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Verkehrsunfall – Verdienstausfall für nicht angetretene Ausbildung

LG Münster – Az.: 16 O 280/10 – Urteil vom 10.06.2011

Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin 11.394,20 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 21.07.2010 zu zahlen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits tragen die Klägerin zu 25 % und die Beklagten als Gesamtschuldner zu 75 %.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des beizutreibenden Betrages.

Tatbestand

Die Parteien streiten über einen Verdienstausfall bzw. -erwerbsschaden der zum Unfallzeitpunkt 9-jährigen Klägerin für den Zeitraum 01.08.2008 bis 30.06.2010. Sie streiten insbesondere darüber, ob die Klägerin ohne den Unfall in dieser Zeit eine Ausbildung gemacht oder das Gymnasium besucht hätte.

Am 07.10.2001 um 18:28 Uhr wurde die am 27.08.1992 geborene und damals 9 Jahre alte Klägerin in I von dem von dem Beklagten zu 1) geführten PKW T2, amtliches Kennzeichen …, der bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversichert war, frontal erfasst und durch die Luft geschleudert, wodurch sie sich schwerste Verletzungen zuzog. Die volle Haftung der Beklagten ist zwischen den Parteien unstreitig. Ebenso unstreitig ist es, dass die Klägerin infolge des Unfalls auf Lebenszeit erwerbsunfähig ist und bleiben wird.

Die am 27. August geborene Klägerin wurde am 10.08.1998 mit knapp 6 Jahren eingeschult. Gemessen am damaligen Einschulungsstichtag wurde die Klägerin vorzeitig eingeschult; wäre sie 17 Tage früher geboren worden, hätte es sich um eine reguläre Einschulung gehandelt. Zum Unfallzeitpunkt besuchte sie die 4. Klasse der R, der katholischen Grundschule in ihrem Wohnort. Ausweislich ihrer Zeugnisse der Klassen 1 bis 3 (Bl. 74 ff d.A.) war sie stets eine (sehr) gute Schülerin und hatte ausschließlich die Schulnoten „gut“ und „sehr gut“. Sie zeigte in allen Lernbereichen starke Leistungen, welche die Anforderungen häufig weit übertrafen und nahm bereits seit dem 2. Schuljahr gemeinsam mit ihrer Schwester in ihrer Freizeit an einem spielerischen Englischkurs für Kinder teil. Ihre Klassenlehrerin attestierte nach dem Unfall, dass zu erwarten war, dass die Klägerin den Anforderungen des Gymnasiums gerecht geworden wäre (Anlage K 1, Bl. 13 d.A.). Zum Zeitpunkt des Unfalls hatten die Klägerin und ihre Eltern noch keine Entscheidung getroffen, welche weiterführende Schule die Klägerin besuchen sollte.

In einem Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit vom 02.08.2002 (Anlage B1, Bl. 39 f) ist unter Ziffer 2.2 u.a. festgehalten „S sei bis zu ihrem Unfall ein gesundes und normal entwickeltes Kind gewesen. In diesem Sommer sei ihre Einschulung auf dem Gymnasium vorgesehen gewesen.“  Ein ärztlicher Bericht der Klinik I2, Klinik für Neurologische Rehabilitation vom 22.07.2002 (Anlage B 2, Bl. 42 ff) hält u.a. fest „Bereits im Kindergartenalter brachte sich S selbständig das Lesen bei und konnte ihren Altersgenossen zusammenhängend vorlesen. Darum erfolgte die Einschulung in das 1.Schuljahr im Alter von knapp 6 Jahren. S zählte bis zum Unfallereignis immer zu den Klassenbesten.“ Nach einem Regulierungsgespräch des Vaters der Klägerin mit der Zeugin X als Sachbearbeiterin der Beklagten zu 2) am 27.10.2003 notierte die Zeugin X in einem internen Regulierungsbericht nur für die Beklagte zu 2) (Anlage zum Protokoll vom 20.05.2011), dass der Vater der Klägerin geäußert habe, die gesamte Familie der Klägerin bestehe aus Akademikern, er sei der einzige Nicht-Akademiker. Dass der Vater sich tatsächlich so geäußert haben könnte, stellt die Klägerin nicht in Abrede.

Die einzige Schwester der Klägerin (K), geboren am 20.01.1994, erreichte in ihrem Zeugnis der 4.Klasse, 2.Halbjahr in 8 Fächern die Note gut und in einem Fach die Note befriedigend (Anlage K 10, Bl. 58 d.A.). Sie besuchte ausweislich ihrer Zeugnisse die Städtische Realschule I (Anlage K 2, Bl. 14 ff d.A.).

Der am 31.05.1962 geborene Vater der Klägerin absolvierte ausweislich seines Abschlusszeugnisses der Technikerschule T vom 18.09.1992 die zweijährige Fachschule Maschinentechnik und erlangte im Alter von 30 Jahren die Berufsbezeichnung „Staatlich geprüfter Techniker – Fachrichtung Maschinentechnik“.

Mit Schreiben vom 29.10.2009 forderte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin die Beklagte zu 2) unter Fristsetzung bis zum 12.11.2009 zur Zahlung eines Betrages in Höhe von 10.350,00 € für den Zeitraum bis einschließlich Oktober 2009 auf. Die Beklagte zu 2) lehnte mit Schreiben vom 04.11.2009 (Anlage K 6, Bl. 23 d.A.) die Zahlung eines Verdienstausfallschadens ab mit dem Hinweis man werde sich mit einem Erwerbsschaden frühestens mit dem Zeitpunkt des gedachten Abschlusses des Gymnasiums befassen.

Die Klägerin behauptet, ohne den Unfall hätte sie wie ihre Schwester die Realschule besucht und im Sommer 2008 ihre Fachoberschulreife erworben. Ab dem 01.08.2008 hätte sie eine Ausbildung zur Industriekauffrau begonnen und bis 30.06.2010 durchgeführt. Dem stünden nicht die Prognose ihrer Klassenlehrerin oder Äußerungen ihrer Eltern entgegen, weil diese naturgemäß nach dem schlimmen Unfall sehr positiv gefärbt gewesen seien.

Dass sie diese Ausbildung habe aufnehmen wollen, habe sie im Jahr des Unfalls geäußert, als sie ihren Vater anlässlich des Tags der offenen Tür aus Anlass des 100jähren Bestehens der Stadtwerke N an seinem Arbeitsplatz besucht habe.                                                                                                       Sämtliche Familienmitglieder seien keine Akademiker: ihr Vater habe die F in S2 besucht und mit der mittleren Reife abgeschlossen und im Alter von 16 Jahren (am 01.08.1978) eine Ausbildung zur Gas- und Wasserinstallateur bei der Firma C in S2 aufgenommen, die er am 21.01.1982 beendet habe. Danach sei er als Geselle übernommen worden und habe sich anschließend für 8 Jahre bei der Bundeswehr verpflichtet. Um bereits nach 7 Jahren ausscheiden zu können habe er sich im Alter von 28 bis 30 Jahren im Rahmen des Berufsförderungsdienstes der Bundeswehr zur Eingliederung in das Zivilleben weiterqualifiziert. Er arbeite heute bei den Stadtwerken N. Ihre Mutter habe die S3 in J mit der mittleren Reife verlassen und habe in der S2 Eisenhandlung GmbH eine Ausbildung zur Groß- und Außenhandelskauffrau absolviert, in der sie bis zur Geburt der Klägerin gearbeitet habe. Zum Unfallzeitpunkt habe sie halbtags als Verkäuferin gearbeitet. Die Schwester der Klägerin habe zunächst die Realschule und anschließend für die Wartezeit bis zum Beginn ihrer beabsichtigten Ausbildung zur MTA das Gymnasium besucht. Ihre Großeltern väterlicherseits seien Isolierer bzw. Näherin gewesen; ihre Großeltern mütterlicherseits Schlosser bzw. Hauswirtschafterin. Ihre Tante C2 habe kein Abitur und sei Fotografiererin. Ihre Tante T2 habe eine Ausbildung zur Zahnarzthelferin gemacht, erst im Alter von 25 Jahren ihr Abitur nachgeholt und im Alter von 38 bis 43 Jahren ein Studium der Psychologie absolviert. Ihr Onkel I3 sei Schlosser. Ihre Tante G habe Bürokauffrau gelernt. Lediglich die angeheirateten Ehemänner ihrer Tanten G und T2 seien Akademiker.           Die Klägerin behauptet, als Industriekauffrau hätte sie einen Verdienst von 690,00 € monatlich brutto erzielt, so dass sich für den streitgegenständlichen Zeitraum die Klageforderung von 15.180,00 € ergibt. Sie ist der Ansicht, einen Anspruch auf den Bruttolohn zu haben, weil sie nicht wisse, inwieweit sie Rentenanwartschaften erwerbe; hilfsweise macht sie einen Nettolohn von 550,44 €, abzüglich des Vorteilsausgleichs für berufsbedingte Aufwendungen also 504,77 € monatlich geltend. Zur Bezifferung des Gehaltes nimmt sie Bezug auf den Tarifvertrag der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände und Ausdrucke von Internetrecherchen auf der Homepage der Hans-Böckler-Stiftung (Anlage zum Schriftsatz vom 23.12.2010, Bl.98 d.A.).

Die Klägerin beantragt, die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an die Klägerin 15.180,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 10.350,00 € seit dem 13.11.2009 und aus 4.830,00 € seit dem21.07.2010 zu zahlen, die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, die Klägerin von der Gebührenforderung der Rechtsanwälte L und Kollegen in Höhe von 837,52 € freizustellen.

Die Beklagten beantragen, die Klage abzuweisen.

Sie bestreiten, dass die Klägerin im streitgegenständlichen Zeitraum eine Ausbildung gemacht und Einkommen erzielt hätte und behaupten, die Klägerin hätte ohne den Unfall mit absolut überwiegender Wahrscheinlichkeit bzw. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit das Gymnasium besucht und erst 2011 mit dem Abitur verlassen. Sie beziehen sich insoweit auf die guten Noten der Klägerin in der gesamten Grundschulzeit und auf die Äußerungen der Eltern sowie der Klassenlehrerin nach dem Unfall. Die Beklagten sind (hilfsweise) der Meinung, dass die Klägerin allenfalls einen Nettoverdienst beanspruchen könne und sich zudem 10% berufsbedingte Aufwendungen vom Nettoverdienst anrechnen lassen müsse.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend Bezug genommen auf den Inhalt der zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen.

Das Gericht hat den Vater der Klägerin persönlich angehört und Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugen X und I3. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Protokoll der Sitzung Bezug genommen. Darüber hinaus hat das Gericht eine Auskunft der IHK Nord Westfalen vom 07.12.2010 über die Höhe eines Ausbildungsgehaltes eingeholt, auf die ebenfalls Bezug genommen wird (Bl. 94 d.A.).

Entscheidungsgründe

Die Klage ist zulässig und überwiegend begründet. Die Klägerin hat gegen die Beklagten einen Anspruch auf Ersatz des Netto-Verdienstausfallschadens für den Zeitraum 01.08.2008 bis 30.06.2010 in der tenorierten Höhe.

Die Verpflichtung der Beklagten, der Klägerin den aufgrund des Unfalls entstandenen Verdienstausfallschaden zu ersetzen beruht darauf, dass diese durch den Unfall vollständig erwerbsunfähig wurde und ist zwischen den Parteien unstreitig.

1. Nach der Beweisaufnahme ist das Gericht davon überzeugt, dass die Klägerin ohne den Unfall im streitgegenständlichen Zeitraum eine Ausbildung zur Industriekauffrau absolviert hätte.

Die Prognose der schulischen Entwicklung der Klägerin in deren familiären Umfeld ohne das Schadensereignis lässt es als überwiegend wahrscheinlich erscheinen, dass sie nach der Grundschule die Realschule besucht und jedenfalls im Alter von 16 Jahren – wie ihre Schwester, Eltern und Tanten – eine nichtakademische Ausbildung aufgenommen hätte.

Die Klägerin hat soweit wie möglich konkrete Anhaltspunkte für die erforderliche Prognose dargelegt.

An die Prognose dürfen nach ständiger Rechtsprechung des BGH keine zu hohen Anforderungen gestellt werden (vgl. Urteil des BGH vom 05.10.2010 VI ZR 186/08 m.w.N.), insbesondere dann, wenn das haftungsauslösende Ereignis den Geschädigten zu einem Zeitpunkt getroffen hat, als er noch in der Ausbildung oder am Anfang seiner beruflichen Entwicklung stand und deshalb noch keine Erfolge in der von ihm angestrebten Tätigkeit nachweisen konnte (BGH a.a.O.). Trifft das Schadensereignis ein jüngeres Kind, über dessen berufliche Zukunft aufgrund des eigenen Entwicklungsstands zum Schadenszeitpunkt noch keine zuverlässige Aussage möglich ist, darf es dem Geschädigten nicht zum Nachteil gereichen, dass die Beurteilung des hypothetischen Verlaufs mit nicht zu beseitigenden erheblichen Unsicherheiten behaftet ist. Denn es liegt in der Verantwortlichkeit des Schädigers, dass der Geschädigte in einem sehr frühen Zeitpunkt seiner Entwicklung aus der Bahn geworfen wurde und dass sich daraus die besondere Schwierigkeit ergibt, eine Prognose über deren Verlauf anzustellen. Daher darf sich das Gericht in derartigen Fällen seiner Aufgabe, auf der Grundlage von § 252 BGB und § 287 ZPO eine Schadensermittlung vorzunehmen, nicht vorschnell unter Hinweis auf die Unsicherheit möglicher Prognosen entziehen (BGH a.a.O.). Zutreffend werden deshalb in solchen Fällen auch der Beruf, die Vor- und Weiterbildung der Eltern, ihre Qualifikation in der Berufstätigkeit, die beruflichen Pläne für das Kind sowie schulische und berufliche Entwicklungen von Geschwistern herangezogen (BGH a.a.O.). Ergeben sich keine Anhaltspunkte, die überwiegend für einen Erfolg oder einen Misserfolg sprechen, dann liegt es nahe, nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge von einem voraussichtlich durchschnittlichen Erfolg des Geschädigten in seiner Tätigkeit auszugehen und auf dieser Grundlage die weitere Prognose der entgangenen Einnahmen anzustellen und den Schaden gemäß § 287 ZPO zu schätzen; verbleibenden Risiken kann durch gewisse Abschläge Rechnung getragen werden (BGH a.a.O.).

Vorliegend ist es unstreitig, dass die Klägerin bis zum Unfall stets eine (sehr) gute Schülerin war, die in allen Fächern und Lernbereichen (sehr) starke Leistungen erbrachte, welche die Anforderungen häufig weit übertrafen. Unstreitig ist weiter, dass die Klassenlehrerin nach dem Unfall prognostizierte, dass die Klägerin den Anforderungen des Gymnasiums gewachsen gewesen wäre. Angesichts der bisherigen individuellen Leistungen der Klägerin geht das Gericht davon aus, dass sie in der Lage gewesen wäre, nach der Grundschule auf die Realschule oder sogar das Gymnasium zu wechseln und jedenfalls die Fachoberschulreife zu erwerben. Ungewiss und streitgegenständlich ist allerdings, ob sie nach der 10.Klasse die Oberstufe besucht und das Abitur gemacht hätte.

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Das Gericht geht gemeinsam mit beiden Parteien davon aus, dass die Eltern der Klägerin stets das Beste für die Klägerin wollten und dies bereits durch außerschulisches Engagement hinsichtlich eines frühen freiwilligen Englischkurses gezeigt haben. Es ist auch allgemein bekannt, dass heutzutage mehr Eltern versuchen, ihren Kindern eine gymnasiale Schulbildung angedeihen zu lassen, als dies früher – in der Generation der Eltern und Großeltern der Klägerin – der Fall war. Gleichwohl neigen viele Eltern dazu, für ihre Kinder dieselbe Schulform zu bevorzugen, die sie selbst besucht haben. Zuweilen bestehen bei nicht akademisch gebildeten Eltern Hemmnisse, ihre Kinder auf das Gymnasium zu schicken und das Abitur anstelle einer Ausbildung anstreben zu lassen. Auch erwerben längst nicht alle auf dem Gymnasium eingeschulten Kinder dort erfolgreich ihr Abitur. Letztlich erlauben diese allgemeinen Erwägungen vorliegend keinen Rückschluss auf die Prognose für die Klägerin.       Entscheidend ist neben den individuellen Fähigkeiten der Klägerin vielmehr ihr konkretes familiäres Umfeld, das durchgehend von Nichtakademikern geprägt ist. Davon ist das Gericht nach der Beweisaufnahme durch Vernehmung des Onkels der Klägerin überzeugt. Danach sind lediglich die beiden angeheirateten Onkel G2 und T3 und die Tante T2 Akademiker, wobei letztere zunächst eine Ausbildung zur Zahnarzthelferin absolvierte und erst im Alter von 25 Jahren ihr Abitur nachholte und ein Studium aufnahm. Selbst von den Cousins/Cousinen der Klägerin waren die Abiturienten bzw. Studenten in der Minderheit, obwohl diese zumindest teilweise Elternteile mit akademischer Bildung haben.    Ein weiteres Indiz für die Prognose sieht das Gericht im Werdegang der ca. 1 ½ Jahre jüngeren Schwester der Klägerin. Auch diese hatte in der Grundschule gute Noten und war eine gute Schülerin. Ihr Abschlusszeugnis der Grundschule lässt vermuten, dass es auch ihr möglich gewesen wäre, das Gymnasium zu besuchen. Dennoch haben ihre Eltern entschieden, sie – wie sie selbst damals auch – zur Realschule gehen zu lassen. Dafür, dass dies durch den Unfall der Klägerin und die damit verbundene schwierige familiäre Situation bedingt gewesen sein soll – wie die Beklagten vermuten – sieht das Gericht keine Anhaltspunkte. Die Eltern der Klägerin haben konkret dargelegt, dass die Schwester der Klägerin eine Ausbildung zur MTA anstrebt und nur zur Überbrückung der Wartezeit die Sekundarstufe II besucht. Wenn sowohl die Eltern eine Ausbildung absolviert haben als auch die schulisch gute Schwester der Klägerin eine Ausbildung anstrebt, so liegt es nahe, dass auch die Klägerin eine Ausbildung begonnen hätte.

Ein weiteres maßgebliches Indiz für die Prognose ist der von der Klägerin im Jahr des Unfalls geäußerte Wunsch, einen ähnlichen Beruf wie der Vater zu ergreifen. Die Schilderung anlässlich eines Tages der offenen Tür zum 100-jährigen Bestehen der Stadtwerke N erscheint dem Gericht recht plastisch und durchaus nicht ungewöhnlich für ein 8-jähriges Mädchen. Das Gericht ist sich auch der Tatsache bewusst, dass in diesem Alter geäußerte Berufswünsche durchaus wandelbar sind. Da aber Mutter, Vater und eine Tante ähnliche Berufe im Büro ausüben oder zumindest gelernt haben, erscheint die Ergreifung des weitverbreiteten Berufs der Industriekauffrau nicht abwegig.

Letztlich haben die Eltern der Klägerin prognostiziert, dass diese im Alter von 16 Jahren eine Ausbildung zur Industriekauffrau begonnen hätte. Von allen am Verfahren beteiligten Personen kennen und kannten sie die Klägerin am besten. Die Angaben des Vaters in seiner persönlichen Anhörung erscheinen dem Gericht glaubhaft. Angesichts der von ihm plastisch geschilderten Äußerung der damals 8-jährigen Klägerin auf dem Tag der offenen Tür „Papa, das möchte ich auch einmal machen.“ erscheint die Prognose der Eltern auch nicht aus der Luft gegriffen – insbesondere vor dem Hintergrund, dass sowohl Eltern als auch Schwester und die verwandten Onkel und Tanten nach der mittleren Reife eine Ausbildung begonnen haben.

Nach alledem sieht das Gericht ausreichende Indizien für die gestellte Prognose.

2. Die Klägerin hat einen Verdienstausfallschaden in Höhe des Nettogehaltes einer Auszubildenden zur Industriekauffrau abzgl. 10 % berufsbedingter Aufwendungen erlitten. Das um die ersparten Aufwendungen geminderte Einkommen schätzt das Gericht auf monatlich 495,40 €, so dass sich für die streitgegenständlichen 23 Monate der tenorierte Betrag von 11.394,20 € ergibt.

a) Ersatzfähig ist lediglich der Nettolohn abzüglich einer Pauschale von 10 % für berufsbedingte Aufwendungen.

Soweit die Klägerin vorrangig den Bruttolohn begehrt, weil sie nicht wisse, inwieweit sie Rentenanwartschaften erwerbe, so hat sie einen von ihr für möglich gehaltenen Rentenschaden nicht dargetan. Die Ersatzfähigkeit und Berechnung eines Rentenverkürzungsschadens  richtet sich auch nicht nach den für den Erwerbsschaden geltenden Maßstäben. Selbst wenn die Klägerin aktivlegitimiert sein sollte (vgl. §§ 119, 120 Abs. 1 SGB X), so könnte sie die Beiträge zur Sozialversicherung nicht zur freien Verfügung beanspruchen, um sie außerhalb der Sozial- und Arbeitslosenversicherung in einer privaten Versicherung oder für eine andere Art der Vermögensbildung anzulegen, da solche private Vorsorge mit dem System der Sozialvorsorge für Pflichtversicherte nicht vergleichbar ist (vgl. BGH, Urteil vom 12.04.1983, VI ZR 126/81). Ersatz für Aufwendungen zu Vorsorgemaßnahmen, durch die solcher Schaden schon jetzt aufgefangen werden könnte, steht ihr zum jetzigen Zeitpunkt nicht zu (vgl. BGH a.a.O.).

b) Die konkrete Höhe des Netto-Gehaltes einer Auszubildenden zur Industriekauffrau schätzt das Gericht gemäß § 287 ZPO anhand der Auskunft der IHK vom 07.12.2010 (Bl. 94 d.A.), des Tarifvertrags der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (Bl. 98 d.A.) und den Internetrecherchen auf der Homepage der Hans-Böckler-Stiftung (vgl. Ausdrucke Bl. 100 ff d.A.), jeweils bezogen auf NRW. Danach kommt es nicht nur auf den Ausbildungsberuf der Industriekauffrau, sondern vor allem auf die Branche an.

Die geringste Vergütung, die die IHK im Jahr 2008 für den Fall des Nichtvorliegens eines Tarifvertrags akzeptierte lag für das 1. Ausbildungsjahr bei 428,- € brutto und für das 2.Ausbildungsjahr bei 473,- € brutto.

Das im Internet frei zugängliche Tarifarchiv der Hans-Böckler-Stiftung sieht ab 2010 z.B. für die Branche des Groß- und Einzelhandels für das 1. Ausbildungsjahr 690,- € brutto und für das 2.Ausbildungsjahr bei 762,- € brutto vor; für die Branche der Energiewirtschaft 653 € bzw. 754 €, für die Versicherungsbranche 778 bzw. 853 € und für den Öffentlichen Dienst in Bund und Gemeinden 696 € bzw. 745 € vor. Der danach durchschnittliche Lohn beträgt im 1. Ausbildungsjahr ca. 704 € und im 2. Ausbildungsjahr ca.778 €, mithin insgesamt ca.741 €.

Der Tarifvertrag der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände sieht ab Januar 2010 für das 1. Ausbildungsjahr 695,59 € brutto und für das 2.Ausbildungsjahr bei 774,98 € brutto vor.

Unter Berücksichtigung dieser Schätzgrundlagen hält das Gericht ein durchschnittliches monatliches Bruttoeinkommen der Klägerin für ihre beiden ersten Ausbildungsjahre in Höhe der von ihr angegebenen 690,- € für realistisch. Ihr Vater arbeitet bei den Stadtwerken N; sie war eine gute Schülerin, die eine ordentliche mittlere Reife erwarten ließ, so dass davon ausgegangen werden kann, dass sie eine Ausbildungsvergütung in tarifvertraglicher Höhe erzielt hätte. Auch insoweit geht das Gericht von einem durchschnittlichen Werdegang aus, so dass nicht die Minimaltarife der IHK, sondern eine im Durchschnitt liegende Ausbildungsvergütung zu erwarten war.

Ein Bruttolohn in Höhe von 690,- € entspricht nach Abzug des Beitrags für die gesetzliche Krankenkasse in Höhe von damals 54,51 €, für die Pflegeversicherung von 6,73 €, für die Arbeitslosenversicherung von 9,66 € einem Nettolohn in Höhe von 550,44 € (vgl. Berechnung Anlage K 11, Bl. 59 d.A.). Nach Abzug pauschaler berufsbedingter Aufwendungen in Höhe von 10 % (= 55,04 €) hätte die Klägerin 495,40 € erzielt. Für die streitgegenständliche Zeit vom 01.08.2008 bis 30.06.2010, also (5 Monate in 2008, 12 Monate in 2009 und 6 Monate in 2010) 23 Monate, ergeben sich 11.394,20 €.

3. Zinsen auf den tenorierten Betrag stehen der Klägerin erst ab Rechtshängigkeit zu. Zwar forderte sie die Beklagte zu 2) bereits mit außergerichtlichem Schreiben vom 29.10.2009 unter Fristsetzung bis zum 12.11.2009 zur Zahlung eines Betrages in Höhe von 10.350,00 € für den Zeitraum bis einschließlich Oktober 2009 auf. Damit forderte sie jedoch für den angegebenen Zeitraum vom 01.08.2008 bis 31.10.2009 (15 Monate) ca. ein Drittel und damit erheblich zu viel, so dass die Beklagte nicht in Verzug geriet, vgl. Palandt – Grüneberg, BGB, § 286 Rn.20.

Da die weit übersetzte Forderung nicht zum Verzug der Beklagten führte, hat die Klägerin auch keinen Anspruch auf Freistellung von der Gebührenforderung ihrer Prozessbevollmächtigten für ihre außergerichtliche Vertretung. Darüber hinaus wäre das Schreiben allenfalls verzugsbegründend und damit nicht ersatzfähig gewesen.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs.1 ZPO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 709 ZPO.

 

 

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