstraße auf die bevorrechtigte Bundesstraße einbiegen wollte und hierbei Vorfahrt zu gewähren hatte, die sie dem Zeugen G. nahm. Dass der Zeuge G. zu Beginn des Abbiegevorgangs der Klägerin – mit dem Sachverständigen – noch bis zu 105 Meter entfernt war, ändert daran nichts. Für die Pflichten der Klägerin ist hier § 8 II 2 StVO maßgebend. Die Vorfahrtspflichtige hat zu warten, soweit sie nicht übersehen kann, dass kein Vorfahrtsberechtigter gefährdet oder wesentlich behindert wird. Die Klägerin jedoch hat den Zeugen G. durch ihre Einfahrt gefährdet, und hätte das auch bei dem gebotenen Seitenblick nach links erkennen können. Der Sachverständige hat hierzu eigene Messungen vorgenommen und auch anhand Lichtbildern der Unfallstelle überzeugend dargestellt, dass vom Haltepunkt der Klägerin aus eine ungehinderte Sicht auf 150 Meter in Richtung des herannahenden Beklagtenfahrzeuges bestanden habe. Das Vorfahrtsrecht beginnt dabei nicht erst an der Kreuzung, denn das nähme der Vorfahrtsstraße weitestgehend ihren Sinn – wenn noch kurz vor deren Erreichen mit einfahrenden Fahrzeugen zu rechnen wäre, müsste sich auch der von ihr kommende Fahrer vorsichtig herantasten, während die Vorfahrtsstraße einen zügigen Verkehrsablauf gewährleisten soll und deshalb verstärkt die Wartepflichtige in die Pflicht nimmt. Diese muss, wenn absehbar ist, dass ein gefahrloses Einbiegen nicht möglich ist, dem Verkehr auf der Vorfahrtsstraße den Vortritt lassen und im Zweifel warten, bis kein Fahrzeug mehr gefährdet wird. Das hat die Klägerin nicht getan und damit gegen § 8 I 2 Nr. 1 StVO verstoßen.

Dem Beklagten ist dagegen – auch bei Berücksichtigung des Fahrerverhaltens, das ihm aufgrund der bestehenden „Haftungseinheit“ vorzuwerfen wäre – kein Vorwurf zu machen.

Zwar ist eine Geschwindigkeitsüberschreitung des Zeugen G. inzwischen wohl dem Grunde nach eingeräumt bis zu einer Geschwindigkeit von 100 km/h, die auch der Sachverständige nachvollziehbar anhand der Kollisionslaufspuren, der festgestellten Fahrzeug- und Leitplankenschäden und der hieraus abgeleiteten Kollisionsgeschwindigkeit unter zutreffender Anwendung von Rechenfaktoren als Mindestgeschwindigkeit rückwärts errechnet hat und von der die Kammer deshalb auch überzeugt ist (selbst wenn sie nicht zugestanden sein sollte). Diese aber ist von § 35 I StVO gedeckt, da der Zeuge G. auf einer Einsatzfahrt zur Strafverfolgung war. An dieser Stelle kommt es auf den – auch hier vom beweisbelasteten Beklagten nicht bewiesenen – Einsatz von Tonsignalen neben dem unstreitigen Lichtsignal nicht an, weil das Sonderrecht allein an den Zweck der Fahrt anknüpft (vgl. OLG Düsseldorf, Urt. v. 10.01.2017 – I-1 U 46/16, BeckRS 2017, 100461, Rn. 13). Dieses entbindet zwar nicht von der Berücksichtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung (§ 35 VIII StVO), sodass der Einsatzfahrer kein unbedingtes Vorrecht erhält. Gleichwohl darf er das bestehenbleibende Vorrecht Dritter unter Anwendung größtmöglicher Sorgfalt außer Acht lassen (OLG Düsseldorf a.a.O., Rn. 14, zum Einfahren bei Rotlicht). Hier hatte die Klägerin nicht einmal das Vorrecht, sondern kam von einer „wartepflichtigen“ Straße und musste das Beklagtenfahrzeug ohnehin passieren lassen, selbst wenn es nicht auf einer Einsatzfahrt gewesen wäre. Der Zeuge G. hat kein Vorrecht übergangen, sondern „nur“ die zulässige Höchstgeschwindigkeit überschritten. Das durfte er bereits aufgrund seiner Einsatzfahrt nach § 35 I StVO, weil er ausreichend auf diese aufmerksam gemacht hat mit dem Einsatz des blauen Signallichts. Herannahende Fahrzeuge, die ohnehin wartepflichtig waren, konnten schon damit deutlich erkennen, dass das Fahrzeug auf einer eiligen Fahrt und deshalb möglicherweise mit höherer Geschwindigkeit unterwegs war, als andere Fahrzeuge. Zudem stellt schon das Blinklicht allein ein besonderes Warnsignal dar, das zu gesteigerter Vorsicht mahnt (OLG Celle, Urt. v. 29.09.2010 – 14 U 27/10, BeckRS 2011, 14566). Nach Auffassung der Kammer musste in dieser besonderen Situation, auf der weithin sichtbaren Vorfahrtsstraße mit aktivem blauen Signallicht, der Funkstreifenfahrer nicht zusätzlich das Einsatzhorn betätigen, um die größtmögliche Sorgfalt anzuwenden. Die andernorts beurteilten Fälle eines Einfahrens bei Rotlicht, die ein Hornsignal nebst Blinklicht notwendig erscheinen lassen mögen (vgl. OLG Düsseldorf a.a.O.; OLG Celle a.a.O.; BGH, Urt. v. 17.12.1974 – VI ZR 207/73, NJW 1975, 648), sind mit der hier zugrunde liegenden Verkehrssituation nicht vergleichbar. Dahinstehen kann nach alldem, ob nicht gar die aktuelle Aufgabe – Festnahme bzw. Übernahme eines festgenommenen Fahrraddiebes – die akustische Warnung (aus taktischer Sicht) verboten haben könnte (vgl. BGH, Urt. v. 09.07.1962 – III ZR 85/61, NJW 1962, 1767).

Nach alldem hatte die überhöhte Geschwindigkeit des Zeugen G. unberücksichtigt zu bleiben.

Sonach verblieb allein die Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeuges auf dessen Seite ein Verursachungsbeitrag. Dieser musste jedoch zurücktreten hinter die massive Übertretung der Klägerin, die – insoweit ist die sachverständige Feststellung eindeutig – das Fahrzeug hätte sehen können. Dann wäre auch das Blaulicht aufgefallen, das die Einsatzfahrt und die gegebenenfalls überhöhte Geschwindigkeit des Beklagtenfahrzeuges angekündigt hätte. Gleichwohl auf die ohnehin vorfahrtsberechtigte Straße aufzufahren – sei es aus Unachtsamkeit oder aus Vertrauen auf die vorherige Querung – stellt sich als derart schwerer Verstoß dar, dass die Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeuges dahinter zurücktrat.

Soweit die Klägerin die Einsichtnahme bzw. Vorlage von Unfallspeicher und Einsatzprotokoll beantragt hat, so war dem nicht nachzukommen, weil der Gegner der Klägerin zur Anspruchsbegründung nicht beitragen muss und im Übrigen das Fahrzeug entsorgt war und das Einsatzprotokoll der berechtigten Geheimhaltung aus polizeitaktischen Gründen unterlag, und deshalb die entsprechende Anordnung unzulässig gewesen wäre.

Soweit die Klägerin anführt, bei Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 70 km/h wäre der Streifenwagen noch vor dem Klägerfahrzeug zum Stillstand zu bringen gewesen, wäre der Zeuge G. nicht „aus der Kurve geflogen“ und hätte er auf der rechten Seite am Klägerfahrzeug vorbeifahren können, verkennt die Klägerin, dass der Zeuge G. nach § 35 I StVO von der Einhaltung der Höchstgeschwindigkeit befreit war und hiervon ohne feststellbaren Sorgfaltspflichtverstoß Gebrauch gemacht hatte. Dass der Zeuge „aus der Kurve geflogen“ wäre und insoweit die Geschwindigkeit dem Straßenverlauf unangepasst gewesen wäre – wobei von der entsprechenden Anpassungspflicht (§ 3 I 1 StVO) naturgemäß auch § 35 I StVO nicht entbinden kann -, konnte der Sachverständige gerade nicht bestätigen, der vielmehr eine – zuvor noch von der Klägerin behauptete – Ausweichbewegung des Zeugen und damit gerade ein zielgerichtetes Fahren bestätigt hat. Bei der vorgefundenen Überraschungssituation kann dem Zeugen G. diese Schreckreaktion nicht zum Vorwurf gereichen, wenn auch ein Passieren des Klägerfahrzeuges auf der anderen Seite physikalisch möglich gewesen sein mag. Darauf, ob der Zeuge G. bei langsamerer Fahrt das Fahrzeug zum Stehen gebracht oder am Klägerfahrzeug vorbeigefahren wäre, kommt es indes nicht an, weil er entsprechend schnell fahren durfte und daher ein Sorgfaltspflichtverstoß aus der Geschwindigkeitsübertretung nicht herzuleiten ist.

Weitere Ansprüche aus §§ 839 BGB, 34 GG und aus § 64 I 2 HSOG, enteignungsgleichem oder aufopferndem Eingriff scheitern – soweit man sie überhaupt anwenden wollte – jedenfalls gleichermaßen an der oben dargestellten Abwägung, die bei Verkehrsunfällen zweier Kraftfahrzeuge auf sämtliche Anspruchsgrundlagen anzuwenden ist (BGH, Urt. v. 18.11.1957 – III ZR 117/56, NJW 1958, 341), sodass deren weitere Voraussetzungen nicht mehr zu prüfen waren.

Die Nebenforderungen unterliegen der Hauptforderung folgend gleichfalls der Abweisung.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 I, die der vorläufigen Vollstreckbarkeit § 709 S. 1 ZPO.


Die folgenden rechtlichen Bereiche sind u.a. in diesem Urteil relevant

1. Verkehrsrecht Das Verkehrsrecht ist von großer Relevanz in diesem Fall, da es sich um einen Verkehrsunfall handelt. Das Verkehrsrecht setzt sich aus verschiedenen Rechtsnormen zusammen, wie etwa der Straßenverkehrsordnung (StVO), dem Straßenverkehrsgesetz (StVG) und der Fahrzeug-Zulassungsverordnung (FZV). Es geht um Fragen der Vorfahrt, insbesondere § 8 StVO, da die Klägerin an einer Kreuzung in die Vorfahrtsstraße einbiegen wollte, als es zum Unfall kam. Auch die Sonderrechte der Einsatzfahrzeuge gemäß § 35 StVO sind hier relevant, da es sich bei dem anderen beteiligten Fahrzeug um einen Streifenwagen auf Einsatzfahrts handelt.

2. Versicherungsrecht Das Versicherungsrecht spielt eine bedeutende Rolle, da Ansprüche gegen die Haftpflichtversicherung des Streifenwagens geltend gemacht werden. Hier geht es um die Interpretation und Anwendung der Allgemeinen Bedingungen für die Kfz-Versicherung (AKB) und des Pflichtversicherungsgesetzes (PflVG), um festzustellen, ob und in welchem Umfang der Schaden durch die Versicherung abgedeckt ist.

3. Schadensersatzrecht Das Schadensersatzrecht nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) ist ebenfalls relevant, insbesondere die §§ 823, 824 BGB, da die Klägerin Schadensersatz und Schmerzensgeld von den Beklagten verlangt. Hierbei sind die Fragen der Haftung, der Verursachung und des Verschuldens zentral.

4. Prozessrecht Das Prozessrecht ist notwendig, um das gerichtliche Verfahren zu verstehen. Dies umfasst die Zivilprozessordnung (ZPO), insbesondere die Vorschriften über die Klage (§§ 253 ff. ZPO), die Beweisaufnahme (§§ 355 ff. ZPO) und das Urteil (§§ 592 ff. ZPO). In diesem Fall sind insbesondere auch die Regeln zur vorläufigen Vollstreckbarkeit (§ 708 Nr. 2, § 711 ZPO) und zur Kostenverteilung (§ 91 ZPO) von Bedeutung.

Häufig gestellte Fragen

1. Wie ist die Rechtslage, wenn ich mit einem Einsatzfahrzeug kollidiere?

Die Rechtslage kann komplex sein, da die Streifenwagen bestimmte Sonderrechte nach § 35 StVO haben. Sie dürfen unter anderem die zulässige Höchstgeschwindigkeit überschreiten und müssen auch an Kreuzungen nicht zwingend die Vorfahrt gewähren, wenn sie mit Blaulicht und Martinshorn unterwegs sind. Trotzdem gelten diese Sonderrechte nicht uneingeschränkt. Die Fahrer von Einsatzfahrzeugen müssen stets darauf achten, dass keine anderen Verkehrsteilnehmer gefährdet werden. Kommt es trotzdem zu einem Unfall, kann es sein, dass beide Parteien eine Mitschuld tragen.

2. Welche Ansprüche kann ich geltend machen, wenn ich durch einen Unfall mit einem Streifenwagen verletzt wurde?

Im Falle von Verletzungen durch einen Unfall können Sie Schadensersatz und Schmerzensgeld gemäß §§ 823, 824 BGB verlangen. Dies kann den Ersatz für Schäden an Ihrem Fahrzeug, medizinische Kosten, Verdienstausfall und weitere Kosten umfassen, die durch den Unfall entstanden sind. Das Schmerzensgeld soll Ihnen für die erlittenen physischen und psychischen Schmerzen und Leiden eine Ausgleichszahlung bieten.

3. Wer ist der Anspruchsgegner in solchen Fällen?

Der Anspruchsgegner ist normalerweise der Halter des Einsatzfahrzeugs, also in den meisten Fällen der Staat oder die Kommune, sowie deren Haftpflichtversicherer. Im Rahmen des Versicherungsrechts kann es hier zu Unterschieden kommen, abhängig davon, ob der Staat oder die Kommune eigenversichert sind oder einen regulären Versicherer haben.

4. Was, wenn der Unfall durch ein Einsatzfahrzeug verursacht wurde, das mit überhöhter Geschwindigkeit unterwegs war?

Die Fahrer von Einsatzfahrzeugen dürfen die zulässige Höchstgeschwindigkeit überschreiten, wenn dies für die Erfüllung ihres Auftrags notwendig ist. Sie müssen aber stets die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer vermeiden. Fährt ein Einsatzfahrzeug so schnell, dass andere Verkehrsteilnehmer es nicht rechtzeitig erkennen und darauf reagieren können, kann das zu einer Mitschuld des Einsatzfahrzeugs führen.

5. Welche Rolle spielt das Martinshorn bei Einsatzfahrten?

Laut StVO § 38 Abs. 1 sind Einsatzfahrzeuge nur dann von den Verkehrsregeln befreit, wenn sie sowohl Blaulicht als auch Martinshorn verwenden. Wenn das Martinshorn nicht eingeschaltet ist, gelten die normalen Verkehrsregeln auch für das Einsatzfahrzeug. Das bedeutet, wenn das Martinshorn nicht eingeschaltet war, und Sie die Vorfahrt hatten, kann der Fahrer des Einsatzfahrzeugs für den Unfall haftbar sein.

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