OVG Lüneburg – Beschluss vom 29.10.2020 – Az.:13 MN 393/20
§ 10 Abs. 2 der Niedersächsischen Verordnung über Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Corona-Virus SARS-CoV-2 (Niedersächsische Corona-Verordnung) vom 7. Oktober 2020 (Nds. GVBl. S. 346), zuletzt geändert durch Verordnung vom 22. Oktober 2020 (Nds. GVBl. S. 363), wird vorläufig außer Vollzug gesetzt.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert des Verfahrens wird auf 5.000 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
Die Antragstellerin begehrt die vorläufige Außervollzugsetzung einer infektionsschutzrechtlichen Verordnung, die Gastronomiebetrieben eine Sperrzeit von 23.00 Uhr bis 6.00 Uhr auferlegt und den Außer-Haus-Verkauf alkoholischer Getränke untersagt.
Die Antragstellerin betreibt in C. eine Shisha-Bar mit Alkoholausschank, die in der Woche bis 1.00 Uhr und an Wochenenden bis 5.00 Uhr geöffnet ist.
Am 7. Oktober 2020 erließ das Niedersächsische Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung, handelnd durch die Ministerin, die Niedersächsische Verordnung über Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Corona-Virus SARS-CoV-2 (Niedersächsische Corona-Verordnung) und verkündete diese im Niedersächsischen Gesetz- und Verordnungsblatt vom 8. Oktober 2020, S. 346. Diese Verordnung enthält in der zuletzt durch Verordnung zur Änderung der Niedersächsischen Corona-Verordnung vom 22. Oktober 2020, verkündet im Niedersächsischen Gesetz- und Verordnungsblatt vom 22. Oktober 2020, S. 363, geänderten Fassung unter anderem folgende Regelungen:
§ 6 Regelungen für private Zusammenkünfte und Feiern
…
(3) 1Abweichend von den Absätzen 1 und 2 sind für private Zusammenkünfte und Feiern im Sinne der Absätze 1 und 2 unter Einhaltung des Abstandsgebots nach § 2 Abs. 1 und 2 Nr. 1 vorbehaltlich des Absatzes 4 nicht mehr als jeweils 15 Personen zulässig, wenn in Bezug auf das Gebiet des Landkreises oder der kreisfreien Stadt, in dem oder in der die Zusammenkunft oder Feier stattfindet, die Zahl der Neuinfizierten im Verhältnis zur Bevölkerung 35 oder mehr Fälle je 100 000 Einwohnerinnen und Einwohner kumulativ in den letzten sieben Tagen beträgt. 2Das für Gesundheit zuständige Ministerium gibt auf der Internetseite https://www.niedersachsen.de/Coronavirus/aktuelle_lage_in_niedersachsen/ bekannt, in welchen Landkreisen und kreisfreien Städte die nach Satz 1 geregelte Zahl der Neuinfizierten erreicht ist. 3Ab dem Zeitpunkt der Bekanntgabe nach Satz 2 ist Satz 1 anzuwenden.
(5) 1Private Zusammenkünfte und Feiern, die an öffentlich zugänglichen Örtlichkeiten, auch in außerhalb der eigenen Wohnung zur Verfügung gestellten Räumlichkeiten und in gastronomischen Betrieben, stattfinden, sind mit jeweils nicht mehr als 100 Personen zulässig, wenn das Abstandsgebot nach § 2 Abs. 1 und 2 Nr. 1 eingehalten wird. 2Während der privaten Zusammenkünfte und Feiern im Sinne des Satzes 1, an denen mehr als 50 Personen teilnehmen, dürfen ab 18.00 Uhr reine Spirituosen und ab 22.00 Uhr Alkohol insgesamt, einschließlich alkoholischer Mischgetränke, weder angeboten noch konsumiert werden.
(6) 1Abweichend von Absatz 5 sind für Zusammenkünfte und Feiern im Sinne des Absatzes 5 unter Einhaltung des Abstandsgebots nach § 2 Abs. 1 und 2 Nr. 1 vorbehaltlich des Absatzes 7 nicht mehr als jeweils 25 Personen zulässig, wenn in Bezug auf das Gebiet des Landkreises oder der kreisfreien Stadt, in dem oder in der die Zusammenkunft oder Feier stattfindet, die Zahl der Neuinfizierten im Verhältnis zur Bevölkerung 35 oder mehr Fälle je 100 000 Einwohnerinnen und Einwohner kumulativ in den letzten sieben Tagen beträgt. 2Absatz 3 Sätze 2 und 3 ist entsprechend anzuwenden.
(7) 1Abweichend von Absatz 5 dürfen an Zusammenkünften und Feiern im Sinne des Absatzes 5 unter Einhaltung des Abstandsgebots nach § 2 Abs. 1 und 2 Nr. 1 Angehörige im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 1 sowie Personen aus nicht mehr als zwei Haushalten, höchstens aber insgesamt nicht mehr als zehn Angehörige und Personen teilnehmen, wenn in Bezug auf das Gebiet des Landkreises oder der kreisfreien Stadt, in dem oder in der die Zusammenkunft oder Feier stattfindet, die Zahl der Neuinfizierten im Verhältnis zur Bevölkerung 50 oder mehr Fälle je 100 000 Einwohnerinnen und Einwohner kumulativ in den letzten sieben Tagen beträgt. 2Absatz 3 Sätze 2 und 3 ist entsprechend anzuwenden.
(8) Private Zusammenkünfte und Feiern, die keine der in den Absätzen 1 bis 7 genannten Anforderungen erfüllen, sind verboten.
§ 10
Betriebsverbote sowie Betriebs- und Dienstleistungsbeschränkungen
…
(2) 1Für einen Gastronomiebetrieb im Sinne des § 1 Abs. 3 NGastG beginnt eine Sperrzeit um 23.00 Uhr und endet um 6.00 Uhr, wenn in Bezug auf das Gebiet des Landkreises oder der kreisfreien Stadt, in dem oder in der der Gastronomiebetrieb liegt, die Zahl der Neuinfizierten im Verhältnis zur Bevölkerung 35 oder mehr Fälle je 100 000 Einwohnerinnen und Einwohner kumulativ in den letzten sieben Tagen beträgt; § 6 Abs. 3 Sätze 2 und 3 ist entsprechend anzuwenden. 2Die zuständige örtliche Behörde kann in begründeten Ausnahmefällen von Satz 1 abweichende Regelungen treffen, es sei denn, dass die Zahl der Neuinfizierten im Verhältnis zur Bevölkerung 50 oder mehr Fälle je 100 000 Einwohnerinnen und Einwohner kumulativ in den letzten sieben Tagen beträgt; in diesem Fall ist es den Betreiberinnen und Betreibern von Gastronomiebetrieben im Sinne des § 1 Abs. 3 NGastG unabhängig von der Sperrfrist zudem untersagt, alkoholische Getränke im Außer-Haus-Verkauf abzugeben.
…
§ 20
Inkrafttreten, Außerkrafttreten
(1) Diese Verordnung tritt am 9. Oktober 2020 in Kraft und mit Ablauf des 15. November 2020 außer Kraft.
…
Am 23. Oktober 2020 hat die Antragstellerin bei dem Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht einen Normenkontrollantrag (13 KN 392/20) und einen darauf bezogenen Normenkontrolleilantrag gestellt. Sie hält die in § 10 Abs. 2 Satz 1 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordnete Sperrzeit und die Untersagung des Außer-Haus-Verkaufs alkoholischer Getränke nach § 10 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung für rechtswidrig. Die Regelungen seien schon nicht hinreichend bestimmt, da unklar bleibe, auf welchen Tag das Ende der Sperrzeit um 6.00 Uhr bezogen sei und aufgrund welcher Erkenntnisse die Inzidenzwerte vom Verordnungsgeber angenommen worden und wie diese konkret zu bestimmen seien. Auch die Rechtsgrundlagen der Verordnung in §§ 32 und 28 des Infektionsschutzgesetzes seien unwirksam. Jedenfalls gestatteten sie allenfalls notwendige Schutzmaßnahmen. Die Sperrzeit und das Außer-Haus-Verkaufsverbot seien nicht notwendig und auch nicht verhältnismäßig. Gaststätten hätten nach den Feststellungen des Robert Koch-Instituts überhaupt keinen wesentlichen Anteil am Infektionsgeschehen. Gleiches gelte für den Alkoholkonsum. Ein erhebliches Infektionsrisiko zeigten vielmehr private Feiern im Familien- und Freundeskreis, der Umgang in Gemeinschaftseinrichtungen und -unterkünften, Kindertagesstätten und Schulen, religiöse Veranstaltungen und berufliche Settings. Auch wenn nicht alle Infektionsquellen im Rahmen der Kontaktnachverfolgung ermittelt werden konnten, sei es unzulässig, diese den Gaststätten und dem Alkoholkonsum zuzuschreiben. Selbst der Verordnungsgeber sehe Gastronomiebetriebe offensichtlich nicht als „potenzielle Orte für Infektionsgeschehen“ an, dürften diese doch öffnen und müssten nur über ein geeignetes Hygienekonzept verfügen. Eine andere Sichtweise für einen begrenzten Zeitraum von 23.00 Uhr bis 6.00 Uhr sei nicht begründet. Sie sei auch nicht wegen einer „Enthemmung aufgrund des Konsums alkoholischer Getränke“ geboten. Auch der Vorwurf mangelnder Kontrollierbarkeit der Einhaltung des Hygienekonzepts sei kein sachlicher Grund, da es keine tatsächlichen Anhaltspunkte für eine grundlegende Missachtung der Schutz- und Hygienevorschriften in Gaststätten gebe. Die zeitweise Schließung der Gastronomiebetriebe würde die Zusammenkünfte von Personen und deren Alkoholkonsum nur in private Bereiche verdrängen, die kaum zu kontrollieren seien und nach den Feststellungen des Robert Koch-Instituts ein deutlich höheres Infektionsrisiko bedeuteten. Die angeordnete Sperrzeit und die Untersagung des Außer-Haus-Verkaufs alkoholischer Getränke griffen auch unverhältnismäßig in ihre grundgesetzlich geschützte Berufsausübungsfreiheit ein. Der weitere Vollzug der Verordnung sei für sie mit erheblichen, ihre wirtschaftliche Existenz gefährdenden Umsatzeinbußen verbunden.
Die Antragstellerin beantragt sinngemäß,
§ 10 Abs. 2 der Niedersächsischen Verordnung über Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Corona-Virus SARS-CoV-2 (Niedersächsische Corona-Verordnung) vom 7. Oktober 2020, zuletzt geändert durch Verordnung vom 22. Oktober 2020, vorläufig außer Vollzug zu setzen.
Der Antragsgegner beantragt, den Antrag abzulehnen.
Er verteidigt die angefochtenen Verordnungsregelungen und erachtet diese als hinreichend bestimmt. Diese seien zur Zielerreichung geeignet, da sie jedenfalls für die Zeit ihrer Geltung die Kontaktmöglichkeiten zwischen zahlreichen Personen in und auf dem Weg von und zu gastronomischen Betrieben reduzierten und hiermit verbundene Infektionsrisiken ausschlössen. Eine Abdrängung in private Bereiche stelle die Eignung nicht infrage. Es sei bereits fraglich, ob eine solche in nennenswertem Umfang stattfinde. Jedenfalls würde die Zahl möglicher Kontaktpersonen und die in Gastronomiebetrieben mit laut geführten Gesprächen verbundene besondere hohe Infektionsgefahr reduziert. Auch könne nicht unterstellt werden, dass im privaten Bereich von vorneherein geltende Infektionsschutzregeln nicht beachtet würden. Die Regelungen seien auch erforderlich. Es stehe mittlerweile fest, dass die Virusübertragung in erster Linie im direkten sozialen Kontakt erfolge, wie er auch in gastronomischen Betrieben stattfinde. Die Einhaltung der Regelungen eines Hygienekonzepts werde durch die enthemmende Wirkung von Alkohol gefährdet. Es stehe auch nicht fest, dass das Infektionsgeschehen in Gastronomiebetrieben nicht signifikant zur Virusverbreitung beitrage. Zwar habe das Robert Koch-Institut Erkenntnisse zum Infektionsumfeld gewonnen. Deren Aussagekraft leide aber darunter, dass nur etwa ein Viertel der Fälle einem Ausbruch zugeordnet werden konnte. Für drei Viertel der Fälle gebe es hingegen keine Erkenntnisse. Deshalb könne aus der festgestellten geringen Zahl von Infektionsfällen in Gastronomiebetrieben nicht verlässlich auf eine nur geringe Bedeutung für die Virusverbreitung geschlossen werden. Mildere, punktgenauere Maßnahmen seien nicht in gleicher Weise effektiv. Ein bloßes Alkoholausschankverbot ab einem bestimmten Tageszeitpunkt könne durch eine „Bevorratung mit alkoholischen Getränken für den Rest des Abends“ leicht umgangen werden. Die bloße Beachtung und Durchsetzung der bestehenden Hygienekonzepte sei angesichts des aktuellen Infektionsgeschehens nicht mehr ausreichend. Die Regelung sei auch angemessen. Der Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit sei durch vernünftige Gründe des Allgemeinwohls gerechtfertigt, die die wirtschaftlichen Interessen der Antragstellerin überwögen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte verwiesen.
II.
Der Senat legt die von der Antragstellerin gestellten Anträge anhand ihres ohne Weiteres erkennbaren tatsächlich Begehrens gemäß § 88 VwGO (vgl. zur Anwendung im Normenkontrollverfahren: BVerwG, Urt. v. 21.1.2004 – BVerwG 8 CN 1.02 -, BVerwGE 120, 82, 86 – juris Rn. 34; Kopp/Schenke, VwGO, 25. Aufl. 2019, § 47 Rn. 36) einheitlich dahin aus, dass sie im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO die vorläufige Außervollzugsetzung des § 10 Abs. 2 der Niedersächsischen Verordnung über Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Corona-Virus SARS-CoV-2 (Niedersächsische Corona-Verordnung) vom 7. Oktober 2020, zuletzt geändert durch Verordnung vom 22. Oktober 2020, erstrebt.
Dieser zulässige (1.) Antrag ist begründet (2.) und führt zur vorläufigen Außervollzugsetzung des § 10 Abs. 2 der Niedersächsischen Verordnung mit allgemeinverbindlicher Wirkung (3.).
Diese Entscheidung, die nicht den prozessrechtlichen Vorgaben des § 47 Abs. 5 VwGO unterliegt (vgl. Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 7. Aufl. 2017, Rn. 607; Hoppe, in: Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 47 Rn. 110 ff.), trifft der Senat ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss (vgl. Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 12.6.2009 – 1 MN 172/08 -, juris Rn. 4 m.w.N.) und gemäß § 76 Abs. 2 Satz 1 NJG ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richterinnen und Richter.
1. Der Antrag ist zulässig.
Der Normenkontrolleilantrag ist nach § 47 Abs. 6 in Verbindung mit Abs. 1 Nr. 2 VwGO und § 75 NJG statthaft. Die Niedersächsische Corona-Verordnung ist eine im Range unter dem Landesgesetz stehende Rechtsvorschrift im Sinne des § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO in Verbindung mit § 75 NJG (vgl. zu den insoweit bestehenden Anforderungen: Senatsbeschl. v. 31.1.2019 – 13 KN 510/18 -, NdsRpfl. 2019, 130 f. – juris Rn. 16 ff.).
Die Antragstellerin ist antragsbefugt im Sinne des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO, da sie geltend machen kann, in eigenen Rechten verletzt zu sein. Die in § 10 Abs. 2 Satz 1 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordnete Sperrzeit und die Untersagung des Außer-Haus-Verkaufs alkoholischer Getränke nach § 10 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung sind an die Betreiberinnen und Betreiber von Gastronomiebetrieben adressiert und lassen es möglich erscheinen, dass die Antragstellerin in ihrem Grundrecht der Berufsausübungsfreiheit nach Art. 19 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 12 Abs. 1 GG verletzt ist (vgl. zu dieser Qualifizierung des Eingriffs: Senatsbeschl. v. 16.4.2020 – 13 MN 77/20 -, juris Rn. 29). Eine darüberhinausgehende Verletzung des Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb als einer nach Art. 14 Abs. 1 GG geschützten Rechtsposition dürfte hingegen nicht vorliegen. Denn dieser Schutz erfasst nur den konkreten Bestand an Rechten und Gütern; die hier durch die verordnete Beschränkung betroffenen bloßen Umsatz- und Gewinnchancen werden hingegen auch unter dem Gesichtspunkt des eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebs nicht von der Eigentumsgarantie erfasst (vgl. BVerfG, Urt. v. 6.12.2016 – 1 BvR 2821/11 -, BVerfGE 143, 246, 331 f. – juris Rn. 240; Beschl. v. 26.6.2002 – 1 BvR 558/91 -, BVerfGE 105, 252, 278 – juris Rn. 79 m.w.N.).
Der Antrag ist zutreffend gegen das Land Niedersachsen als normerlassende Körperschaft im Sinne des § 47 Abs. 2 Satz 2 VwGO gerichtet. Das Land Niedersachsen wird durch das Niedersächsische Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung vertreten (vgl. Nr. II. des Gemeinsamen Runderlasses der Staatskanzlei und sämtlicher Ministerien, Vertretung des Landes Niedersachsen, v. 12.7.2012 (Nds. MBl. S. 578), zuletzt geändert am 15.9.2017 (Nds. MBl. S. 1288), in Verbindung mit Nr. 4.22 des Beschlusses der Landesregierung, Geschäftsverteilung der Niedersächsischen Landesregierung, v. 17.7.2012 (Nds. MBl. S. 610), zuletzt geändert am 18.11.2019 (Nds. MBl. S. 1618)).
2. Der Antrag ist auch begründet.
Nach § 47 Abs. 6 VwGO kann das Gericht in Normenkontrollverfahren auf Antrag eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist. Prüfungsmaßstab im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO sind zunächst die Erfolgsaussichten eines Normenkontrollantrages im Hauptsacheverfahren, soweit sich diese im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bereits absehen lassen. Ergibt diese Prüfung, dass der Normenkontrollantrag voraussichtlich unzulässig oder unbegründet sein wird, ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht im Sinne von § 47 Abs. 6 VwGO zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten. Erweist sich dagegen, dass der Antrag voraussichtlich Erfolg haben wird, so ist dies ein wesentliches Indiz dafür, dass der Vollzug bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache suspendiert werden muss. In diesem Fall kann eine einstweilige Anordnung ergehen, wenn der (weitere) Vollzug vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren Nachteile befürchten lässt, die unter Berücksichtigung der Belange des Antragstellers, betroffener Dritter und/oder der Allgemeinheit so gewichtig sind, dass eine vorläufige Regelung mit Blick auf die Wirksamkeit und Umsetzbarkeit einer für den Antragsteller günstigen Hauptsacheentscheidung unaufschiebbar ist. Lassen sich die Erfolgsaussichten des Normenkontrollverfahrens nicht abschätzen, ist über den Erlass einer beantragten einstweiligen Anordnung im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden. Gegenüberzustellen sind im Rahmen der sog. „Doppelhypothese“ die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, der Normenkontrollantrag aber Erfolg hätte, und die Nachteile, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Normenkontrollantrag aber erfolglos bliebe. Die für den Erlass der einstweiligen Anordnung sprechenden Gründe müssen die gegenläufigen Interessen deutlich überwiegen, mithin so schwer wiegen, dass der Erlass der einstweiligen Anordnung – trotz offener Erfolgsaussichten der Hauptsache – dringend geboten ist (vgl. BVerwG, Beschl. v. 30.4.2019 – BVerwG 4 VR 3.19 -, juris Rn. 4 (zur Normenkontrolle eines Bebauungsplans); OVG Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 22.10.2019 – 6 B 11533/19 -, juris Rn. 5 (zur Normenkontrolle einer Rechtsverordnung über die Freigabe eines verkaufsoffenen Sonntags); Sächsisches OVG, Beschl. v. 10.7.2019 – 4 B 170/19 -, juris Rn. 20 (zur Normenkontrolle einer Rechtsverordnung zur Bildung und Arbeit des Integrationsbeirats); Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 11.5.2018 – 12 MN 40/18 -, juris Rn. 24 ff. (zur Normenkontrolle gegen die Ausschlusswirkung im Flächennutzungsplan) jeweils m.w.N.).
Unter Anwendung dieser Grundsätze hat der Antrag auf vorläufige Außervollzugsetzung des § 10 Abs. 2 der Niedersächsischen Verordnung über Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Corona-Virus SARS-CoV-2 (Niedersächsische Corona-Verordnung) vom 7. Oktober 2020, zuletzt geändert durch Verordnung vom 22. Oktober 2020, Erfolg. Der in der Hauptsache von der Antragstellerin zulässigerweise gestellte Normenkontrollantrag 13 KN 392/20 ist voraussichtlich begründet (a.). Zudem überwiegen gewichtige Belange der Antragstellerin die für den weiteren Vollzug der Verordnung bis zu einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren sprechenden Gründe (b.).
a. Der in der Hauptsache von der Antragstellerin gestellte Normenkontrollantrag 13 KN 392/20 hat voraussichtlich Erfolg. Nach der derzeit nur gebotenen summarischen Prüfung spricht Überwiegendes dafür, dass § 10 Abs. 2 der Niedersächsischen Verordnung über Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Corona-Virus SARS-CoV-2 (Niedersächsische Corona-Verordnung) vom 7. Oktober 2020, zuletzt geändert durch Verordnung vom 22. Oktober 2020, rechtswidrig ist und wegen der damit einhergehenden Verletzung der Antragstellerin ihrem Grundrecht der Berufsausübungsfreiheit gemäß § 47 Abs. 5 Satz 2 VwGO für unwirksam zu erklären sein wird.
(1) Rechtsgrundlage für die Festsetzung der Sperrzeit in § 10 Abs. 2 Satz 1 der Niedersächsischen Corona-Verordnung ist ausweislich der Präambeln dieser Verordnung vom 7. Oktober 2020 und der Verordnung zur Änderung der Niedersächsischen Corona-Verordnung vom 22. Oktober 2020 nicht § 10 des Niedersächsischen Gaststättengesetzes – NGastG -.
Rechtsgrundlage für den Erlass der Verordnung ist vielmehr § 32 Satz 1 und 2 in Verbindung mit § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 des Gesetzes zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz – IfSG -) vom 20. Juli 2000 (BGBl. I S. 1045), in der hier maßgeblichen zuletzt durch das Gesetz zur Umsetzung steuerlicher Hilfsmaßnahmen zur Bewältigung der Corona-Krise (Corona-Steuerhilfegesetz) vom 19. Juni 2020 (BGBl. I S. 1385) geänderten Fassung. Eine Verfassungswidrigkeit dieser Rechtsgrundlagen, insbesondere mit Blick auf die Bestimmtheit der getroffenen Regelungen und deren Vereinbarkeit mit dem Vorbehalt des Gesetzes, ist jedenfalls nicht offensichtlich (vgl. hierzu im Einzelnen: OVG B-Stadt, Beschl. v. 9.4.2020 – 1 B 97/20 -, juris Rn. 24 ff.; Hessischer VGH, Beschl. v. 7.4.2020 – 8 B 892/20.N -, juris Rn. 34 ff.; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 6.4. 2020 – 13 B 398/20.NE -, juris Rn. 36 ff.; Bayerischer VGH, Beschl. v. 30.3.2020 – 20 NE 20.632 -, juris Rn. 39 ff.; Beschl. v. 30.3.2020 – 20 CS 20.611 -, juris 17 f.).
(2) Anhaltspunkte für eine formelle Rechtswidrigkeit der Niedersächsischen Corona-Verordnung vom 7. Oktober 2020 und der Verordnung zur Änderung der Niedersächsischen Corona-Verordnung vom 22. Oktober 2020 bestehen derzeit nicht.
Anstelle der nach § 32 Satz 1 IfSG ermächtigten Landesregierung war aufgrund der nach § 32 Satz 2 IfSG gestatteten und durch § 3 Nr. 1 der Verordnung zur Übertragung von Ermächtigungen aufgrund bundesgesetzlicher Vorschriften (Subdelegationsverordnung) vom 9. Dezember 2011 (Nds. GVBl. S. 487), zuletzt geändert durch Verordnung vom 4. August 2020 (Nds. GVBl. S. 266), betätigten Subdelegation das Niedersächsische Ministerium für Gesundheit, Soziales und Gleichstellung zum Erlass der Verordnungen zuständig.
Gemäß Art. 45 Abs. 1 Satz 2 NV sind die Verordnungen von der das Ministerium vertretenden Ministerin ausgefertigt und im Niedersächsischen Gesetz- und Verordnungsblatt vom 7. Oktober 2020 (Nds. GVBl. S. 346) und vom 22. Oktober 2020 (Nds. GVBl. S. 363) verkündet worden.
§ 20 Abs. 1 der Niedersächsischen Corona-Verordnung vom 7. Oktober 2020 und Art. 2 der Verordnung zur Änderung der Niedersächsischen Corona-Verordnung vom 22. Oktober 2020 bestimmen, wie von Art. 45 Abs. 3 Satz 1 NV gefordert, den Tag des Inkrafttretens.
Auch dem Zitiergebot des Art. 43 Abs. 2 Satz 1 NV (vgl. zu den insoweit bestehenden Anforderungen: BVerfG, Urt. v. 6.7.1999 – 2 BvF 3/90 -, BVerfGE 101, 1 – juris Rn. 152 ff. (zu Art. 80 Abs. 1 Satz 3 GG); Steinbach, in: Epping/Butzer u.a., Hannoverscher Kommentar zur Niedersächsischen Verfassung, 2012, Art. 43 Rn. 20 m.w.N.) dürften die Verordnungen genügen.
(3) Die in § 10 Abs. 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung vom 7. Oktober 2020, zuletzt geändert durch Verordnung vom 22. Oktober 2020, getroffenen Regelungen sind in ihrer hier allein zu beurteilenden konkreten Ausgestaltung aber voraussichtlich materiell rechtswidrig.
(a) Diese Rechtswidrigkeit ergibt sich entgegen der Auffassung der Antragstellerin aber nicht schon aus einer mangelnden hinreichenden Bestimmtheit der Verordnungsregelungen (vgl. zu den insoweit bestehenden Anforderungen: BVerfG, Beschl. v. 13.7.2018 – 1 BvR 1474/12 -, BVerfGE 149, 160, 203 – juris Rn. 120; Senatsbeschl. v. 29.4.2020 – 13 MN 120/20 -, juris Rn. 18 m.w.N.).
(aa) § 10 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 1 der Niedersächsischen Corona-Verordnung ordnet für jeden Gastronomiebetrieb im Sinne des § 1 Abs. 3 NGastG eine Sperrzeit an, die um 23.00 Uhr beginnt und um 6.00 Uhr endet, wenn in Bezug auf das Gebiet des Landkreises oder der kreisfreien Stadt, in dem oder in der der Gastronomiebetrieb liegt, die Zahl der Neuinfizierten im Verhältnis zur Bevölkerung 35 oder mehr Fälle je 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner kumulativ in den letzten sieben Tagen beträgt.
Das Ende der derart angeordneten Sperrzeit bezieht sich offensichtlich auf den jeweils folgenden Tag; die Sperrzeit beginnt also um 23.00 Uhr eines jeden Tages und endet um 6.00 Uhr des jeweils darauffolgenden Tages.
Die Feststellung, ob in Bezug auf das Gebiet des Landkreises oder der kreisfreien Stadt, in dem oder in der der Gastronomiebetrieb liegt, die Zahl der Neuinfizierten im Verhältnis zur Bevölkerung 35 oder mehr Fälle je 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner kumulativ in den letzten sieben Tagen beträgt, erfolgt gemäß § 10 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung entsprechend deren § 6 Abs. 3 Sätze 2 und 3. Danach gibt das für Gesundheit zuständige Ministerium auf der Internetseite https://www.niedersachsen.de/Coronavirus/aktuelle_lage_in_niedersachsen/ bekannt, in welchen Landkreisen und kreisfreien Städte die in § 10 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 1 der Niedersächsischen Corona-Verordnung geregelte Zahl der Neuinfizierten erreicht ist. Ab dem Zeitpunkt dieser Bekanntgabe, der auf der Internetseite vermerkt ist (Beispiel: „Datenstand 27.10.2020 09:00“), gilt die Anordnung der Sperrzeit.
(bb) § 10 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung untersagt es den Betreiberinnen und Betreibern von Gastronomiebetrieben im Sinne des § 1 Abs. 3 NGastG unabhängig von der Sperrfrist nach § 10 Abs. 2 Satz 1 der Niedersächsischen Corona-Verordnung, alkoholische Getränke im Außer-Haus-Verkauf abzugeben, wenn die Zahl der Neuinfizierten im Verhältnis zur Bevölkerung 50 oder mehr Fälle je 100 000 Einwohnerinnen und Einwohner kumulativ in den letzten sieben Tagen beträgt.
„Außer-Haus-Verkauf“ alkoholischer Getränke ist die Abgabe alkoholischer Getränke, die auch im Gastronomiebetrieb angeboten werden, zum alsbaldigen Verzehr oder Verbrauch außer Haus im Sinne des § 8 NGastG.
Anders als die Sperrzeit ist der Außer-Haus-Verkauf einem Gastronomiebetrieb für den gesamten Zeitraum untersagt, in dem in Bezug auf das Gebiet des Landkreises oder der kreisfreien Stadt, in dem oder in der der Gastronomiebetrieb liegt, die Zahl der Neuinfizierten im Verhältnis zur Bevölkerung 50 oder mehr Fälle je 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner kumulativ in den letzten sieben Tagen beträgt. Auch wenn die Niedersächsische Corona-Verordnung in § 10 Abs. 2 Satz 2 nicht ausdrücklich die Regeln über die Bekanntgabe von lokalen Inzidenzen in § 6 Abs. 3 Sätze 2 und 3 für entsprechend anwendbar erklärt, folgt diese entsprechende Anwendung noch hinreichend klar aus der Bezugnahme des § 10 Abs. 2 Satz 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung auf deren „Satz 1“.
(b) Die so zu verstehenden Regelungen in § 10 Abs. 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung vom 7. Oktober 2020, zuletzt geändert durch Verordnung vom 22. Oktober 2020, genügen aber den sich aus § 32 Satz 1 und 2 in Verbindung mit § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 IfSG ergebenden materiellen Anforderungen nicht.
Dabei steht für den Senat fest, dass beim derzeitigen Stand der Corona-Pandemie die Voraussetzungen für ein staatliches Einschreiten zweifellos erfüllt sind (aa). Es bestehen aber durchgreifende Zweifel daran, dass die in § 10 Abs. 2 Satz 1 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordnete Sperrzeit und die Untersagung des Außer-Haus-Verkaufs alkoholischer Getränke nach § 10 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung in ihrer konkreten Ausgestaltung notwendige Schutzmaßnahmen im Sinne des § 28 Abs. 1 IfSG sind (bb).
(aa) Die Voraussetzungen des § 32 Satz 1 in Verbindung mit § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 IfSG sind mit Blick auf das „Ob“ eines staatlichen Handelns gegeben.
Nach § 32 Satz 1 IfSG dürfen unter den Voraussetzungen, die für Maßnahmen nach den §§ 28 bis 31 IfSG maßgebend sind, auch durch Rechtsverordnung entsprechende Gebote und Verbote zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten erlassen werden. Die tatbestandlichen Voraussetzungen der Rechtsgrundlage des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG sind erfüllt.
Werden Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt oder ergibt sich, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war, so trifft die zuständige Behörde nach § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG die notwendigen Schutzmaßnahmen, insbesondere die in den §§ 29 bis 31 IfSG genannten, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist; sie kann insbesondere Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte oder öffentliche Orte nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu betreten.
Es wurden zahlreiche Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider (vgl. die Begriffsbestimmungen in § 2 Nrn. 3 ff. IfSG) im Sinne des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG festgestellt. Die weltweite Ausbreitung von COVID-19, die offizielle Bezeichnung der durch den neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 (Severe acute respiratory syndrome coronavirus type 2) als Krankheitserreger ausgelösten Erkrankung, wurde am 11. März 2020 von der WHO zu einer Pandemie erklärt. Weltweit sind derzeit mehr 43.700.000 Menschen mit dem Krankheitserreger infiziert und mehr als 1.160.000 Menschen im Zusammenhang mit der Erkrankung verstorben (vgl. WHO, Coronavirus disease (COVID-19) Pandemic, veröffentlicht unter: www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019, Stand: 28.10.2020). Derzeit sind im Bundesgebiet mehr als 480.000 Menschen infiziert und mehr als 10.270 Menschen im Zusammenhang mit der Erkrankung verstorben und in Niedersachsen mehr als 32.900 Menschen infiziert und mehr als 730 Menschen infolge der Erkrankung verstorben (vgl. Robert Koch-Institut (RKI), COVID-19: Fallzahlen in Deutschland und weltweit, veröffentlicht unter: www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Fallzahlen.html, Stand: 29.10.2020). Es handelt sich weltweit und in Deutschland um eine sehr dynamische und ernst zu nehmende Situation. Weltweit nimmt die Anzahl der Fälle rasant zu. Nach einer vorübergehenden Stabilisierung der Fallzahlen auf einem erhöhten Niveau ist aktuell ein starker Anstieg der Übertragungen auch in der Bevölkerung in Deutschland zu beobachten. Es kommt bundesweit zu Ausbruchsgeschehen. Der Anstieg wird durch Ausbrüche, insbesondere im Zusammenhang mit privaten Treffen und Feiern sowie bei Gruppenveranstaltungen, verursacht. Bei einem zunehmenden Anteil der Fälle ist die Infektionsquelle unbekannt. Es werden wieder vermehrt COVID-19-bedingte Ausbrüche in Alten- und Pflegeheimen gemeldet und die Zahl der Patienten, die auf einer Intensivstation behandelt werden müssen, hat sich in den letzten zwei Wochen mehr als verdoppelt (vgl. RKI, Risikobewertung zu COVID-19, veröffentlicht unter: www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung.html, Stand: 26.10.2020).
COVID-19 ist eine übertragbare Krankheit im Sinne des § 2 Nr. 3 IfSG. Die Erkrankung manifestiert sich als Infektion der Atemwege, aber auch anderer Organsysteme mit den Symptomen Husten, Fieber, Schnupfen sowie Geruchs- und Geschmacksverlust. Der Krankheitsverlauf variiert in Symptomatik und Schwere. Es wird angenommen, dass etwa 81% der diagnostizierten Personen einen milden, etwa 14% einen schwereren und etwa 5% einen kritischen Krankheitsverlauf zeigen. Obwohl schwere Verläufe auch bei Personen ohne Vorerkrankung auftreten und auch bei jüngeren Patienten beobachtet wurden, haben ältere Personen (mit stetig steigendem Risiko für einen schweren Verlauf ab etwa 50 bis 60 Jahren), Männer, Raucher (bei schwacher Evidenz), stark adipöse Menschen, Personen mit bestimmten Vorerkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems (z.B. koronare Herzerkrankung und Bluthochdruck) und der Lunge (z.B. COPD) sowie Patienten mit chronischen Nieren- und Lebererkrankungen, mit Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit), mit einer Krebserkrankung oder mit geschwächtem Immunsystem (z.B. aufgrund einer Erkrankung, die mit einer Immunschwäche einhergeht oder durch Einnahme von Medikamenten, die die Immunabwehr schwächen, wie z.B. Cortison) ein erhöhtes Risiko für schwere Verläufe. Die Erkrankung ist sehr infektiös, und zwar nach Schätzungen beginnend etwa ein bis zwei Tage vor Symptombeginn und endend – bei mild-moderaten Erkrankungen – jedenfalls zehn Tage nach Symptombeginn. Die Übertragung erfolgt hauptsächlich durch die respiratorische Aufnahme virushaltiger Partikel (größere Tröpfchen und kleinere Aerosole), die beim Atmen, Husten, Sprechen und Niesen entstehen. Auch eine Übertragung durch kontaminierte Oberflächen kann nicht ausgeschlossen werden. Es ist zwar offen, wie viele Menschen sich insgesamt in Deutschland mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 infizieren werden. Schätzungen gehen aber von bis zu 70% der Bevölkerung aus, es ist lediglich unklar, über welchen Zeitraum dies geschehen wird. Grundlage dieser Schätzungen ist die so genannte Basisreproduktionszahl von COVID-19. Sie beträgt ohne die Ergreifung von Maßnahmen 3,3 bis 3,8. Dieser Wert kann so interpretiert werden, dass bei einer Basisreproduktionszahl von etwa 3 ungefähr zwei Drittel aller Übertragungen verhindert werden müssen, um die Epidemie unter Kontrolle zu bringen. Die Inkubationszeit beträgt im Mittel fünf bis sechs Tage bei einer Spannweite von einem bis zu 14 Tagen. Der Anteil der Infizierten, der auch tatsächlich erkrankt (Manifestationsindex), beträgt bis zu 85%. Laut der Daten aus dem deutschen Meldesystem werden etwa 14% der in Deutschland dem RKI übermittelten Fälle hospitalisiert. Unter hospitalisierten COVID-19-Patienten mit einer schweren akuten Atemwegserkrankung mussten 37% intensivmedizinisch behandelt und 17% beatmet werden. Die mediane Hospitalisierungsdauer von COVID-19-Patienten mit einer akuten respiratorischen Erkrankung beträgt 10 Tage und von COVID-19-Patienten mit einer Intensivbehandlung 16 Tage. Zur Aufnahme auf die Intensivstation führt im Regelfall Dyspnoe mit erhöhter Atemfrequenz (> 30/min), dabei steht eine Hypoxämie im Vordergrund. Mögliche Verlaufsformen sind die Entwicklung eines akuten Lungenversagens (Acute Respiratory Distress Syndrome – ARDS) sowie, bisher eher seltener, eine bakterielle Koinfektion mit septischem Schock. Weitere beschriebene Komplikationen sind zudem Rhythmusstörungen, eine myokardiale Schädigung sowie das Auftreten eines akuten Nierenversagens (vgl. zum Krankheitsbild im Einzelnen mit weiteren Nachweisen: Kluge/Janssens/Welte/Weber-Carstens/Marx/Karagiannidis, Empfehlungen zur intensivmedizinischen Therapie von Patienten mit COVID-19, in: Medizinische Klinik – Intensivmedizin und Notfallmedizin v. 12.3.2020, veröffentlicht unter: https://link.springer.com/content/pdf/10.1007/s00063-020-00674-3.pdf, Stand: 30.3.2020). Eine Impfung ist in Deutschland nicht verfügbar. Verschiedene spezifische Therapieansätze (direkt antiviral wirksam, immunmodulatorisch wirksam) wurden und werden im Verlauf der Pandemie in Studien untersucht. Zwei Arzneimittel erwiesen sich jeweils in einer bestimmten Gruppe von Patienten mit COVID-19 als wirksam. Als direkt antiviral wirksames Arzneimittel erhielt Remdesivir am 3. Juli 2020 eine bedingte Zulassung zur Anwendung bei schwer erkrankten Patienten durch die Europäische Kommission. Als immunmodulatorisch wirksames Arzneimittel erhielt Dexamethason eine positive Bewertung durch die Europäische Kommission für die Anwendung bei bestimmten Patientengruppen mit einer Infektion durch SARS-CoV-2. Aufgrund der Neuartigkeit des Krankheitsbildes lassen sich keine zuverlässigen Aussagen zu Langzeitauswirkungen und (irreversiblen) Folgeschäden durch die Erkrankung bzw. ihre Behandlung (z.B. in Folge einer Langzeitbeatmung) treffen. Allerdings deuten Studiendaten darauf hin, dass an COVID-19 Erkrankte auch Wochen bzw. Monate nach der akuten Erkrankung noch Symptome aufweisen können.
Während der Fall-Verstorbenen-Anteil bei Erkrankten bis etwa 50 Jahren unter 0,1% liegt, steigt er ab 50 zunehmend an und liegt bei Personen über 80 Jahren häufig über 10% (vgl. zu Vorstehendem im Einzelnen und mit weiteren Nachweisen: RKI, SARS-CoV-2 Steckbrief zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19), veröffentlicht unter: www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html?nn=13490888, Stand: 2.10.2020; Antworten auf häufig gestellte Fragen zum Coronavirus SARS-CoV-2, veröffentlicht unter: www.rki.de/SharedDocs/FAQ/NCOV2019/gesamt.html, Stand: 6.10.2020).
Auch wenn nach diesen Erkenntnissen nur ein kleiner Teil der Erkrankungen schwer verläuft, kann das individuelle Risiko anhand der epidemiologischen und statistischen Daten nicht abgeleitet werden. So kann es auch ohne bekannte Vorerkrankungen und bei jungen Menschen zu schweren bis hin zu lebensbedrohlichen Krankheitsverläufen kommen. Langzeitfolgen, auch nach leichten Verläufen, sind derzeit noch nicht abschätzbar. Die Belastung des Gesundheitssystems hängt maßgeblich von der regionalen Verbreitung der Infektion, den hauptsächlich betroffenen Bevölkerungsgruppen, den vorhandenen Kapazitäten und den eingeleiteten Gegenmaßnahmen ab. Sie ist aktuell in weiten Teilen Deutschlands gering, kann aber örtlich sehr schnell zunehmen und dann insbesondere das öffentliche Gesundheitswesen, aber auch die Einrichtungen für die ambulante und stationäre medizinische Versorgung stark belasten. Deshalb bleiben intensive gesamtgesellschaftliche Gegenmaßnahmen nötig, um die Folgen der COVID-19-Pandemie für Deutschland zu minimieren. Diese Maßnahmen verfolgen weiterhin das Ziel, die Infektionen in Deutschland so früh wie möglich zu erkennen und die weitere Ausbreitung des Virus einzudämmen. Hierdurch soll die Zeit für die Entwicklung von antiviralen Medikamenten und von Impfstoffen gewonnen werden. Auch sollen Belastungsspitzen im Gesundheitswesen vermieden werden (vgl. hierzu im Einzelnen und mit weiteren Nachweisen: RKI, Risikobewertung zu COVID-19, veröffentlicht unter: www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung.html, Stand: 26.10.2020).
Die danach vorliegenden tatbestandlichen Voraussetzungen des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG verpflichten die zuständigen Behörden zum Handeln (gebundene Entscheidung, vgl. BVerwG, Urt. v. 22.3.2012 – BVerwG 3 C 16.11 -, BVerwGE 142, 205, 212 – juris Rn. 23).
Zugleich steht damit fest, dass die Maßnahmen nicht auf die Rechtsgrundlage des § 16 Abs. 1 IfSG gestützt werden können. Denn die Rechtsgrundlagen einerseits des § 16 Abs. 1 IfSG im Vierten Abschnitt des Infektionsschutzgesetzes „Verhütung übertragbarer Krankheiten“ und andererseits des § 28 Abs. 1 IfSG im Fünften Abschnitt des Infektionsschutzgesetzes „Bekämpfung übertragbarer Krankheiten“ stehen in einem Exklusivitätsverhältnis zueinander; der Anwendungsbereich des § 16 Abs. 1 IfSG ist nur eröffnet, solange eine übertragbare Krankheit noch nicht aufgetreten ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.12.1971 – BVerwG I C 60.67 -, BVerwGE 39, 190, 192 f. – juris Rn. 28 (zu §§ 10 Abs. 1, 34 Abs. 1 BSeuchG a.F.); Senatsurt. v. 3.2.2011 – 13 LC 198/08 -, juris Rn. 40).
(bb) Nach summarischer Prüfung erweisen sich die in § 10 Abs. 2 Satz 1 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordnete Sperrzeit und die Untersagung des Außer-Haus-Verkaufs alkoholischer Getränke nach § 10 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung in ihrer konkreten Ausgestaltung aber nicht als notwendige Schutzmaßnahmen im Sinne des § 28 Abs. 1 IfSG.
§ 28 Abs. 1 IfSG liegt die Erwägung zugrunde, dass sich die Bandbreite der Schutzmaßnahmen, die bei Auftreten einer übertragbaren Krankheit in Frage kommen können, nicht im Vorfeld bestimmen lässt. Der Gesetzgeber hat § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG daher als Generalklausel ausgestaltet (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.3.2012 – BVerwG 3 C 16.11 -, BVerwGE 142, 205, 213 – juris Rn. 26 unter Hinweis auf den Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Bundes-Seuchengesetzes, BT-Drs. 8/2468, S. 27 f.). Der Begriff der „Schutzmaßnahmen“ ist folglich umfassend und eröffnet der Infektionsschutzbehörde ein möglichst breites Spektrum geeigneter Maßnahmen (vgl. Senatsbeschl. v. 26.5.2020 – 13 MN 182/20 -, juris Rn. 37; OVG Schleswig-Holstein, Beschl. v. 2.4.2020 – 3 MB 8/20 -, juris Rn. 35). „Schutzmaßnahmen“ im Sinne des § 28 Abs. 1 IfSG können daher auch Untersagungen oder Beschränkungen von unternehmerischen Tätigkeiten in den Bereichen Industrie, Gewerbe, Handel und Dienstleistungen sein (vgl. mit zahlreichen Beispielen und weiteren Nachweisen: Senatsbeschl. v. 29.5.2020 – 13 MN 185/20 -, juris Rn. 27), wie sie in § 10 Abs. 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung gegenüber den Betreiberinnen und Betreibern von Gastronomiebetrieben getroffen worden sind (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 5.5.2020 – OVG 11 S 38/20 -, juris Rn. 26).
Dem steht nicht entgegen, dass § 31 IfSG eine Regelung für die Untersagung beruflicher Tätigkeiten gegenüber Kranken, Krankheitsverdächtigen, Ansteckungsverdächtigen, Ausscheidern und sonstigen Personen trifft. Denn diese Regelung ist gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG („insbesondere die in den §§ 29 bis 31 genannten“) nicht abschließend. Auch die mangelnde Erwähnung der Grundrechte nach Art. 12 Abs. 1 und 14 Abs. 1 GG in § 28 Abs. 1 Satz 4 IfSG steht der dargestellten Auslegung nicht entgegen. Denn das Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG, welches § 28 Abs. 1 Satz 4 IfSG zu erfüllen sucht, besteht nur, soweit im Sinne des Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG „ein Grundrecht durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden kann“. Von derartigen Grundrechtseinschränkungen sind andersartige grundrechtsrelevante Regelungen zu unterscheiden, die der Gesetzgeber in Ausführung der ihm obliegenden, im Grundrecht vorgesehenen Regelungsaufträge, Inhaltsbestimmungen oder Schrankenziehungen vornimmt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 26.5.1970 – 1 BvR 657/68 -, BVerfGE 28, 282, 289 – juris Rn. 26 ff. (zu Art. 5 Abs. 2 GG); Beschl. v. 12.1.1967 – 1 BvR 168/64 -, BVerfGE 21, 92, 93 – juris Rn. 4 (zu Art. 14 GG); Urt. v. 29.7.1959 – 1 BvR 394/58 -, BVerfGE 10, 89, 99 – juris Rn. 41 (zu Art. 2 Abs. 1 GG)). Hierzu zählen auch die Grundrechte der allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG, der Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG und des Eigentumsschutzes nach Art. 14 Abs. 1 GG.
Der weite Kreis möglicher Schutzmaßnahmen wird durch § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG aber dahin begrenzt, dass die Schutzmaßnahme im konkreten Einzelfall „notwendig“ sein muss. Der Staat darf mithin nicht alle Maßnahmen und auch nicht solche Maßnahmen anordnen, die von Einzelnen in Wahrnehmung ihrer Verantwortung gegenüber sich selbst und Dritten bloß als nützlich angesehen werden. Vielmehr dürfen staatliche Behörden nur solche Maßnahmen verbindlich anordnen, die zur Erreichung infektionsschutzrechtlich legitimer Ziele objektiv notwendig sind (vgl. Senatsbeschl. v. 26.5.2020 – 13 MN 182/20 -, juris Rn. 38). Diese Notwendigkeit ist während der Dauer einer angeordneten Maßnahme von der zuständigen Behörde fortlaufend zu überprüfen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 10.4.2020 – 1 BvQ 31/20 -, juris Rn. 16).
Diese objektive Notwendigkeit ist bei summarischer Prüfung für die in § 10 Abs. 2 Satz 1 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordnete Sperrzeit und die Untersagung des Außer-Haus-Verkaufs alkoholischer Getränke nach § 10 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung nicht gegeben.
(α) Dabei stellt der Senat nicht in Abrede, dass die angeordnete Sperrzeit und die Untersagung des Außer-Haus-Verkaufs alkoholischer Getränke grundsätzlich geeignete Mittel sein können, einen Beitrag zur effektiven Eindämmung der Verbreitung von COVID-19 zu leisten, weil sie die Kontaktmöglichkeiten in den Gastronomiebetrieben während des Zeitraums von 23.00 Uhr bis 6.00 Uhr beschränken und verhindern, dass sich wechselnde Gäste oder Gästegruppen zu dieser Zeit in den Einrichtungen einfinden. Zudem werden die Kontaktmöglichkeiten auf dem Weg von und zu gastronomischen Einrichtungen und die erhöhte Attraktivität des öffentlichen Raums bei geschlossenen gastronomischen Einrichtungen reduziert (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 26.10.2020 – 13 B 1581/20.NE -, juris Rn. 54 ff.; Bayerischer VGH, Beschl. v. 19.6.2020 – 20 NE 20.1127 -, juris Rn. 40).
(β) Die angeordnete Sperrzeit und die Untersagung des Außer-Haus-Verkaufs alkoholischer Getränke in ihrer konkreten Ausgestaltung in der Niedersächsischen Corona-Verordnung sind auch unter Berücksichtigung des Einschätzungsspielraums des Verordnungsgebers zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 aber nicht erforderlich (so auch VG Berlin, Beschl. v. 15.10.2020 – 14 L 422/20 -, juris Rn. 20 ff.; a.A. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 26.10.2020 – 13 B 1581/20.NE -, juris Rn. 57 ff. (zu den jeweiligen landesrechtlichen Regelungen)).
(αα) Eine Erforderlichkeit ergibt sich zum einen nicht mit Blick auf die in § 10 Abs. 2 Satz 1 der Niedersächsischen Corona-Verordnung vorgenommene Anknüpfung der Sperrzeit daran, dass die Zahl der Neuinfizierten im Verhältnis zur Bevölkerung 35 oder mehr Fälle je 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner kumulativ in den letzten sieben Tagen beträgt, und die in § 10 Abs. 2 Satz 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung vorgenommene Anknüpfung des Außer-Haus-Verkaufs-Verbots alkoholischer Getränke daran, dass die Zahl der Neuinfizierten im Verhältnis zur Bevölkerung 50 oder mehr Fälle je 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner kumulativ in den letzten sieben Tagen beträgt, mithin nicht aus der Anknüpfung an ein gebietsbezogenes Infektionsgeschehen.
Die Inzidenz von 50 oder mehr Fällen Neuinfizierter je 100.000 Einwohnerinnen und Einwohnern kumulativ in den letzten sieben Tagen nach § 10 Abs. 2 Satz 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung soll die Grenze markieren, bis zu der die öffentliche Gesundheitsverwaltung in Deutschland zu einer Rückverfolgung der Infektionsketten maximal in der Lage ist und so das wichtige und legitime Ziel der Verhinderung der weiteren Ausbreitung durch Fallfindung mit Absonderung von Erkrankten und engen Kontaktpersonen mit einem erhöhten Erkrankungsrisiko noch erreicht werden kann (vgl. Senatsbeschl. v 5.6.2020 – 13 MN 195/20 -, juris Rn. 33). Wird diese Grenze in einem bestimmten Gebiet überschritten, bestehen auch nach dem Dafürhalten des Senats durchaus tatsächliche Anhaltspunkte für ein dynamisches Infektionsgeschehen und eine erhöhte Infektionswahrscheinlichkeit. Dies allein rechtfertigt es aber nicht ohne Weiteres, für alle Personen in einem solchen Gebiet eine einheitliche Gefahrenlage anzunehmen und diesen gegenüber unterschiedslos generalisierende infektionsschutzrechtliche Maßnahmen zu treffen. Vielmehr können vorhandene oder zumutbar zu ermittelnde tatsächliche Erkenntnisse zum Infektionsgeschehen in dem betroffenen Gebiet zu einer differenzierten Betrachtung und zu unterschiedlichen infektionsschutzrechtlichen Maßnahmen zwingen, etwa bei zu lokalisierenden und klar eingrenzbaren Infektionsvorkommen (vgl. Senatsbeschl. v. 15.10.2020 – 13 MN 371/20 -, juris Rn. 59; Bayerischer VGH, Beschl. v. 28.7.2020 – 20 NE 20.1609 -, juris Rn. 45; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 6.7.2020 – 13 B 940/20.NE -, juris Rn. 54 ff.). Von diesem Ansatz geht auch das von der Niedersächsischen Landesregierung erstellte „Handlungskonzept zur Bekämpfung des Infektionsgeschehens in der COVID 19 Pandemie“ (veröffentlicht unter: www.stk.niedersachsen.de/startseite/presseinformationen/vorsorgliches-handlungskonzept-zur-bekampfung-eines-gegebenenfalls-weiter-ansteigenden-infektionsgeschehens-in-der-covid-19-pandemie-193263.html, Stand: 5.10.2020) aus, wenn es ein nicht nur an den Infiziertenzahlen orientiertes Einschreiten vorsieht, sondern eine Einbeziehung weiterer Aspekte (bspw. Inzidenz-Dauer, Alter der Infizierten, Hospitalisierung, externe Effekte, Krankenhauskapazitäten) fordert. Die in § 10 Abs. 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung getroffenen Regelungen setzen diesen zutreffenden und auch gebotenen Ansatz indes in keiner Weise um; sie knüpfen schlicht an eine Inzidenz Neuinfizierter an.
Hinzu kommt für die in § 10 Abs. 2 Satz 1 der Niedersächsischen Corona-Verordnung als Anknüpfungspunkt gewählte Inzidenz von 35 oder mehr Fällen Neuinfizierter je 100.000 Einwohnerinnen und Einwohnern kumulativ in den letzten sieben Tagen, dass der Antragsgegner nicht nachvollziehbar dargestellt hat, auf welchen tatsächlichen infektionsschutzrechtlich relevanten Erkenntnissen diese beruht und in welcher Art und Weise diese eine erhöhte Infektionsgefahr zu dokumentieren vermag.
Unerheblich für die Beurteilung der Erforderlichkeit der abstrakten, landesweit geltenden Regelungen der Niedersächsischen Corona-Verordnung ist, ob die verordneten Maßnahmen aufgrund eines konkreten gebietsbezogenen Infektionsgeschehens, etwa in dem Gebiet, in dem gerade die Antragstellerin ihren Gastronomiebetrieb betreibt, oder aber auch in einem deutlich darüber hinausgehenden Gebiet unter Berücksichtigung der aufgezeigten Umstände für erforderlich erachtet werden könnten.
(ββ) Eine Erforderlichkeit ergibt sich zum anderen auch nicht alternativ daraus, dass in Gastronomiebetrieben, die nach § 4 der Niedersächsischen Corona-Verordnung nur auf der Grundlage eines Hygienekonzepts mit Infektionsschutzmaßnahmen betrieben werden dürfen, gerade in der Zeit zwischen 23.00 Uhr und 6.00 Uhr sowie im Zusammenhang mit dem Außer-Haus-Verkauf alkoholischer Getränke, ein für die Verbreitung von COVID-19 relevantes tätigkeitsbezogenes Infektionsgeschehen festzustellen wäre.
Für den Senat steht nach seiner bisherigen Rechtsprechung außer Zweifel, dass Zusammenkünfte in geschlossenen Räumen, mit einer Vielzahl regelmäßig einander unbekannter Personen und längerer Verweildauer ein signifikant erhöhtes Infektionsrisiko mit sich bringen (vgl. nur Senatsbeschl. v. 24.8.2020 – 13 MN 297/20 -, juris Rn. 30 ff. (Kinos); v. 14.8.2020 – 13 MN 283/20 -, juris Rn. 52 ff. (Feiern mit mehr als 50 Personen); v. 29.6.2020 – 13 MN 244/20 -, juris Rn. 35 (Clubs, Diskotheken und ähnliche Einrichtungen) und v. 14.5.2020 – 13 MN 156/20 -, juris Rn. 31 (Fitnessstudios)). Dies gilt naturgemäß – und wie zahlreichen Medienberichten über konkrete Ausbruchsgeschehen zu entnehmen war – auch für den Aufenthalt zahlreicher Personen in einem Gastronomiebetrieb zum Zwecke des Konsums von Speisen und Getränken. Diese allgemeine Fallgestaltung ist aber nicht Gegenstand der streitgegenständlichen Verordnungsregeln, sondern ausschließlich der Aufenthalt im Gastronomiebetrieb zwischen 23.00 Uhr und 6.00 Uhr sowie der ganztägige Außer-Haus-Verkauf alkoholischer Getränke. Nachvollziehbare Anhaltspunkte dafür, dass in Gastronomietrieben in der Zeit zwischen 23.00 Uhr und 6.00 Uhr sowie im Zusammenhang mit dem Außer-Haus-Verkauf alkoholischer Getränke ein signifikantes Infektionsrisiko gegenüber dem sonstigen gastronomischen Betrieb besteht, hat der Antragsgegner nicht nachvollziehbar aufzuzeigen vermocht.
Belastbare Erkenntnisse gerade hierzu sind auch dem Bericht des RKI zum „Infektionsumfeld von COVID-19-Ausbrüchen in Deutschland“ nicht zu entnehmen. Das RKI konnte in einer „Quellensuche“ (Datenstand: 11. August 2020) von insgesamt 202.225 übermittelten Fällen nur 55.141 Fälle bestimmten Ausbruchsgeschehen zuordnen und feststellen, in welchen von 30 unterschiedlichen, verschiedenste Lebensbereiche erfassenden Infektionsumfeldern sich diese ereignet haben (vgl. RKI, Infektionsumfeld von COVID-19-Ausbrüchen in Deutschland, in: Epidemiologisches Bulletin v. 17.9.2020, S. 3 ff., veröffentlicht unter: https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2020/Ausgaben/38_20.pdf?__blob=publicationFile). Von diesen 55.141 Fällen sind bis zur 29. Meldewoche zwar lediglich 293 Fälle dem Infektionsumfeld der „Speisestätten“ (beinhaltet „Speisestätten, unspezifisch“, „Restaurant, Gaststätte“, „Kantine“ und „Imbiss“) zuzuordnen, d.h. 0,53%. Diese Zahlen finden als solche eine gewisse Bestätigung im Täglichen Lagebericht des RKI zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) vom 27. Oktober 2020 (dort S. 12 f.; veröffentlicht unter: www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Okt_2020/2020-10-27-de.pdf?__blob=publicationFile), wonach dem Infektionsumfeld der „Speisestätten“ auch bis zur 43. Kalenderwoche keine signifikante Anzahl von COVID-19-Fällen zuzuordnen ist. Hieraus kann aber nicht verlässlich geschlossen werden, dass in Gastronomiebetrieben kein signifikantes Infektionsrisiko besteht. Hiergegen spricht schon die sehr hohe Zahl von Fällen, in denen ein Infektionsumfeld gerade nicht festgestellt werden konnte. Dies lässt zwar nicht den Schluss zu, dass – etwa wegen einer mangelhaften Erfüllung der Pflicht zur Kundenkontaktdatenerhebung (vgl. § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 der Niedersächsischen Corona-Verordnung) – diese sehr hohe Zahl von Fällen dem gastronomischen Bereich überwiegend oder gar ganz zuzurechnen wäre. Es mindert aber den Erkenntniswert der zahlenmäßig festgestellten Infektionsumfelder ganz erheblich.
(γγ) Die angeordnete Untersagung des Außer-Haus-Verkaufs alkoholischer Getränke nach § 10 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung ist darüber hinaus auch deshalb nicht zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 erforderlich, weil infektionsschutzrechtlich gleich effektive, die Antragstellerin aber geringer belastende, sogenannte „mildere Mittel“ zur Verfügung stehen (vgl. hierzu Hessischer VGH, Beschl. v. 23.10.2020 – 6 B 2551/20 -, juris Rn. 30 f.). Hier sind insbesondere zeitliche Beschränkungen, wie bei der Sperrzeit, oder reine Konsumverbote, wie sie als regelungsteil in § 6 Abs. 5 bis 8 der Niedersächsischen Corona-Verordnung bereits vorgesehen sind, in den Blick zu nehmen.
(γ) Die angeordnete Sperrzeit und die Untersagung des Außer-Haus-Verkaufs alkoholischer Getränke sind in ihrer konkreten Ausgestaltung in der Niedersächsischen Corona-Verordnung zur Erreichung des legitimen Ziels der Verhinderung der weiteren Ausbreitung von COVID-19 auch nicht angemessen.
Die streitgegenständlichen Regelungen in § 10 Abs. 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung bewirken schon deshalb einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit der betroffenen Betreiberinnen und Betreiber von Gastronomiebetrieben, weil sie nicht erforderlich sind (siehe im Einzelnen oben (β)).
Die Untersagung des – gegenüber der Sperrzeit zeitlich unbegrenzten – Außer-Haus-Verkaufs alkoholischer Getränke nach § 10 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung bewirkt zudem eine Ungleichbehandlung gegenüber nicht gastronomischen Betrieben, denen ein Außer-Haus-Verkauf alkoholischer Getränke nicht untersagt worden ist, ohne dass hierfür derzeit eine sachliche Rechtfertigung erkennbar ist.
b. Gewichtige Belange der Antragstellerin überwiegen auch die für den weiteren Vollzug der Verordnung bis zu einer Entscheidung in einem Hauptsacheverfahren sprechenden Gründe.
Dabei erlangen die erörterten Erfolgsaussichten des in der Hauptsache gestellten oder zu stellenden Normenkontrollantrags eine umso größere Bedeutung für die Entscheidung im Normenkontrolleilverfahren, je kürzer die Geltungsdauer der in der Hauptsache angegriffenen Normen befristet und je geringer damit die Wahrscheinlichkeit ist, dass eine Entscheidung über den Normenkontrollantrag in der Hauptsache noch vor dem Außerkrafttreten der Normen ergehen kann. Das muss insbesondere dann gelten, wenn die angegriffene Norm erhebliche Grundrechtseingriffe bewirkt, sodass sich das Normenkontrolleilverfahren (ausnahmsweise) als zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG geboten erweist (vgl. Senatsbeschl. v. 11.5.2020 – 13 MN 143/20 -, juris Rn. 36; Bayerischer VGH, Beschl. v. 30.3.2020 – 20 NE 20.632 -, juris Rn. 31).
Schon danach wiegt das Interesse der Antragstellerin an einer einstweiligen Außervollzugsetzung der sie betreffenden Regelungen der Verordnung schwer. Dieses Gewicht wird verstärkt durch die ersichtlich gravierenden wirtschaftlichen Auswirkungen der verordneten Regelungen für die betroffenen Betreiberinnen und Betreiber von Gastronomiebetrieben.
Den so beschriebenen und gewichteten Aussetzungsinteressen stehen keine derart schwerwiegenden öffentlichen Interessen gegenüber, dass eine Außervollzugsetzung der voraussichtlich rechtswidrigen Regelungen im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes unterbleiben müsste. Der Senat sieht keine Anhaltspunkte dafür, dass die angeordnete Sperrzeit und die Untersagung des Außer-Haus-Verkaufs alkoholischer Getränke in ihrer konkreten Ausgestaltung in der Niedersächsischen Corona-Verordnung ein wesentlicher Baustein in der Strategie der Pandemiebekämpfung des Antragsgegners ist. Dem Antragsgegner bleibt es zudem unbenommen, zur Bekämpfung signifikanter Infektionsgeschehen erforderliche Beschränkungen zu verordnen, wenn hierfür eine objektive Notwendigkeit besteht.
3. Die vorläufige Außervollzugsetzung wirkt nicht nur zugunsten der Antragstellerin in diesem Verfahren; sie ist allgemeinverbindlich (vgl. Senatsbeschl. v. 28.8.2020 – 13 MN 307/20 -, juris Rn. 36; Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 7. Aufl. 2017, Rn. 611). Der Antragsgegner hat die hierauf bezogene Entscheidungsformel in entsprechender Anwendung des § 47 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 VwGO unverzüglich im Niedersächsischen Gesetz- und Verordnungsblatt zu veröffentlichen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG. Es entspricht der Praxis des Senats, in Normenkontrollverfahren in der Hauptsache nach § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO grundsätzlich den doppelten Auffangwert im Sinne des § 52 Abs. 2 GKG, mithin 10.000 EUR, als Streitwert anzusetzen (vgl. Senatsbeschl. v. 31.1.2019 – 13 KN 510/18 -, Nds. Rpfl. 2019, 130 f. – juris Rn. 29). Dieser Streitwert ist für das Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nach § 47 Abs. 6 VwGO zu halbieren.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5 in Verbindung mit 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).