Gericht entscheidet: Wer haftet bei einem berührungslosen Unfall?
Das OLG Celle hat entschieden, dass bei einem berührungslosen Verkehrsunfall die Haftungsverteilung zu 40 % bei den Beklagten liegt. Der Kläger, ein Motorradfahrer, stürzte infolge einer riskanten Fahrbewegung der Beklagten, obwohl es zu keiner direkten Kollision kam. Der Fall betont die Wichtigkeit der Verkehrssicherheit und die Verantwortung aller Verkehrsteilnehmer, Unfälle zu vermeiden.
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✔ Das Wichtigste in Kürze
Die zentralen Punkte aus dem Urteil:
- Berührungsloser Unfall: Der Motorradfahrer stürzte, ohne dass es zu einer Kollision kam.
- Haftungsquote: Die Beklagten tragen 40 % der Haftung für den Unfall.
- Beweislast: Der Kläger konnte nachweisen, dass die Beklagte durch ihr Fahrverhalten zum Unfall beitrug.
- Risikoreiches Überholen: Die Beklagte zu 1. führte ein riskantes Überholmanöver aus, das zur Gefährdung führte.
- Kein ABS beim Motorrad: Der Kläger verlor aufgrund des fehlenden ABS die Kontrolle.
- Schadensersatzansprüche: Der Kläger hat Anspruch auf Ersatz materieller und immaterieller Schäden.
- Gutachten und Zeugenaussagen: Wichtige Beweismittel, die zur Urteilsfindung beitrugen.
- Verkehrssicherheit: Das Urteil unterstreicht die Verantwortung jedes Verkehrsteilnehmers zur Vermeidung von Unfällen.
Übersicht:
- Gericht entscheidet: Wer haftet bei einem berührungslosen Unfall?
- ✔ Das Wichtigste in Kürze
- Haftungsfragen bei berührungslosen Verkehrsunfällen
- Haftungsverteilung bei berührungslosem Unfall – Urteil des OLG Celle
- Der Unfallhergang und die erste juristische Auseinandersetzung
- Entscheidung des Landgerichts und die Berufung
- Urteil des OLG Celle: Neue Perspektiven in der Haftungsfrage
- Schlussbetrachtung und Ausblick auf das nachfolgende konkrete Urteil
- ✔ Wichtige Begriffe kurz erklärt
- Das vorliegende Urteil
Haftungsfragen bei berührungslosen Verkehrsunfällen
Das Thema Haftungsverteilung in Verkehrsunfällen, insbesondere bei berührungslosen Unfällen, stellt eine besondere Herausforderung im deutschen Verkehrsrecht dar. Es geht hier um Situationen, in denen ein Unfall ohne direkte Kollision zwischen den beteiligten Fahrzeugen geschieht. Die rechtliche Bewertung solcher Fälle erfordert eine detaillierte Betrachtung der Umstände und des Verhaltens der beteiligten Verkehrsteilnehmer. Die Feststellung der Schuld und somit der Schadensersatzansprüche basiert auf einer sorgfältigen Analyse der Ereignisse und der jeweiligen Verkehrssituation.
Das OLG Celle hat in einem kürzlich gefällten Urteil wichtige Präzedenzfälle in Bezug auf die Haftungsverteilung bei berührungslosen Unfällen geschaffen. Diese Urteile sind nicht nur für Juristen und Verkehrsteilnehmer von Bedeutung, sondern werfen auch ein Licht auf die Feinheiten und Komplexitäten des Verkehrsrechts. Im Folgenden wird ein konkretes Urteil beleuchtet, das Einblicke in die rechtlichen Überlegungen und Entscheidungsfindungsprozesse bietet, die solche Fälle mit sich bringen. Tauchen Sie ein in die Welt des Verkehrsrechts, um zu verstehen, wie Gerichte die Verantwortung bei berührungslosen Unfällen zuweisen.
Haftungsverteilung bei berührungslosem Unfall – Urteil des OLG Celle
Am 13. Dezember 2023 fällte das Oberlandesgericht (OLG) Celle ein bemerkenswertes Urteil zur Haftungsverteilung bei einem berührungslosen Unfall. Im Kern drehte sich der Fall um einen Motorradfahrer, der aufgrund eines Ausweichmanövers stürzte, ohne dass es zu einer direkten Kollision mit einem anderen Fahrzeug kam. Dieses Urteil wirft ein Licht auf die komplexe Rechtslage bei berührungslosen Unfällen und deren Auswirkungen auf die Haftungsfrage.
Der Unfallhergang und die erste juristische Auseinandersetzung
Der Kläger, ein Motorradfahrer, befuhr am 31. März 2021 zusammen mit seinem Sohn eine Straße, als ein entgegenkommendes Fahrzeug, geführt von der Beklagten zu 1, aufgrund eines blockierenden Müllwagens auf ihre Fahrbahn wechselte. Um eine Kollision zu vermeiden, bremste der Kläger stark ab, verlor die Kontrolle über sein Motorrad und stürzte. Dabei erlitt er erhebliche Verletzungen. Der Kläger forderte daraufhin von der Beklagten, vertreten durch ihre Haftpflichtversicherung, die Anerkennung der vollständigen Haftung, was jedoch abgelehnt wurde.
Entscheidung des Landgerichts und die Berufung
Das Landgericht wies die Klage ab, indem es feststellte, dass der Kläger den Unfall durch eine übermäßige Reaktion selbst verschuldet habe. Der Kläger legte gegen dieses Urteil Berufung ein, argumentierend, dass die Beklagte zu 1 durch ihr riskantes Überholmanöver die Haftung trage.
Urteil des OLG Celle: Neue Perspektiven in der Haftungsfrage
Das OLG Celle revidierte das Urteil des Landgerichts teilweise und legte fest, dass die Beklagten in Höhe von 40 % haftbar sind. Dieses Urteil betont die Verantwortung aller Verkehrsteilnehmer, selbst wenn keine direkte Kollision stattfindet. Das Gericht erkannte an, dass das Manöver der Beklagten zu 1 riskant war und den Kläger zu einer Notbremsung zwang, die seinen Sturz zur Folge hatte.
Schlussbetrachtung und Ausblick auf das nachfolgende konkrete Urteil
Das Urteil des OLG Celle setzt einen bedeutsamen Akzent in der Rechtsprechung zu berührungslosen Unfällen und deren Haftungsverteilung. Es zeigt, dass auch bei Unfällen ohne direkte Kollision eine Haftung entstehen kann, und betont die Notwendigkeit eines umsichtigen Fahrverhaltens aller Verkehrsteilnehmer. Die Entscheidung ist wegweisend und könnte in ähnlichen Fällen als Referenz dienen. Ein präziser Blick auf das Urteil und seine Begründung offenbart die komplexe Natur solcher Rechtsfragen und deren Auswirkungen auf zukünftige Fälle.
✔ Wichtige Begriffe kurz erklärt
Wie wird die Haftungsverteilung bei einem berührungslosen Unfall rechtlich bewertet?
Die Haftungsverteilung bei einem berührungslosen Unfall wird rechtlich auf der Grundlage verschiedener Faktoren bewertet. Ein berührungsloser Unfall bezieht sich auf eine Situation, in der ein Schadenereignis im Straßenverkehr eintritt, bei dem ein Kraftfahrzeug beteiligt ist, ohne dass es zu einer Kollision kommt.
Eine grundlegende Voraussetzung für die Zurechnung des Betriebs eines Kraftfahrzeugs zu einem schädigenden Ereignis bei einem berührungslosen Unfall ist, dass das Fahrzeug über seine bloße Anwesenheit an der Unfallstelle hinaus durch seine Fahrweise oder sonstige Verkehrsbeeinflussung zu der Entstehung des Schadens beigetragen hat. Es reicht also nicht aus, dass ein Fahrzeug nur am Unfallort anwesend war. Es muss das Verhalten des Geschädigten in irgendeiner Form beeinflusst haben.
Typischerweise handelt es sich bei berührungslosen Unfällen um Ausweich- und Abwehrreaktionen in wirklichen oder mutmaßlichen Bedrohungssituationen. Für die Zurechnung ist entscheidend, ob konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Geschädigte auf eine bestimmte Fahrweise eines anderen Verkehrsteilnehmers reagiert hat.
In Fällen, in denen beide Parteien ein Verschulden des jeweils anderen Fahrers nicht nachweisen können, kann von einer Haftungsverteilung von 50:50 ausgegangen werden.
Es ist zu beachten, dass die Rechtsprechung den Anscheinsbeweis in Fällen berührungsloser Unfälle nur zurückhaltend anwendet, insbesondere wenn es um den Zurechnungszusammenhang geht.
Die genaue Haftungsverteilung kann jedoch von Fall zu Fall variieren und hängt von den spezifischen Umständen des jeweiligen Unfalls ab. Daher ist es ratsam, rechtlichen Rat einzuholen, um die spezifischen Details eines berührungslosen Unfalls zu klären.
Das vorliegende Urteil
OLG Celle – Az.: 14 U 32/23 – Urteil vom 13.12.2023
1. Auf die Berufung des Klägers wird das am 22. Februar 2023 verkündete Urteil der Einzelrichterin der 1a – Zivilkammer des Landgerichts Verden – 1a O 104/21 – wie folgt abgeändert:
Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem Kläger sämtlichen vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen, materiellen und immateriellen Schaden aus dem Verkehrsunfall vom 31. März 2021 auf der B. Straße in H. zu 40 % zu ersetzen, soweit der Anspruch nicht auf Dritte übergegangen ist oder noch übergeht.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen.
2. Die Kosten des Rechtsstreits tragen der Kläger zu 60 Prozent und die Beklagten als Gesamtschuldner zu 40 Prozent.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Parteien können die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die jeweils andere Partei vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 120 % des zu vollstreckbaren Betrages leistet.
4. Die Revision wird zugelassen.
5. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf bis zu 7.000,00 € festgesetzt.
Gründe
I.
Der Kläger begehrt die Feststellung, dass die Beklagten zur Zahlung von materiellen und immateriellen Schadensersatz nach einem Verkehrsunfall verpflichtet sind, bei dem er mit seinem Motorrad stürzte und verletzt wurde.
Der Kläger befuhr am 31. März 2021 mit seinem Motorrad in Begleitung seines Sohnes, dem Zeugen A., auf dessen Motorrad die B. Straße (L …) in Richtung H. Vor dem Kläger und seinem Sohn befuhr der Zeuge A1 mit seinem PKW die B. Straße in gleicher Richtung. Die aus Fahrtrichtung des Klägers gesehene Gegenfahrbahn, die die Beklagte zu 1. mit dem bei der Beklagten zu 2. haftpflichtversicherten Fahrzeug der Marke Mercedes befuhr, war im Kurvenverlauf durch einen Müllwagen blockiert, der zu diesem Zeitpunkt von Mitarbeitern des Abfallservice O. GmbH mit gelben Säcken beladen wurde. Die Beklagte zu 1. versuchte, an dem Müllwagen vorbei zu fahren, und wechselte hierzu auf die Fahrbahn des Klägers und des vor ihm fahrenden Zeugen A1. Der Zeuge A1 bremste sein Fahrzeug stark ab, um eine Kollision mit der Beklagten zu 1., die sich noch auf der Fahrbahn des Zeugen befand, zu vermeiden. Auch der Kläger, dessen Motorrad über kein ABS verfügte, machte eine Vollbremsung, geriet dabei ins Rutschen und stürzte. Die Fahrzeuge des Klägers und des Zeugen A1 kollidierten nicht. Der hinter dem Kläger fahrende Zeuge A. konnte sein Motorrad abbremsen, ohne selbst zu stürzen. Die Beklagte zu 1. wendete ihr Fahrzeug bei der nächsten Gelegenheit und fuhr zur Unfallstelle zurück. Die zugelassene Höchstgeschwindigkeit beträgt am Unfallort 70 km/h. Der Kläger, der vom Unfallort mit dem Rettungshubschrauber ins Krankhaus transportiert wurde, erlitt durch den Sturz eine Schulterblattfraktur links, eine Lungenkontusion sowie eine Schürfwunde am linken Knie. Er war infolgedessen bis zum 25. Mai 2021 arbeitsunfähig krankgeschrieben. Mit Schreiben seines Prozessbevollmächtigten vom 08. Juni 2021 forderte der Kläger die Beklagte zu 2. auf, ihre Haftung aus dem Unfallgeschehen vollständig dem Grunde nach anzuerkennen. Die Beklagte zu 2. lehnte jegliche Haftung ab.
Der Kläger hat behauptet, er habe zum Fahrzeug des Zeugen A1 einen ausreichenden Sicherheitsabstand eingehalten. Er sei vor dem Sturz nicht schneller als 70 km/h gefahren. Er sei mit seinem Motorrad gestürzt, weil die Beklagte zu 1. Anlass für seine und die Vollbremsung des Zeugen A1 gegeben habe. Der Kläger war der Ansicht, dass der Unfall für ihn – auch aufgrund des fehlenden ABS – unvermeidbar gewesen sei. Ferner sei sein Motorrad durch den Sturz beschädigt worden und dieser Sachschaden betrage 2.750,00 €. Darüber hinaus seien weitere Kosten für das außergerichtliche Schadensgutachten in Höhe von 698,95 € sowie eine Kostenpauschale von 25 € angefallen. Die Heilbehandlungen des Klägers seien noch nicht abgeschlossen, wie sich aus dem ärztlichen Attest vom 19. Mai 2021 ergebe. Er könne daher seine – materiellen wie auch immateriellen – Schäden nicht abschließend beziffern, so dass ein Feststellungsinteresse bestehe.
Die Beklagten haben behauptet, der Kläger habe bereits zum Fahrzeug des Zeugen A1 keinen ausreichenden Sicherheitsabstand eingehalten und darüber hinaus die zugelassene Höchstgeschwindigkeit überschritten. Die Beklagte zu 1. habe ohne Komplikationen an dem Müllwagen vorbeifahren können. Der Kläger habe daher seinen Sturz durch einen Bremsfehler und das Überschreiten der zulässigen Geschwindigkeit allein verursacht. Eine Haftung der Beklagten bestünde nicht. Zudem bestehe bereits kein Feststellunginteresse. Die Behandlungen des Klägers seien abgeschlossen, so dass ihm eine Bezifferung seiner Schäden möglich gewesen wäre.
Mit dem am 22. Februar 2023 verkündeten Urteil, auf das gemäß § 540 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 ZPO hinsichtlich der tatsächlichen Feststellungen, des Vorbringens der Parteien im Einzelnen und der erstinstanzlichen Anträge Bezug genommen wird, hat das Landgericht nach informatorischer Anhörung der Parteien sowie Beweiserhebung durch Einholung eines Sachverständigengutachtens zum Unfallhergang durch den Sachverständigen Dipl.-Ing. O. sowie Vernehmung der Zeugen S., A. und A1 die Klage abgewiesen. Die Feststellungsklage sei zwar zulässig, aber in der Sache unbegründet. Der Kläger habe den Sturz seines Motorrades allein verschuldet. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme sei nicht erwiesen, dass die Beklagte zu 1. risikoreich „überholt“ habe. Eine Gefährdung der anderen Verkehrsteilnehmer durch den Überholvorgang der Beklagten zu 1. sei nicht festzustellen. Nach Würdigung der Angaben der Parteien und der Zeugenaussagen ließe sich zwar weder ein risikoreiches Überholen der Beklagten zu 1. noch ein zu geringer Abstand des Klägers auf das Fahrzeug des Zeugen A1 sicher nachweisen. Es bestünden aber Indizien für ein zu dichtes Auffahren, die sich aus den Schilderungen der Zeugen A. und A1 ergeben würden. Nach Würdigung des Gutachtens lasse sich feststellen, dass durch das Tätigen des Handbremshebels das Vorderrad blockiert und dadurch das Motorrad Stabilität verloren habe. Infolgedessen sei das Motorrad weggerutscht und der Kläger gestürzt. Nach den Ausführungen des Sachverständigen Dipl.-Ing. O. sei jedoch keine zeitliche Kopplung zwischen der Bewegung des Motorrades und dem Fahrzeug des Zeugen A. herstellbar. Der Kläger habe damit den Nachweis der Unvermeidbarkeit nicht geführt. Vielmehr sei aufgrund der Ausführungen des Sachverständigen festzustellen, dass der Kläger den Unfall hätte vermeiden können, wenn er kontrolliert gebremst hätte. Der entstandene Schaden sei ihm daher selbst zuzurechnen.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung des Klägers. Er verfolgt sein erstinstanzliches Klageziel unter Wiederholung und Vertiefung des ursprünglichen Vortrags weiter. Der Beklagten zu 1. sei ein Verschulden an dem Unfallgeschehen des Klägers anzulasten. Zudem hafte sie bereits mit der Betriebsgefahr ihres Fahrzeuges. Entgegen den Ausführungen des Landgerichts stünde fest, dass die Beklagte zu 1. den Zeugen A. durch ihr Fahrmanöver zu einer Vollbremsung gezwungen habe. Daher habe wiederum der Kläger stark abbremsen müssen und die Kontrolle über sein Motorrad verloren. Der Zeuge A. und der Kläger seien durch die Beklagte zu 1. zum Abbremsen veranlasst worden und das allein sei für eine Haftung der Beklagten aus der Betriebsgefahr ausreichend.
Der Kläger beantragt, das Urteil des Landgerichts Verden 22. Februar 2023, Az. 1a O 104/21, zugestellt am 23. Februar 2023 aufzuheben und festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem Kläger sämtlichen vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen materiellen und immateriellen Schaden aus dem Verkehrsunfall vom 31. März 2021 gegen 12:50 Uhr auf der B. Straße in H. auf Basis einer 100 %-Haftung zu Lasten der Beklagten zu ersetzen, soweit der Anspruch nicht auf Dritte übergegangen ist oder noch übergeht.
Die Beklagten beantragen, die Berufung des Klägers zurückzuweisen.
Sie verteidigen das angefochtene Urteil. Ein Verschulden der Beklagten zu 1. sei bereits nicht nachgewiesen. Tatsächlich habe jedoch der Kläger durch den weitaus zu geringen Sicherheitsabstand die Ursache für den Verkehrsunfall gesetzt. Es sei nicht bewiesen, dass sich die Betriebsgefahr des Fahrzeugs der Beklagten ausgewirkt habe. Vielmehr sei im Ergebnis offengeblieben, warum der Kläger stark bremsen musste und dann, ohne auf den Pkw des Zeugen A1 aufzufahren, rechts von der Fahrbahn abkam.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach-und Streitstands wird Bezug genommen auf den vorgetragenen Inhalt der gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung vor dem Senat vom 7. November 2023 (Bl. 289 ff. d.A.). Die Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft Verden zum Aktenzeichen 565 Js 20262/21 hat der Senat beigezogen.
II.
1.
Die Berufung des Klägers ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben und begründet worden. Die Feststellungsklage ist zulässig; das nach § 256 ZPO erforderliche Feststellungsinteresse ist gegeben.
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist eine Klage auf Feststellung der Verpflichtung zum Ersatz bereits eingetretener und künftiger Schäden zulässig, wenn die Möglichkeit eines Schadenseintritts besteht. Ein Feststellungsinteresse ist nur zu verneinen, wenn aus der Sicht des Geschädigten bei verständiger Würdigung kein Grund gegeben ist, mit dem Eintritt eines Schadens wenigstens zu rechnen (Senat, Urteil vom 24. August 2022 – 14 U 22/22, Rn. 62, juris, mwN). Zwar ist eine auf Feststellung des Anspruchsgrundes gerichtete Klage unzulässig, wenn dem Kläger eine Klage auf Leistung möglich und zumutbar ist und diese das Rechtsschutzziel erschöpft, weil er im Sinne einer besseren Rechtsschutzmöglichkeit den Streitstoff in einem Prozess klären kann. Es ist anerkannt, dass der Kläger grundsätzlich nicht gehalten ist, seine Klage in eine Leistungs- und in eine Feststellungsklage aufzuspalten, wenn bei Klageerhebung ein Teil des Schadens schon entstanden, die Entstehung weiteren Schadens aber noch zu erwarten ist (BGH, Urteil vom 19. April 2016 – VI ZR 506/14, Rn. 6, juris). Ein solcher Fall liegt hier vor, da die Behandlungskosten und das Schmerzensgeld im Zeitpunkt der Klageerhebung nicht abschließend bezifferbar waren und es daher insoweit an der Zumutbarkeit der Erhebung einer Leistungsklage fehlte (vgl. BGH, Urteil vom 19. Dezember 2018 – IV ZR 255/17 -, juris Rn. 19 f.). Die in Folge der gesundheitlichen Beeinträchtigung notwendig gewordenen Behandlungen des Klägers waren zum Zeitpunkt der Klageerhebung am 09. Juni 2021 nicht vollständig abschlossen, wie sich zu der Überzeugung des Senats aus dem ärztlichen Attest vom 19. Mai 2021 (Bl. 13 d.A.) ergibt. Dass hierdurch auch materielle Schäden, wie z. B. Fahrtkosten oder Behandlungskosten, entstehen können, steht außer Zweifel. Auch weitere immaterielle Schäden können nicht ausgeschlossen werden, wenn der Krankheits- und Behandlungs- und Leidensverlauf offen sind. Ist eine Feststellungsklage gemäß § 256 ZPO – wie hier – in zulässiger Weise erhoben worden, braucht ein Kläger auch nicht nachträglich zur Leistungsklage überzugehen, wenn diese im Laufe des Rechtsstreits möglich wird (BGH, Urteil vom 19. Dezember 2018 – IV ZR 255/17, Rn. 21, juris).
2.
Die Berufung ist teilweise begründet, im Übrigen ist sie unbegründet.
Begründet ist ein Feststellungsantrag, wenn die sachlichen und rechtlichen Voraussetzungen eines Schadensersatzanspruchs vorliegen, also ein haftungsrechtlich relevanter Eingriff gegeben ist, der zu möglichen künftigen Schäden führen kann (BGH, Urteil vom 17. Oktober 2017 – VI ZR 423/16, juris).
Anders als das Landgericht angenommen hat, haften die Beklagten dem Kläger aus dem streitgegenständlichen Verkehrsunfall mit einer Haftungsquote von 40 %. Der Kläger hat gegen die Beklagten als Gesamtschuldner einen Schadensersatzanspruch gemäß § 7 Abs. 1, § 18 Abs. 1, § 17 Abs. 1 u. 2 StVG, § 823 Abs. 1, §§ 421, 249 ff. BGB i. V. m. § 115 Abs. 1 VVG.
Er kann hieraus die Feststellung gemäß § 256 Abs. 1 ZPO verlangen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner in Höhe von 40 % für das Unfallereignis vom 31. März 2021 haften.Auf dieser Grundlage war über den Feststellungsantrag zu entscheiden. Die Berufung des Klägers ist insoweit begründet.
a) Ein Anspruch aus § 7 Abs. 1 StVG besteht. Der Unfall ist nicht auf höhere Gewalt im Sinne des § 7 Abs. 2 StVG zurückzuführen und die Rechtsgüter des Klägers sind „beim Betrieb des Kraftfahrzeugs“ der Beklagten zu 1. verletzt worden. Obwohl es nicht zu einer Berührung zwischen dem Motorrad des Klägers und dem Fahrzeug der Beklagten zu 1. kam, sondern der Kläger vielmehr berührungslos stürzte, besteht der notwendige Zurechnungszusammenhang zwischen dem Betrieb des Kraftfahrzeugs der Beklagten zu 1. und den Verletzungen des Klägers und den Beschädigungen an seinem Motorrad.
aa) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist das Haftungsmerkmal „bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeugs“ entsprechend dem umfassenden Schutzzweck der Norm weit auszulegen (vgl. BGH, Urteil vom 26. März 2019 – VI ZR 236/18, NJW 2019, 2227, Rn. 8 mwN). Denn die Haftung nach § 7 Abs. 1 StVG ist der Preis dafür, dass durch die Verwendung eines Kraftfahrzeugs erlaubterweise eine Gefahrenquelle eröffnet wird; die Vorschrift will daher alle durch den Kraftfahrzeugverkehr beeinflussten Schadensabläufe erfassen. Ein Schaden ist demgemäß bereits dann „bei dem Betrieb“ eines Kraftfahrzeugs entstanden, wenn sich in ihm die von dem Kraftfahrzeug ausgehenden Gefahren ausgewirkt haben, d.h. wenn bei der insoweit gebotenen wertenden Betrachtung das Schadensgeschehen durch das Kraftfahrzeug (mit)geprägt worden ist (vgl. BGH, Urteile vom 24. März 2015 – VI ZR 265/14, NJW 2015, 1681 Rn. 5; vom 21. Januar 2014 – VI ZR 253/13, BGHZ 199, 377 Rn. 5; vom 31. Januar 2012 – VI ZR 43/11, BGHZ 192, 261 Rn. 17). Erforderlich ist aber stets, dass es sich bei dem Schaden, für den Ersatz verlangt wird, um eine Auswirkung derjenigen Gefahren handelt, hinsichtlich derer der Verkehr nach dem Sinn der Haftungsvorschrift schadlos gehalten werden soll, d.h. die Schadensfolge muss in den Bereich der Gefahren fallen, um derentwillen die Rechtsnorm erlassen worden ist (BGH, Urteile vom 24. März 2015 – VI ZR 265/14, NJW 2015, 1681 Rn. 5; vom 21. Januar 2014 – VI ZR 253/13, BGHZ 199, 377 Rn. 5; vom 31. Januar 2012 – VI ZR 43/11, BGHZ 192, 261 Rn. 17).
Für die Zurechnung der Betriebsgefahr kommt es damit maßgeblich darauf an, dass die Schadensursache in einem nahen örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit einem bestimmten Betriebsvorgang oder einer bestimmten Betriebseinrichtung des Kraftfahrzeugs steht (vgl. BGH, Urteile vom 24. März 2015 – VI ZR 265/14, NJW 2015, 1681 Rn. 5; vom 21. Januar 2014 – VI ZR 253/13, BGHZ 199, 377 Rn. 5; vom 26. Februar 2013 – VI ZR 116/12, NJW 2013, 1679 Rn. 15; vom 13. Juli 1982 – VI ZR 113/81, NJW 1982, 2669; Senat, Urteil vom 20. November 2019 – 14 U 172/18, DAR 2020, 26, juris-Rn. 7).
Auf eine Berührung der beteiligten Kraftfahrzeuge oder sonstigen Unfallbeteiligten kommt es daher gleichfalls nicht wesentlich an. Bei einem berührungslosen Unfall ist Voraussetzung für die Zurechnung des Betriebs eines Kraftfahrzeugs zu einem schädigenden Ereignis, dass es über seine bloße Anwesenheit an der Unfallstelle hinaus durch seine Fahrweise oder sonstige Verkehrsbeeinflussung zu der Entstehung des Schadens beigetragen hat (BGH, Urteil vom 22. November 2016 – VI ZR 533/15, VersR 2017, 311 ff.; Senat, Urteil vom 15. Mai 2018 – 14 U 175/17, ZfS 2019, 16).
Die Haftung nach § 7 Abs. 1 StVG entfällt erst, wenn die Fortbewegungs- und Transportfunktion des Kraftfahrzeugs keine Rolle mehr spielt oder bei Schäden, in denen sich eine Gefahr aus einem gegenüber der Betriebsgefahr eigenständigen Gefahrenkreis verwirklicht hat (BGH, Urteil vom 24. März 2015 – VI ZR 265/14, Rn. 6, juris; ebenso nach Maßgabe des Unionsrechts EuGH, Urteil vom 28. November 2017 – C-514/16, VersR 2018, 156). Das ist vorliegend nicht der Fall.
bb) Ausgehend von diesen Grundsätzen steht fest, dass das Fahrzeug der Beklagtenseite den Unfall des Klägers mitgeprägt hat.
Die Beklagte zu 1. hat durch das unstreitige Vorbeifahren an dem Müllwagen und Einfahren in die Gegenfahrbahn einen schuldhaften Verursachungsbeitrag gesetzt. Hätte die Beklagte den auf ihrer Spur haltenden Müllwagen nicht unter Verstoß gegen § 6 Satz 1 StVO (dazu nachfolgend unter cc)) auf der Fahrbahnseite des Klägers und des Zeugen A1 umfahren, hätte es keiner Vollbremsung des Gegenverkehrs bedurft. Es besteht danach ein adäquater Ursachenzusammenhang. Ohne das Verhalten der Beklagten zu 1. wäre es nicht zu der nachfolgenden Vollbremsung und dem Sturz des Klägers gekommen.
Auf die Frage, ob der Kläger insbesondere durch stetiges kontrolliertes Bremsen den Sturz hätte vermeiden können, kommt es an dieser Stelle zur Bejahung des Zurechnungszusammenhanges nicht an (vgl. BGH, Urteil vom 21. September 2010 – VI ZR 263/09, Rn. 6, juris).Denn auch objektiv nicht erforderliche Abwehr- oder Ausweichreaktionen können dem Betrieb des Kraftfahrzeugs zugerechnet werden, das diese Reaktionen ausgelöst hat (vgl. BGH, Urteil vom 21. September 2010 – VI ZR 263/09, Rn. 6, juris).
cc) Der streitgegenständliche Verkehrsunfall war weder für den Kläger noch für die Beklagte zu 1. unabwendbar im Sinne von § 17 Abs. 3 StVG.
Ein unabwendbares Ereignis im Sinne der vorgenannten Norm ist ein schadensstiftendes Ereignis, das auch bei der äußersten möglichen Sorgfalt nicht abgewendet werden kann. Hierzu gehört jedoch ein sachgemäßes, geistesgegenwärtiges Handeln erheblich über den Maßstab der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt im Sinne von § 276 BGB hinaus (BGH, Urteil vom 23. September 1986 – VI ZR 136/85, Rn. 8, juris; Senat, Urteil vom 22. Januar 2020 – 14 U 150/19, Rn. 48, juris). Der Fahrer, der mit Erfolg die Unabwendbarkeit des Unfalls geltend machen will, muss sich wie ein „Idealfahrer” verhalten haben (BGH, Urteil vom 28. Mai 1985 – VI ZR 258/83, juris). Die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen eines unabwendbaren Ereignisses trägt derjenige, der sich darauf beruft.
Beide Seiten haben vorliegend nicht bewiesen, dass sie sich wie ein „Idealfahrer“ verhalten haben bzw. der Unfall auch bei entsprechendem Verhalten unvermeidbar war. Den Parteien sind vielmehr Verstöße gegen die Vorschriften der StVO anzulasten.
(1) Die Beklagte zu 1. hat gegen die Sorgfaltsanforderungen des § 6 Satz 1 StVO verstoßen.
Hiernach muss derjenige, der an einem haltenden Fahrzeug links vorbeifahren will, entgegenkommende Fahrzeuge durchfahren lassen. Die Vorschrift regelt die Verhaltenspflichten beim Vorbeifahren an haltenden Fahrzeugen auf der rechten Fahrbahnseite, die kein Vorbeifahren ohne durch Mitbenutzung der Gegenfahrbahn bedingte Behinderungen des Gegenverkehrs zulassen (vgl. Senat, Urteil vom 2. September 2009 – 14 U 17/09 –, Rn. 70, juris; Hentschel-König-Dauer, 45. Auflage, Straßenverkehrsrecht, § 6 StVO, Rn. 3). Der Gegenverkehr hat, wie bei der Vorfahrt im Sinne des § 8 StVO, Vorrang schon dann, wenn er am zügigen, wenn auch notfalls angepassten langsamen Durchfahren nennenswert gehindert wäre. Es besteht eine Wartepflicht, wenn der Gegenverkehr sonst nennenswert verlangsamen oder erst die Gewissheit darüber abwarten müsste, ob sein Vorrang beachtet wird. Der Wartepflichtige muss sich vor dem Hindernis klar als solcher verhalten. Er muss durch sein Verhalten anzeigen, dass er warten werde, sonst haftet er (Hentschel-König-Dauer, 45. Auflage, § 6 StVO, Rn. 6). Die Wartepflicht setzt allerdings nicht schon dann ein, wenn Gegenverkehr abstrakt möglich ist, vielmehr muss dieser erkennbar sein (vgl. OLG Schleswig, MDR 1985, 327). Die Vorschrift ist aber auch nicht erst dann einschlägig, wenn der am Hindernis Vorbeifahrende den Gegenverkehr wahrgenommen hat (vgl. KG Berlin, Urteil vom 2. Juli 2007 – 22 U 198/06, Rn. 5, juris). Vor einer unübersichtlichen Engstelle muss der Wartepflichtige jedoch besonders vorsichtig prüfen, ob ein Vorbeifahren den Gegenverkehr behindern würde (vgl. KG Berlin, Urteil vom 2. Juli 2007 – aaO; Hentschel-König-Dauer, 45. Auflage, Straßenverkehrsrecht, § 6 StVO, Rn. 6; Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke/Heß, 27. Aufl., StVO, § 6 Rn. 3, mwN.). Ist dort Gegenverkehr nicht erkennbar, so darf er mit größter Vorsicht unter Benutzung der Gegenfahrbahn an dem Hindernis vorbeifahren (OLG Saarbrücken Urteil vom 09. Januar 2014 – 4 U 405/12, juris; LG Hagen, zfs 2003, 121; Hentschel-König-Dauer, aaO., § 6 StVO, Rn. 6). Wer vor einer Kurve ohne sichtbaren Gegenverkehr das Hindernis links umfährt, muss den Gegenverkehr sichern und ggf. Warnzeichen geben, je nach Einzelfall Schrittgeschwindigkeit einhalten und bei Auftauchen eines entgegenkommenden Fahrzeuges sofort anhalten (Hentschel-König-Dauer, aaO., § 6 StVO, Rn. 6, vgl. zu § 3 Abs. 1 StVO: Senat, Urteil vom 15. Februar 2023 – 14 U 111/22, Rn. 30, juris).
Diesen Anforderungen wurde die Beklagte zu 1. nach dem Ergebnis der erstinstanzlichen Beweisaufnahme, insbesondere aufgrund ihrer eigenen Angaben im Rahmen ihrer informatorischen Anhörung sowie aufgrund der Aussagen der erstinstanzlich vernommenen Zeugen sowie dem unstreitigen Vorbringen der Parteien zum Hergang und der Gestaltung der Unfallstelle, nicht gerecht.
Der Senat ist nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO zwar grundsätzlich an die Tatsachenfeststellungen des ersten Rechtszuges gebunden. Diese Bindung entfällt, wenn konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit entscheidungserheblicher Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten (§ 529 Abs. 1 Nr. 1 Hs. 2 ZPO). Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen können sich auch aus der Möglichkeit unterschiedlicher Wertung ergeben, insbesondere daraus, dass das Berufungsgericht das Ergebnis einer erstinstanzlichen Beweisaufnahme – wie im vorliegenden Fall – anders würdigt (BVerfG, Beschluss vom 12. Juni 2003 – 1 BvR 2285/02, NJW 2003, 2524; BVerfG, Beschluss vom 22. November 2004 – 1 BvR 1935/03, juris). Wenn sich das Berufungsgericht allerdings von der Richtigkeit der erstinstanzlichen Beweiswürdigung nicht zu überzeugen vermag, so ist es an die erstinstanzliche Beweiswürdigung, die es aufgrund konkreter Anhaltspunkte nicht für richtig hält, nicht gebunden, sondern zu einer erneuten Tatsachenfeststellung nach der gesetzlichen Neuregelung nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet (BGH, Urteil vom 9. März 2005 – VIII ZR 266/03 –, BGHZ 162, 313-320, Rn. 7).
So liegt der Fall hier. Denn die durchgeführte Beweisaufnahme trägt das Ergebnis des Landgerichts nicht. Entgegen den Ausführungen des Landgerichts steht nach dem Ergebnis der erstinstanzlich durchgeführten Beweisaufnahme zur Überzeugung des Senates mit dem Maß des § 286 ZPO fest, dass die Beklagte zu 1. beim Vorbeifahren an dem Müllwagen die sie treffenden Sorgfaltsanforderungen des § 6 Satz 1 StVO nicht beachtet hat. Indem die Beklagte zu 1. ohne anzuhalten und besondere Prüfung des Gegenverkehrs hinter einem anderen Fahrzeug im Kurvenbereich in einer Fahrbewegung am Müllwagen vorbei auf die Gegenfahrbahn fuhr, hat sie den Gegenverkehr behindert (§ 6 Satz 1 StVO).
Bereits aus den protokollierten Angaben der Beklagten zu 1. ergibt sich, dass sie ohne vorsichtige Prüfung an der durch den haltenden Müllwagen geschaffenen Engstelle vorbeifuhr. Soweit die Beklagte zu 1. im Rahmen ihrer Anhörung angegeben hat, dass sie die ganze Zeit „langsam“ gefahren sei und auch langsam überholt habe, genügt dies den Anforderungen des § 6 Satz 1 StVO bereits nicht. Die Beklagte zu 1. hat danach trotz Unübersichtlichkeit ohne Anhalten und ausreichende Prüfung des Gegenverkehres den Müllwagen passiert. Vielmehr umfuhr sie den haltenden Müllwagen in einer Bewegung, obwohl eine Anhöhe, eine leichte Kurve und ein vor ihr fahrendes Fahrzeug ihre Sicht auf den Gegenverkehr einschränkten. Der Müllwagen stand innerhalb eines Kurvenbereichs einer leichten Rechtskurve und begründete damit erhöhte Anforderungen an die Überprüfung des Gegenverkehres. Dies ergibt sich nachweislich aus den Lichtbildern des Unfallortes sowie der erstinstanzlichen Aussage des Zeugen S. Der Zeuge S. hat die Unfallstelle als „sehr unübersichtlich“ und schwer einzusehen beschrieben, da es dort erst kurz bergauf und anschließend wieder bergab gehe (vgl. Protokoll vom 20. August 2021, Bl. 84 d.A.). Zudem fertigte der Zeuge S. im Termin vor dem Landgericht (Bl. 86 d.A.) und im Rahmen seiner (schriftlichen) polizeilichen Anhörung (Bl. 39 d. Ermittlungsakte zum AZ 565 JS 20262/21) entsprechende Skizzen von der Unfallstelle an, aus denen sich der Verlauf der B. Straße und dieser Eindruck des Zeugen ergibt. Überdies bestätigen die vom Sachverständigen Dipl.-Ing. O. gefertigten Lichtbilder (Seite 18 des Gutachtens vom 11. November 2022) den Eindruck des Zeugen. Daraus ist ersichtlich, dass die Beklagte zu 1. auf eine Erhöhung und eine leichte Rechtskurve zufuhr, so dass ihre Sicht bereits aus diesen Gründen erheblich eingeschränkt war. Hinzu kommt, dass sie einen deutlich größeren Müllwagen passierte und ihren Angaben zufolge einem Fahrzeug folgte, wodurch ihre Sicht weiter eingeschränkt wurde. Die Beklagte zu 1. hätte bei ausreichender Aufmerksamkeit und Übersicht den Zeugen A1 und den Kläger auf der Gegenfahrbahn wahrnehmen können und müssen, deshalb ihre Geschwindigkeit sogleich verringern und zunächst den Gegenverkehr passieren lassen müssen.
Der Sachverständige Dipl.- Ing. O. hat zwar ausgeführt, dass er, aufgrund fehlender Kollisionsspuren, aus technischer Sicht keine nachweisbare zeitliche Kopplung zwischen den einzelnen Fahrzeugen vornehmen konnte (vgl. Seite 25f. des Gutachtens vom 11. November 2022). Aus den Aussagen der vom Landgericht vernommenen Zeugen S., A. und A1 ergibt sich jedoch zur Überzeugung des Senats, dass der Gegenverkehr bereits wahrnehmbar war, als die Beklagte zu 1. in die Gegenfahrbahn eingefahren ist. Angesichts des Umstandes, dass der Zeuge A1 eine beinahe erfolgte Kollision geschildert hat, und in Anbetracht der zum Vorbeifahren an einem Müllwagen erforderlichen verhältnismäßig kurzen Fahrtstrecke steht fest, dass das Fahrzeug des Zeugen A1 bei ausreichender Prüfung für die Beklagte zu 1. wahrnehmbar gewesen wäre. Der Zeuge A1 war nach seinen protokollierten Schilderungen soweit an die Engstelle herangefahren, dass nur eine Vollbremsung und ein Ausweichen des Zeugen eine Kollision mit der Beklagten zu 1. verhindert hatte. Die Beklagte zu 1. sei auf seiner Spur gefahren und er habe neben der Vollbremsung sogar noch leicht ausweichen müssen, da es sonst zu einem Unfall gekommen wäre. Es wären nur ein paar Sekunden gewesen (vgl. Protokoll vom 16. März 2022, Bl. 131 d.A.). Die Schilderungen des Geschehens des unfallunbeteiligten Zeugen A1 stehen im Einklang mit den Angaben des ebenso am Unfall unbeteiligten Zeugen S. Überdies hat der Zeuge S. hierzu ausgesagt, die Beklagte zu 1. habe am Unfallort geäußert, sie sei am Müllwagen vorbeigefahren, weil die Fahrzeuge vor ihr gefahren seien (vgl. Protokoll vom 20. August 2021, Bl. 85 d.A.).
Dagegen vermochten die Angaben der Beklagten zu 1. zum Unfallgeschehen eine ausreichende Sorgfalt nicht zu begründen. Die Beklagte zu 1. schilderte indes keinerlei eigene Überprüfungen, bevor sie in die Gegenfahrbahn hineinfuhr. Sie hat angegeben, dass sie den Gegenverkehr erstmals wahrgenommen habe, als sie bereits den Müllwagen überholt habe (vgl. Bl. 120 d.A.). Ob sie vor dem Auffahren auf die Gegenfahrbahn überhaupt überprüft hat, ob ihr Fahrzeuge entgegenkamen, ist ihren Schilderungen bereits nicht zu entnehmen. Soweit sie weiter vorgetragen hat, dass sie sich nicht mehr daran erinnern könne, wie weit der Gegenverkehr entfernt gewesen sei, rechtfertigt dies eine andere Würdigung nicht. Wenn die Beklagte zu 1. trotz Wahrnehmung des Gegenverkehrs – an dessen Entfernung sie sich nicht mehr erinnert – in die Gegenfahrbahn hineinfuhr, ohne deren Entfernung ausreichend sorgfältig abzuschätzen, begründet auch dieses Verhalten einen Verstoß gegen § 6 Satz 1 StVO.
Da die Beklagte zu 1. bereits aufgrund des Verstoßes gegen § 6 Satz 1 StVO entsprechende Verhaltensweisen eines Idealfahrers nicht nachgewiesen hat, kann sie sich nicht auf die Unvermeidbarkeit des Unfallgeschehens berufen.
(2) Für den Kläger gilt im Ergebnis nichts Anderes. Das Unfallgeschehen war entgegen der Auffassung des Klägers für ihn nicht unvermeidbar im Sinne des § 17 Abs. 3 StVG. Auf Seiten des Klägers ist ein Verstoß gegen § 4 Abs. 1 Satz 1, § 3 Abs. 1 Satz 4 StVO oder § 1 Abs. 2 StVO zu berücksichtigen.
Zu seinen Lasten streitet ein nicht erschütterter Anscheinsbeweis. Der Beweis des ersten Anscheins erlaubt bei einem Verstoß gegen entsprechende Schutznormen der StVO und bestimmte Erfahrungen über die Gefährlichkeit einer Handlungsweise den Rückschluss, dass sich die von der Norm bekämpfte Gefahr verwirklicht hat (BGH, Urteil vom 25. Januar 1983 – VI ZR 92/8, juris), sofern sich der Schadenfall in zeitlichem und sachlichem Zusammenhang mit dem vorschriftswidrigen Verhalten bzw. der Gefahrenquelle ereignet hat (BGH, Urteil vom 2. Juni 2005 – III ZR 358/04, Rn. 7, juris).
(2.1) In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist anerkannt, dass bei Auffahrunfällen der erste Anschein dafür sprechen kann, dass der Auffahrende den Unfall schuldhaft dadurch verursacht hat, dass er entweder den erforderlichen Sicherheitsabstand nicht eingehalten hat (§ 4 Abs. 1 StVO), unaufmerksam war (§ 1 StVO) oder aber mit einer den Straßen- und Sichtverhältnissen unangepassten Geschwindigkeit gefahren ist (§ 3 Abs. 1 StVO); denn der Kraftfahrer ist verpflichtet, seine Fahrweise so einzurichten, dass er notfalls rechtzeitig anhalten kann, wenn ein Hindernis auf der Fahrbahn auftaucht (u.a. BGH, Urteil vom 13. Dezember 2016 – VI ZR 32/16 – Rn. 10 mwN, juris). Der Auffahrunfall reicht als solcher allerdings als Grundlage eines Anscheinsbeweises dann nicht aus, wenn weitere Umstände des Unfallereignisses bekannt sind, die – wie etwa ein vor dem Auffahren vorgenommener Spurwechsel des vorausfahrenden Fahrzeugs – als Besonderheit gegen die bei derartigen Fallgestaltungen gegebene Typizität sprechen (BGH, Urteil vom 13. Dezember 2016, aaO, Rn. 11 mwN, juris). Denn es muss das gesamte feststehende Unfallgeschehen nach der Lebenserfahrung typisch dafür sein, dass derjenige Verkehrsteilnehmer, zu dessen Lasten der Anscheinsbeweis Anwendung finden soll, schuldhaft gehandelt hat; ob der Sachverhalt in diesem Sinne im Einzelfall wirklich typisch ist, kann nur aufgrund einer umfassenden Betrachtung aller tatsächlichen Elemente des Gesamtgeschehens beurteilt werden, die sich aus dem unstreitigen Parteivortrag und den getroffenen Feststellungen ergeben (BGH, Urteil vom 13. Dezember 2016, aaO, juris). Steht allerdings nicht fest, ob über das – für sich gesehen typische – Kerngeschehen hinaus Umstände vorliegen, die, sollten sie gegeben sein, der Annahme der Typizität des Geschehens entgegenstünden, so steht der Anwendung des Anscheinsbeweises nichts entgegen; denn in diesem Fall bleibt dem Tatrichter als Grundlage allein das typische Kerngeschehen, das ohne besondere Umstände als Basis für den Anscheinsbeweis ausreicht (BGH, Urteil vom 13. Dezember 2016, aaO mwN, juris). Ist also ein Sachverhalt unstreitig, zugestanden oder positiv festgestellt, der die für die Annahme eines Anscheinsbeweises erforderliche Typizität aufweist, so obliegt es demjenigen, zu dessen Lasten der Anscheinsbeweis angewendet werden soll, darzulegen und gegebenenfalls zu beweisen, dass weitere Umstände vorliegen, die dem feststehenden Sachverhalt die Typizität wieder nehmen; er hat den Anscheinsbeweis zu erschüttern (BGH, Urteil vom 13. Dezember 2016, aaO mwN, juris).
(2.2) Nach den oben dargestellten Grundsätzen spricht gegen den Kläger ein Anscheinsbeweis für eine schuldhafte Unfallverursachung, auch wenn eine Kollision der Fahrzeuge ausblieb. Nach Auffassung des Senates gelten die Grundsätze des Anscheinsbeweises – bei Auffahrunfällen – auch für den hier vorliegenden Fall, in dem es wegen des Sturzes des Hintermannes (des Klägers) nicht mehr zu einer Kollision mit dem vor ihm fahrenden Fahrzeug gekommen ist.
Der Senat verkennt dabei nicht, dass eine Anwendung des Anscheinsbeweises im Rahmen der Rechtsprechung in Fällen berührungsloser Unfälle zurückhaltend erfolgt und auch anders beurteilt wird.
Nach den Erwägungen des Oberlandesgerichts München fehlt es in Fällen eines sog. berührungslosen Unfalles an einer konstitutiven Voraussetzung des Anscheinsbeweises, nämlich dem typischen Geschehensablauf (vgl. OLG München, Urteil vom 7. Oktober 2016 – 10 U 767/16, Rn. 9, juris). Das Oberlandesgericht Hamm verneinte zuletzt mit Urteil vom 9. Mai 2023 die Anwendbarkeit der Grundsätze des Anscheinsbeweises auf einen Verkehrsunfall ohne Zusammenstoß bei bloßer Annäherung des Querverkehrs wegen fehlender Typizität, jedoch im Zusammenhang mit der Frage des Zurechnungszusammenhanges und damit dem „Betrieb“ eines Fahrzeugs im Sinne des § 7 Abs. 1 StVG (OLG Hamm, Urteil vom 9. Mai 2023 – 7 U 17/23, Rn. 51, juris).
Dagegen führte das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht (OLG Schleswig, Beschluss vom 17. Februar 2022 – 7 U 144/21, SVR 2022, 302) aus, dass vielmehr auch bei berührungslosen Unfällen die Grundsätze des Anscheinsbeweis Anwendung finden könnten, wenn im Übrigen das feststehende Unfallgeschehen nach der Lebenserfahrung typisch dafür ist, dass derjenige Verkehrsteilnehmer, zu dessen Lasten der Anscheinsbeweis Anwendung finden soll, schuldhaft gehandelt hat.
Auch nach den Erwägungen des Kammergerichts Berlin kommt bei berührungslosen Unfällen die Anwendung eines Anscheinsbeweises in Betracht (KG Berlin, Urteil vom 15. Mai 1972 – 12 U 1022/70 –, juris). Das Kammergericht führte zu § 14 StVO aus, dass wegen des engen örtlichen und zeitlichen Zusammenhangs auch dann der Anscheinsbeweis dafür spreche, dass der Radfahrer infolge einer Türbewegung gestürzt sei, wenn eine Berührung zwischen Fahrrad und Kfz nicht stattgefunden habe.
Insoweit gelangen auch das Landgericht Saarbrücken (LG Saarbrücken, Urteil vom 12. März 2010 – 13 S 215/09, Rn. 14, juris) und das Landgericht Wuppertal (LG Wuppertal, Urteil vom 14. Mai 2020 – 9 S 201/19, Rn. 27, juris) zur Anwendbarkeit der Grundsätze eines Anscheinsbeweises im Falle sog. berührungsloser Unfälle.
Den letztgenannten Auffassungen schließt sich der Senat an. Wer auf einen Vorausfahrenden auffährt, war in der Regel unaufmerksam oder zu dicht hinter ihm, auch wenn der Vorausfahrende gebremst hat (Hentschel-König-Dauer, StVO, 45. Auflage, § 4 StVO, Rn. 35). Das hier festgestellte und feststehende Unfallgeschehen ist nach der Lebenserfahrung typisch dafür, dass der Kläger unaufmerksam war, und unterscheidet sich lediglich durch den Anstoß. Der Kläger hat durch das Abbremsen und seinen Sturz eine Kollision mit dem Fahrzeug des Zeugen A1 noch vermieden. Gleichwohl kann nach Auffassung des Senats nichts Anderes gelten, als wenn es hier zwischen dem Motorrad des Klägers und dem Fahrzeug des Zeugen A1 zu einem Zusammenstoß gekommen wäre. Das von der Beklagten zu 1. veranlasste Geschehen zwischen dem Zeugen A1 und dem Kläger unterscheidet sich von dem typischen Auffahrunfall, bei dem der Anscheinsbeweis greift, nur dadurch, dass das Motorrad des Klägers nach dem Sturz nicht in das vor ihm fahrende Fahrzeug fuhr oder rutschte, sondern an den Fahrbahnrand zur Einmündung der untergeordneten Straße.
Das streitbetroffene Handeln des Klägers unterscheidet sich damit vom „Normalfall“ des Auffahrunfalles nicht. Ein qualitativer Unterschied im Fehlverhalten des Klägers ist nicht feststellbar. Das fehlerhafte Abbremsen des Motorrads mit anschließendem Sturz ohne Kollision mit dem vorausfahrenden Fahrzeug und ein ebenfalls nicht verkehrsgerechtes fehlerhaftes Abbremsen des Motorrads mit anschließendem Sturz und einer Kollision sind insoweit (rechtlich) gleich zu behandeln. Beide Geschehensabläufe zeichnen sich dadurch aus, dass der Kläger durch sein Verhalten einen Sturz oder eine Kollision nicht vermeiden konnte. In beiden Fällen kommt vordringlich eine fehlerhafte Reaktion des Klägers auf das Fahrmanöver des Vorausfahrenden in Betracht. Dafür spricht bereits, dass der Zeuge A. aufgrund ausreichenden Abstands und Aufmerksamkeit sein Motorrad abbremsen und einen Unfall und einen Sturz vermeiden konnte. Im Streitfall ist es bloß nicht zu einem sog. Auffahrunfall und damit zu einer Kollision der Fahrzeuge gekommen, da der Kläger durch seine – fehlerhafte – Bremsung zuvor stürzte und in Richtung Fahrbahnrand am Fahrzeug des Zeugen vorbei rutschte. Der Eintritt einer Kollision mit dem vor ihm abbremsenden Fahrzeug des Zeugen A1 hing damit lediglich vom Zufall ab. Wenn – wie hier – die Bremsung bzw. der Sturz des Klägers in unmittelbarem räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem auch im Fall einer Kollision einen Anscheinsbeweis begründenden Fahrmanöver stattgefunden hat, kann nichts Anderes gelten. Denn eine solche Bremsung mit anschließendem Sturz in unmittelbarem räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem Abbremsen des vor ihm fahrenden Fahrzeuges lässt mangels anderweitiger in Betracht kommender Erklärungen allein und damit typischerweise eine fehlerhafte Reaktionshandlung auf ein als Verkehrshindernis wahrgenommenes Verhalten eines anderen Verkehrsteilnehmers zu. Gelingt es einem Verkehrsteilnehmer nicht, rechtzeitig auf die wahrgenommene Gefahrenlage zu reagieren und lediglich durch einen vorherigen Sturz eine Kollision mit dem Vorausfahrenden zu verhindern, spricht wie im Fall einer „Auffahrkollision“ die Lebenserfahrung dafür, dass die Ursache für den Sturz, das eigene Fehlverhalten infolge zu geringem Abstand oder verspäteter Reaktion ist.
(2.3) Daher ist von einem Anscheinsbeweis zulasten des Klägers auszugehen, der nicht erschüttert wurde. Der Kläger verstieß entweder gegen das Sichtfahrgebot nach § 3 Abs. 1 Satz 4 StVO oder hielt den nach § 4 Abs. 1 Satz 1 StVO gebotenen Sicherheitsabstand nicht ein oder bemerkte den Erstunfall infolge eigener Unaufmerksamkeit zu spät (§ 1 Abs. 2 StVO) oder bremste aufgrund mangelnder Beherrschung seines Motorrades stärker, als es zur sicheren Vermeidung einer Kollision notwendig gewesen wäre.
Nach § 3 Abs. 1 Satz 4 StVO darf nur so schnell gefahren werden, dass innerhalb der übersehbaren Strecke gehalten werden kann. Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 StVO muss der Abstand von einem vorausfahrenden Fahrzeug regelmäßig so groß sein, dass auch dann angehalten werden kann, wenn – wie vorliegend – plötzlich und scharf gebremst wird (BGH, Urteil vom 9. Dezember 1986 – VI ZR 138/85, juris).
Unter Berücksichtigung der landgerichtlichen Feststellungen, insbesondere den Parteiangaben, den Zeugenaussagen und den Ausführungen des Dipl.-Ing. O. in seinem Sachverständigengutachten, steht zur Überzeugung des Senats fest, dass der Kläger die ihn treffenden Sorgfaltsanforderungen des § 3 Abs. 1 Satz 4 StVO, des § 4 Abs. 1 Satz 1 StVO oder § 1 Abs. 2 StVO nicht beachtet hat.
Der Sachverständige Dipl.-Ing. O., der als Diplomingenieur und Sachverständiger für Unfallanalysen beruflich besonders qualifiziert ist, hat sich in seinem unfallanalytischen Gutachten vom 11. November 2022 ausführlich, nachvollziehbar und sorgfältig mit dem Unfallgeschehen auseinandergesetzt. Der Sachverständige hat den Unfall unter Berücksichtigung der vorgefundenen Unfallspuren, der an dem beteiligten Motorrad entstandenen Beschädigungen sowie der zur Verfügung stehenden Lichtbilder rekonstruiert. Er gelangt zu dem Ergebnis, dass wegen fehlender kollisionsbedingter Kontakte aus technischer Sicht keine nachweisbare zeitliche Kopplung zwischen den einzelnen Fahrzeugbewegungen vorgenommen werden könne. Die unkontrollierte Bremsung des Klägers sei jedoch auf einen zu geringen Sicherheitsabstand oder eine verspätete Reaktion des Klägers auf die Bremsung des Zeugen A1 zurückzuführen. Der Kläger habe die Vorder- als auch die Hinterradbremse derart betätigt, dass beide Bremsen am Motorrad blockierten. Infolgedessen sei das Klägerfahrzeug auf die linke Seite gestürzt und in den Einmündungstrichter der Rainstraße hineingerutscht (vgl. Gutachten vom 11. November 2022, Seite 26). Der Sachverständige Dipl.-Ing. O. führte zudem aus, dass dieses als „Schreck- oder Panikbremsung“ einzustufen sei. Die Drucksteigerung der Vorderradbremsung habe zum Blockieren des Vorderrades geführt. Ob diese unkontrollierte Bremsung auf zu geringen Sicherheitsabstand oder eine verspätete Reaktion der Bremsung des Zeugen A1 zurückzuführen sei, könne nicht abschließend beurteilt werden.
Dem steht nicht entgegen, dass die Vollbremsung des Zeugen A1 durch das verkehrswidrige Verhalten der Beklagten zu 1. ausgelöst wurde und auch den Kläger zur Bremsung veranlasste, da andernfalls – wie der Zeuge A1 angegeben hat – eine Kollision mit dieser nicht vermieden hätte werden können. Denn als Fahrzeugführer muss auch mit einem starken Abbremsen des vorausfahrenden Fahrzeuges jederzeit gerechnet werden (OLG Düsseldorf, Urteil vom 1. Oktober 2001 – 1 U 206/00, Rn. 2, juris). Nach den überzeugenden widerspruchsfreien Ausführungen des Sachverständigen Dipl.-Ing. O., die der Kläger mit seiner Berufung nicht angreift, wäre der Sturz jedoch durch eine kontrollierte Betätigung der Vorderradbremsung vermeidbar gewesen. Ursächlich für den Sturz seien danach vielmehr ein zu geringer Abstand oder eine verspätete Reaktion auf das vor ihm erfolgte Bremsmanöver.
Aufgrund dieser nachvollziehbaren und überzeugenden schriftlichen Ausführungen des Sachverständigen und den Angaben der Zeugen steht in der Gesamtschau fest, dass der Kläger entweder aufgrund von Unaufmerksamkeit (§ 1 Abs. 2 StVO), eines Verstoßes gegen das Sichtfahrgebotes (§ 3 Abs. 1 Satz 4 StVO) oder wegen eines zu geringen Sicherheitsabstands (§ 4 Abs. 1 Satz 1 StVO) seinen Sturz verursachte.
(2.4) Soweit der Kläger in der Berufungsbegründung einwendet, dass der Zeuge A1 angegeben hat, er könne sich nicht daran erinnern, welchen Abstand der Kläger kurz vor seinem Sturz eingehalten habe und der Sachverständige zudem einen zu geringen Abstand nur als eine der möglichen Ursache benenne, was aber als Beweis nicht ausreiche, greift dies nicht durch. Der Kläger verkennt, dass es ihm oblegen hätte, den Anscheinsbeweis zu erschüttern. Hierzu führt der Kläger keine durchgreifenden Gründe an. Der Sachverständige Dipl.-Ing O. hat sich mit möglichen Ursachen des Sturzes des Klägers befasst. Tatsachen, die dem Geschehensablauf die den Anscheinsbeweis begründende Typizität abgesprochen hätten – beispielsweise ein irreführendes Fahrverhalten des vor ihm fahrenden Zeugen – trägt der Kläger nicht vor und sind, auch ansonsten nicht ersichtlich.
Der Kläger kann sich auch nicht darauf berufen, dass das Geschehen für ihn in Anbetracht des fehlenden ABS-Bremssystems an seinem Fahrzeug unvermeidbar gewesen sei. Der Sachverständige hat sich auch mit dieser Frage befasst und überzeugend ausgeführt, dass auch ohne eine ABS-Bremsanlage ein Sturz des Motorrades in der vorliegenden Situation vermeidbar gewesen wäre. Hierzu hätte der Bremsdruck der Vorderradbremse kontrolliert gesteigert werden müssen (vgl. Seite 24 des Gutachtens vom 11. November 2022).
b) Entgegen der Auffassung des Landgerichts haften der Kläger und die Beklagten gemäß § 17 Abs. 1 und 2 StVG nicht im Verhältnis 0 % zu 100 %, sondern im Verhältnis von 40 % zu 60 %.
aa) Eine nach § 17 Abs. 1 u. 2 StVG gebotene Abwägung setzt die Feststellung eines haftungsbegründenden Tatbestandes auf der Seite des Geschädigten voraus, wobei die für die Abwägung maßgebenden Umstände feststehen müssen. Es dürfen damit lediglich unstreitige, zugestandene oder nach § 286 ZPO bewiesene Tatsachen, die für die Entstehung des Schadens ursächlich geworden sein müssen, eingestellt werden (vgl. BGH, Urteil vom 24. September 2013 – VI ZR 255/12, juris Rn. 7 mwN). Im Einzelfall kann dies sogar zu einem Entfallen der Mithaftung aus Gefährdungshaftung führen, wenn die im Vordergrund stehende Schadensursache ein grob verkehrswidriges Verhalten des Geschädigten darstellt (BGH, Urteil vom 4. April 2023 – VI ZR 11/21, Rn. 9, juris). In einem zweiten Schritt sind die beiden Verursachungsanteile gegeneinander abzuwägen.
Festgehalten werden kann insoweit zunächst, dass dem Kläger und der Beklagten zu 1. jeweils ein unfallursächliches Verschulden nachweisbar anzulasten und ein Entlastungsbeweis i.S.d. § 18 Abs. 1 Satz 2 StVG schon aus diesem Grund nicht geführt ist.
bb) Auf Klägerseite ist ein Verstoß gegen § 4 Abs. 1 Satz 1 StVO bzw. § 3 Abs. 1 Satz 4 StVO oder jedenfalls § 1 Abs. 2 StVO zu berücksichtigen (s.o.). Ein weiteres unfallursächliches Verschulden des Klägers durch Überschreiten der am Unfallort zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 70 km/h ist nicht festzustellen. Nach den Ausführungen des Sachverständigen Dipl.-Ing. O. befuhr der Kläger die Landstraße mit einer zulässigen Geschwindigkeit von etwa 61 bis 65 km/h (vgl. Gutachten vom 11. November 2022, Seite 26). Auf Seiten der Beklagten ist ein Verstoß gegen die Sorgfaltsanforderungen des § 6 Satz 1 StVO einzustellen.
cc) Trotz des erheblichen Verstoßes des Klägers tritt die erhöhte Betriebsgefahr des Fahrzeuges der Beklagten zu 1. entgegen den Ausführungen des Landgerichts nicht zurück. Eine Alleinhaftung des Klägers kommt bereits im Hinblick auf den, auch der Beklagten zu 2 zuzurechnenden, Verstoß der Beklagten zu 1. gegen § 6 Satz 1 StVO nicht in Betracht. Überdies war die Betriebsgefahr des Fahrzeuges der Beklagten zu 1. durch den Ausschervorgang selbst erhöht. Das Hineinfahren in den Gegenverkehr stellt schon im Ansatz eine gefährlichere Fahrweise dar als das gebotene Warten hinter dem Hindernis. Zudem hat sich diese abstrakte Gefahrenerhöhung durch den Verkehrsunfall verwirklicht.
Entgegen der Auffassung des Klägers hält der Senat dabei aber eine überwiegende Haftung der Beklagten für nicht gerechtfertigt. Denn der Kläger trägt hier einen deutlich höheren Verantwortungsanteil als die Beklagte zu 1., weil erst sein sorgfaltswidriges Verhalten – durch zu dichtes Auffahren oder Missachtung des Sichtfahrgebotes bzw. seiner Unachtsamkeit – zum Unfall bzw. seinem Sturz geführt hat. Der Zeuge A1 hat noch rechtzeitig bremsen können, ohne dass es zu einer Kollision mit dem Beklagtenfahrzeug kam. Ebenso gelang es auch dem Sohn des Klägers, sein Motorrad rechtzeitig zum Stehen abzubremsen. Dem Kläger ist dies nicht gelungen. Dies mag auf Unaufmerksamkeit oder einem unzureichenden Sicherheitsabstand zum vorausfahrenden Pkw des Zeugen A1 beruht haben, soweit würden jedoch beide Verhaltensweisen ein erhebliches Verschulden begründen. Demgegenüber ist der Beklagten zu 1. ein verhältnismäßig geringerer Verkehrsverstoß vorzuwerfen.
Bei dieser Sachlage kann die von dem Landgericht ermittelte Haftungsquote von 100 % zu 0 % zu Lasten des Klägers keinen Bestand haben und war auf seine Berufung auf eine Haftung von 60 % zu 40 % abzuändern. Eine weitergehende Haftung der Beklagten – wie der Kläger meint – wäre nicht gerechtfertigt. Eine höhere Haftungsquote zu Lasten der Beklagten brächte den erheblichen Verstoß des Klägers nicht ausreichend zum Ausdruck.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 Satz 1, § 100 Abs. 4 ZPO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
IV.
Die Revision ist gem. § 543 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 ZPO wegen grundsätzlicher Bedeutung, zum Zwecke der Rechtsfortbildung und zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zuzulassen. Eine solche Entscheidung ist erforderlich, wenn in der angefochtenen Entscheidung ein abstrakter Rechtssatz aufgestellt wird, der von einem in anderen Entscheidungen eines höheren oder eines gleichgeordneten Gerichts aufgestellten abstrakten Rechtssatz abweicht (BGH, Beschluss vom 01. Oktober 2002 – XI ZR 71/02, BGHZ 152, 182-194, Rn. 12 m.w.N.). Ferner ist die Revision zuzulassen, wenn aufgrund der Publizitätswirkung zu erwarten ist, dass ein Nachahmungseffekt gegeben ist, so dass eine höchstrichterliche Leitentscheidung notwendig ist (BGH, Beschluss vom 04. Juli 2002 – V ZR 75/02, Rn. 8, juris).
Dies ist vorliegend der Fall. Der Frage, ob die Grundsätze des Anscheinsbeweises auch bei sog. berührungslosen Unfällen Anwendung finden, kommt grundsätzliche Bedeutung zu, weil sie eine entscheidungserhebliche, klärungsbedürftige und klärungsfähige Rechtsfrage aufwirft, die sich in einer unbestimmten Vielzahl von Fällen stellen kann und deshalb das abstrakte Interesse der Allgemeinheit an der einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts berührt. Es kann damit gerechnet werden, dass insbesondere Haftpflichtversicherer die Rechtsprechung zu dieser Frage bei ihrer Regulierungspraxis in Schadensfällen berücksichtigen. Die Auffassung des Senats weicht schließlich von der Rechtsprechung des OLG München und anderer Gerichte ab; auf die Ausführungen unter II. 2. a) (2.2) und die dort erwähnten Entscheidungen wird verwiesen (z.B. OLG München, Urteil vom 7. Oktober 2016 – 10 U 767/16 –, Rn. 9, juris; so wohl auch die Tendenz des OLG Düsseldorf, Urteil vom 21. September 2010 – I-1 U 231/09 –, Rn. 9, juris).
V.
Die Festsetzung des Streitwertes für das Berufungsverfahren beruht auf § 3 ZPO, § 47 Abs. 1 GKG.