Oberlandesgericht Brandenburg – Az.: 12 U 143/19 – Beschluss vom 21.01.2020
Der Senat beabsichtigt, die Berufung der Klägerin gemäß § 522 Abs. 2 ZPO durch Beschluss zurückzuweisen.
Die Klägerin erhält Gelegenheit zur Stellungnahme bzw. gegebenenfalls auch Rücknahme der Berufung mit der damit verbundenen Reduzierung der Kosten für das Berufungsverfahren binnen spätestens eines Monats nach Zugang dieses Beschlusses.
Gründe
I.
Die Klägerin macht Regressansprüche aus einem Unfall vom … 2015, bei dem der Versicherungsnehmer der Klägerin mit seinem Pkw an einem unbeschrankten Bahnübergang in den Kupplungsbereich der dort stehenden Kesselwagen hineingefahren ist und das Fahrzeug sodann mitgeschleift wurde, nachdem sich der 600 m lange Güterzug mit 23 Kesselwagen wieder in Bewegung gesetzt hatte, geltend. Wegen der weiteren Einzelheiten zum Sachverhalt wird Bezug genommen auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen und die Klägerin auf die Widerklage zur Zahlung von 19.851,99 € nebst Zinsen verurteilt. Es hat gemeint, die Abwägung der Verursachungsbeiträge nach § 17 Abs. 1, 2 und 4 StVG führe zur Alleinhaftung des Kraftfahrzeugführers, denn diesem sei ein Verstoß gegen § 19 Abs. 1 Satz 1 StVO bzw. § 11 Abs. 3 Satz 1 EBO anzulasten, weil er den dort normierten absoluten Vorrang der schienengebundenen Fahrzeuge missachtet habe. Das ohnehin schon schwerwiegende Fehlverhalten sei zudem darauf zurückzuführen, dass der Fahrzeugführer infolge des Alkoholgenusses nicht in der Lage gewesen sei, das Fahrzeug sicher zu führen. Demgegenüber treffe die Beklagte kein Mitverschulden. Eine Verpflichtung des Lokführers, den Rangierweg nach hinten zu beobachten, habe nicht bestanden.
Der Klägerin hat gegen das ihr am 11.09.2019 zugestellte Urteil mit einem am 24.09.2019 beim Brandenburgischen Oberlandesgericht eingegangenen Schriftsatz Berufung eingelegt und hat diese nach Fristverlängerung bis zum 12.12.2019 mit einem an diesem Tag eingegangenen Schriftsatz begründet.
Sie meint, der Auffassung des Landgerichts, dass dem Triebfahrzeugführer ein Verstoß gegen das Sichtfahrgebot nicht vorwerfbar sei, weil dieses nur für den vorwärts gerichteten Verkehr gelte, könne nicht gefolgt werden. Aus den Richtlinien und Arbeitsanweisungen ergebe sich das Gegenteil. In § 56 Abs. 1 BOA heiße es ausdrücklich, dass beim Rangieren auf Sicht zu fahren sei, weil mit Hindernissen im Rangierweg stets gerechnet werden müsse. Aus der Anweisung Nr. 20 zur BOA ergebe sich, dass Rangierleiter und Triebfahrzeugführer bei jeder Rangierfahrt den Rangierweg und die Signale ständig zu beobachten hätten. Entsprechendes ergebe sich aus den hier maßgeblichen Bedienungsanweisungen.
Die Klägerin hat angekündigt zu beantragen, das Urteil des Landgerichts Frankfurt (Oder) vom 02.08.2019 – 12 O 296/18 – abzuändern und wie folgt neu zu fassen:
1.
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 96.947,58 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz der Europäischen Zentralbank seit dem 21.08.2017 zu zahlen.
2.
Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, sämtliche weiteren Aufwendungen der Klägerin unter Berücksichtigung einer Haftungsquote von 50 % zu erstatten, welche im Zusammenhang mit dem Unfallereignis vom 17.11.2015 auf dem Bahnübergang 9 an der …straße in P… entstanden sind und noch entstehen werden.
3.
Die Widerklage wird abgewiesen; sowie hilfsweise, den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht Frankfurt (Oder) zurückzuverweisen.
Die Beklagte hat angekündigt zu beantragen, die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt das angefochtene Urteil. Bei der hier durchgeführten sogenannten gezogenen Rangierfahrt könnten Hindernisse beim Rangieren, mit denen stets gerechnet werden müsse, schon denknotwendig nur solche sein, die sich im Fahrweg, also in Fahrtrichtung befänden.
II.
Da die Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, ist beabsichtigt, sie gemäß § 522 Abs. 2 ZPO durch Beschluss zurückzuweisen, da auch die übrigen Voraussetzungen vorgenannter Norm erfüllt sind.
Die Klage ist unbegründet, demgegenüber ist die Widerklage begründet. Der Versicherungsnehmer der Klägerin ist für das Unfallgeschehen allein verantwortlich, so dass eine gesamtschuldnerische Haftung von Klägerin und Beklagter zu gleichen Anteilen im Sinne von § 426 Abs. 1 Satz 1 BGB nicht besteht. Der extrem schwere Verkehrsverstoß des Versicherungsnehmers der Klägerin, der alkoholisiert einen auf einem Bahnübergang stehenden Güterzug übersehen und ungebremst gegen diesen gefahren ist, steht außer Frage. Demgegenüber kann von einer Pflichtverletzung, begangen durch einen Mitarbeiter der Beklagten, nicht ausgegangen werden. Hierzu fehlt es bereits an hinreichend konkretem Tatsachenvortrag der Klägerin. Soweit diese sich hinsichtlich des Sorgfaltsmaßstabes bei Rangierfahrten auf verschiedene Regelungen beruft, lässt sich aus diesen ein Verstoß hiergegen durch den Triebfahrzeugführer nicht begründen. Entsprechendes ergibt sich insbesondere auch nicht aus Anhang 2.1 der Bedienungsanweisung für die Durchführung von Rangierfahrten im Bereich der Industriebahn P…. Dass das dort postulierte Sichtfahrgebot schon vom Wortsinn her zunächst einmal nur den voraus befindlichen Bereich betrifft, ist offensichtlich. Soweit es weiter heißt, der Triebfahrzeugführer habe bei jeder Rangierfahrt den Gleisbereich und die Signale ständig zu beobachten, kann auch daraus nicht ohne weiteres hergeleitet werden, dass mit dem ständigen Beobachten insbesondere der rückwärtige Gleisbereich gemeint sein soll, denn eine ständige Beobachtung des rückwärtigen Bereichs würde gleichzeitig zu einer Vernachlässigung des Sichtfahrgebotes führen, die ersichtlich nicht gewollt ist. Der Klägervortrag erweist sich vor allem deshalb als unzureichend, als nicht ansatzweise dargestellt wird, welche konkrete Pflichtverletzung im Hinblick auf die Beobachtung des Gleisbereichs dem Triebfahrzeugführer überhaupt vorgeworfen werden soll und inwieweit durch Beachtung der wie auch immer gearteten Pflicht der eingetretene Schaden hätte verhindert werden können. Es fehlt insbesondere jeglicher Vortrag dazu, durch welche Beobachtung und welche Sicherheitsvorkehrung der Triebfahrzeugführer den weit hinter ihm befindlichen Pkw des Versicherungsnehmers der Klägerin zwischen den Kesselwagen auf dem Bahnübergang hätte erkennen können und von einer Weiterfahrt sodann hätte Abstand nehmen müssen, worauf bereits das Landgericht in den Entscheidungsgründen der angefochtenen Entscheidung ausdrücklich hingewiesen hat. Eine allgemeine Verpflichtung dahin, nach einem betriebsbedingten kurzzeitigen Halt den rückwärtigen Gleisbereich bei einem 600 m langen Zug daraufhin genauestens abzusuchen, ob sich dem Zug zwischenzeitlich möglicherweise Unbefugte in Gefahr begründender Weise genähert haben könnten, besteht nicht und ergibt sich auch so nicht aus den allgemeinen Bestimmungen zur Durchführung von gezogenen Rangierfahrten, wobei es sich nach dem Vortrag der Klägerin in der Klageschrift ab der Grenze der Industriebahn zum öffentlichen Netz der DB Netz AG um eine Bedienfahrt gehandelt haben soll. Etwas anderes kann gelten, wenn sich für den Triebfahrzeugführer erkennbar Auffälligkeiten ergeben, die ein gefahrloses Anfahren einschränken könnten und denen deshalb nachzugehen ist. War beispielsweise erkennbar, dass sich dem haltenden Zug spielende Kinder oder auch Fahrzeuge in gefährdender Weise genähert haben, wird dem Triebfahrzeugführer eine Weiterfahrt nur möglich sein, wenn er sich zuvor darüber vergewissert hat, dass die Gefahr beseitigt ist. Von nichts dergleichen kann hier jedoch ausgegangen werden. Allein die Tatsache, dass sich das Klägerfahrzeug dem Bahnübergang angenähert hat, stellt kein Gefahr begründendes Verhalten dar, da der Triebwagenführer ohne weiteres davon ausgehen konnte, dass das Klägerfahrzeug am Bahnübergang seiner Anhalteverpflichtung (§ 19 Abs. 1 S. 1 StVO) nachkommt, und insbesondere konnte er nicht davon ausgehen, dass die ernsthafte Gefahr besteht, dieser könne möglicherweise den unübersehbaren Güterzug übersehen und in ihn hineinfahren. Vor diesem Hintergrund bestand keine Verpflichtung zu einer erhöhten Aufmerksamkeit.
Unabhängig davon ist zu berücksichtigen, dass nicht nur die Betriebsgefahr der (stehenden) Bahn hinter den Verursachungsbeitrag des Versicherungsnehmers der Klägerin zurücktritt, sondern selbst für den Fall einer nur einfachen Pflichtverletzung des Triebfahrzeugführers ein vollständiges Zurücktreten dieses Verursachungsbeitrages hinter den Verursachungsbeitrag des Versicherungsnehmers der Klägerin in Betracht kommt, da dessen geradezu unfassbare und strafbare Nichtbeachtung des auf dem Bahnübergang stehenden Zuges den maßgeblichen Beitrag zum Gesamtgeschehen begründet hat.
Ergänzend sei noch darauf hingewiesen, dass der Vortrag der Klägerin zur Schadenshöhe ebenfalls in seiner bisherigen Form unsubstanziiert ist. Da es an jeglichen Einzelheiten zur Zusammensetzung der jeweiligen Forderungen fehlt, ist die Beklagte zu einem substanziierten Bestreiten derzeit nicht verpflichtet.