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Heimbetreiber – Haftung für unzureichende Sicherungsmaßnahmen

OLG Jena, Az.: 1 U 558/14, Urteil vom 27.08.2015

1. Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Landgerichts Meiningen vom 11. Juli 2014 abgeändert und die Klage abgewiesen.

2. Die Klägerinnen haben die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Klägerinnen können die Zwangsvollstreckung durch den Beklagten durch Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vor Vollstreckung Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

4. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

I.

Gemäß § 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO wird hinsichtlich des Sachverhaltes auf den Tatbestand des mit der Berufung angegriffenen Urteils Bezug genommen.

Heimbetreiber – Haftung für unzureichende Sicherungsmaßnahmen
Symbolfoto: Von Africa Studio /Shutterstock.com

Mit Grundurteil vom 11. Juli 2014 hat das Landgericht der Klage dem Grunde nach stattgegeben. Zur Begründung hat das Landgericht ausgeführt, dass die Klägerinnen gegen den Beklagten einen Anspruch auf Schadensersatz aus übergegangenem Recht gemäß § 116 Abs. 1 SGB X i.V.m. den §§ 611, 276 BGB haben, da der Beklagte als Betreiber der Pflegeeinrichtung „W. E.“ zwar nicht seine durch die angestellten Pflegekräfte wahrzunehmende Aufsichtspflicht gegenüber der Geschädigten, Frau K. L., jedoch seine Verkehrssicherungspflicht in Hinblick auf die Ausstattung des im Zimmer der Versicherten befindlichen Fensters im 1. Stock verletzt habe.

Entgegen der Ansicht der Kläger habe der Beklagte seine durch die bei ihm angestellten Pflegekräfte wahrzunehmende Aufsichtspflicht gegenüber der Geschädigten nicht dadurch verletzt, dass Frau L. nicht zu dem Toilettengang, der unmittelbar vor dem Fenstersturz stattgefunden habe, begleitet worden sei. Insoweit sei zunächst die Zielrichtung der Unterbringung der Versicherten in der Pflegeeinrichtung zu berücksichtigen, wonach durch Betreuung und heilpädagogische Förderung die Hilfe zur Selbsthilfe sowohl im privaten Bereich als auch bei der Teilnahme am öffentlichen Leben und damit die Eigenständigkeit im lebenspraktischen Bereich und die Sozialkompetenz gefördert werden solle. Dies beinhalte, dass die Heimbewohner unter Berücksichtigung ihres jeweiligen Behinderungsgrades zur Eigenständigkeit angeleitet werden sollen. Bei dem hier dem Fenstersturz unmittelbar vorausgehenden Toilettengang habe das Personal des Beklagten davon ausgehen dürfen, dass die Versicherte diesen allein und ohne Beaufsichtigung werde durchführen können.

Zu sehen sei aber, dass aufgrund der Verhaltensauffälligkeiten der Versicherten und deren immer wieder gezeigten Weglauftendenzen eine Verkehrssicherungspflicht dahingehend bestanden habe, das im Zimmer der Versicherten befindliche Fenster so abzusichern, dass es sich nicht vollständig habe öffnen lassen. Ein Heimträger sei grundsätzlich verpflichtet, den Aufenthalt in seiner Einrichtung so zu gestalten, dass jede vermeidbare Gefährdung eines Bewohners ausgeschlossen sei, wozu auch der Schutz der Bewohner vor Selbstgefährdung zu zählen sei, soweit sie erkennbar zu einer vernünftigen Einsicht und zu einem entsprechenden Verhalten nicht in der Lage seien. Aufgrund des zum Unfallzeitpunkt vorliegenden Gutachtens zur Pflegebedürftigkeit der Versicherten sei daher das im Zimmer der Versicherten befindliche Fenster so abzusichern gewesen, dass es nicht vollständig von der Versicherten habe geöffnet werden können. Aus dem Ergebnis der Beweisaufnahme habe sich ergeben, dass der Zustand der Versicherten sich im Jahre 2008 gravierend zu deren Nachteil verändert habe. Zwar habe nicht von einer konkreten Suizidgefährdung der Versicherten ausgegangen werden müssen. Es habe sich aber ergeben, dass diese mitunter die Gefährlichkeit ihres eigenen Handelns nicht sicher einzuschätzen vermochte habe.

Gegen dieses Urteil hat der Beklagte form- und fristgerecht Berufung eingelegt.

Zur Begründung trägt er vor, dass ihn zum Unfallzeitpunkt keine Verkehrssicherungspflicht dahingehend getroffen habe, das im Zimmer der Versicherten befindliche Fenster so abzusichern, dass es nicht von dieser vollständig habe geöffnet werden können. Zu sehen sei, dass sich die Versicherte der Klägerinnen frei im Haus habe bewegen können. Würde man dem Landgericht folgen, so hätten sämtliche Fenster im ersten Stock so abgesichert werden müssen, dass sie sich nicht ohne Weiteres vollständig hätten öffnen lassen. Würde man dem Landgericht weiter folgen, so hätte sich die Versicherte der Klägerinnen nicht unbeaufsichtigt in Räumen aufhalten dürfen, deren Fenster nicht gesondert gesichert gewesen wären. Für diese Annahme sei aber nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme kein Raum. Die Versicherte habe sich bereits seit mehreren Jahren in der Einrichtung aufgehalten und sich dort entsprechend dem Konzept und dem Leitgedanken der Einrichtung frei bewegen können, ohne dass es jemals zu Problemen gekommen sei. Unstreitig seien weder eine Unterbringung in einer geschlossenen Einrichtung noch andere freiheitsentziehende Maßnahmen zu irgendeinem Zeitpunkt angeordnet worden. Hierzu habe auch in medizinischer und pflegerischer Sicht kein Anlass bestanden. Bei der Einrichtung des Beklagten handle es sich nicht um eine geschlossene psychiatrische Einrichtung. Auch habe das Landgericht selbst ausgeführt, dass konkret von einer Suizidgefährdung der Versicherten nicht auszugehen gewesen sei. Soweit das Landgericht ungeachtet dessen mit Blick auf die von den Zeuginnen beschriebenen Unruhezustände der Versicherten von einer Verkehrssicherungspflicht der Beklagten dahingehend ausgegangen sei, das Fenster im Zimmer der Versicherten besonders zu sichern, stelle dies eine erhebliche Überspannung der Sorgfaltspflicht und im Übrigen auch eine Konterkarierung des Konzeptes der Einrichtung dar. So habe der Bundesgerichtshof bereits in einer Entscheidung aus dem Jahre 2013 (Urteil vom 31.10.2013 Az.: III ZR 388/12) entschieden, dass selbst eine städtische Klinik nicht dazu verpflichtet sei, ohne konkrete Anhaltspunkte einer Selbstgefährdung die Fenster einer geschlossenen psychiatrischen Station so auszustatten, dass sie auch unter Einsatz von Körperkraft nicht so weit geöffnet werden können, dass Patienten hinaussteigen oder -springen könnten.

Der Beklagte beantragt daher, das Urteil des Landgerichts Meiningen vom 11.07.2014 abzuändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerinnen beantragen, die Berufung zurückzuweisen.

Die Klägerinnen verteidigen das erstinstanzliche Urteil unter Wiederholung ihres bisherigen Vortrages.

Sie sind der Ansicht, dass es sich bei der Versicherten der Klägerinnen um eine geistig retardierte Heimbewohnerin gehandelt habe, die außerstande gewesen sei, Gefahren den Situationen angepasst zu bewerten und sich hiernach zu verhalten. Die Versicherte habe daher schlichtweg zum Unfallzeitpunkt nicht in der Einrichtung des Beklagten untergebracht werden dürfen.

Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens und Anhörung des Sachverständigen, Dr. med. St., im Termin vom 16. Juli 2015. Hinsichtlich des Inhaltes des Sachverständigengutachtens bezieht sich der Senat auf das Sachverständigengutachten vom 05. Juni 2015. Hinsichtlich des Inhalts der Einvernahme des Sachverständigen im Termin am 16. Juli 2015 wird auf das Protokoll der öffentlichen Sitzung des Senates vom 16. Juli 2015 Bezug genommen.

II.

Die zulässige Berufung des Beklagten ist begründet. Die Klägerinnen haben gegen den Beklagten aus übergegangenem Recht gemäß § 116 SGB X wegen des Unfalls vom 19. Juli 2008 der in der Wohnstätte E. lebenden Heimbewohnerin K. L. keinen vertraglichen oder deliktischen Schadensersatzanspruch.

Im Ausgangspunkt zutreffend hat das Landgericht angenommen, dass der Heimbetreiber aus dem mit der Heimbewohnerin K. L. geschlossenen Heimvertrag Obhutspflichten zum Schutze deren körperlicher Unversehrtheit gemäß den §§ 611, 276 BGB hat. Ebenso besteht eine inhaltsgleiche allgemeine Verkehrssicherungspflicht zum Schutz eines Heimbewohners vor Schädigungen, die diesem wegen Krankheit oder einer sonstigen körperlichen oder geistigen Einschränkung durch ihn selbst oder durch die Einrichtung und die bauliche Gestaltung des Wohnheims drohen (OLG Koblenz NJW-RR 2002, 867, 868; OLG Naumburg, Urteil vom 31.01.2007 – 6 U 98/06 -, zitiert nach juris). Verletzt ein Heimbetreiber diese Obhutspflicht schuldhaft, stehen dem Heimbewohner – bzw. dem Versicherer aus übergegangenem Recht – Schadensersatzansprüche sowohl gemäß § 280 BGB aufgrund einer Verletzung einer vertraglichen Nebenpflicht aus dem Heimvertrag als auch aus unerlaubter Handlung gemäß den §§ 823, 831 BGB zu. Vorliegend hat aber der Beklagte bzw. haben dessen Mitarbeiter im Hinblick auf das Unfallereignis vom 19. Juli 2008 weder eine vertragliche Nebenpflicht aus dem mit der Verunfallten abgeschlossenen Heimvertrag verletzt, noch kann ihm eine Verletzung einer Verkehrssicherungspflicht vorgeworfen werden.

Bei der Frage der Verletzung einer Nebenpflicht aus dem Heimvertrag oder der Verletzung einer Verkehrssicherungspflicht ist maßgeblich auf die Zielrichtung der Unterbringung der Versicherten in der Pflegeeinrichtung „W. E.“ abzustellen, wonach durch Betreuung und heilpädagogische Förderung die Hilfe zur Selbsthilfe sowohl im privaten Lebensraum als auch bei der Teilnahme am öffentlichen Leben und damit die Eigenständigkeit im lebenspraktischen Bereich und die Sozialkompetenz gefördert werden sollen. Dies bedeutet, dass die Heimbewohner unter Berücksichtigung ihrer jeweiligen Behinderung zur Eigenständigkeit angeleitet werden, was auch ein in jedem Einzelfall festzulegendes Vertrauen erfordert.

Wie das Landgericht bereits zutreffend erkannt hat, durfte das Personal des Beklagten bei dem dem Fenstersturz unmittelbar vorausgehenden Toilettengang der Versicherten – entgegen der Ansicht der Klägerinnen – davon ausgehen, dass die Versicherte diesen Toilettengang allein und ohne Beaufsichtigung wird durchführen können, da der Gesundheitszustand der Versicherten kurz vor dem Unfall keine ständige Betreuung und Beaufsichtigung der Versicherten erfordert hat. Insbesondere aus dem Gutachten zur Beurteilung der Pflegebedürftigkeit der Versicherten vom 13.06.2008 (Anlage K7) ergibt sich nicht, dass die Versicherte ständig hätte beaufsichtigt werden müssen. In dem Gutachten ist zwar ausgeführt, dass die Versicherte die Notwendigkeit hygienischer Verrichtungen verkenne, eine mangelnde hygienische Sorgfalt bestehe und sie zur Körperpflege regelmäßig der Anleitung und der Teilbeaufsichtigung bezüglich der angemessenen Sorgfalt bedürfe. Diese Hilfsbedürftigkeit der Versicherten zielt aber nicht auf deren Sicherheit ab, sondern auf die Einhaltung der körperlichen Reinlichkeit. Eine Eintrittspflicht des Beklagten für die beim Fenstersturz erlittenen Verletzungen der Versicherten lässt sich somit nicht aus dem Umstand herleiten, dass das Personal des Beklagten die Versicherte nicht ständig, also auch bei dem dem Fenstersturz unmittelbar vorausgehenden Toilettengang, beaufsichtigt hat.

Der Senat vermag aber entgegen der Ansicht des Landgerichts nicht zu erkennen, dass der Beklagte eine ihn treffende Verkehrssicherungspflicht verletzt hat, weil er das Fenster der Versicherten in deren Zimmer nicht so abgesichert hat, dass dieses von der Versicherten nicht hätte vollständig geöffnet werden können. Eine solche Maßnahme wäre der eben dargestellten Zielrichtung der Pflegeeinrichtung „W. E.“ entgegenlaufen und mit dieser nicht vereinbar gewesen.

Das vom Senat eingeholte Sachverständigengutachten des Sachverständigen Dr. med. St. und dessen Ausführungen in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat am 16. Juli 2015 führen zu keiner anderen Beurteilung der Rechtslage. In seinem schriftlichen Gutachten vom 05. Juni 2015 hat der Sachverständige zwar ausgeführt, dass bei der Versicherten aufgrund des Vorliegens einer psychiatrischen Akutsituation, bei welcher eine Selbstgefährdung anzunehmen sei, die Unterbringung in einer geschlossenen Anstalt erforderlich gewesen wäre. Als Symptome für eine Störung hatten bei der Versicherten mangelnde Anpassungsfähigkeit, Störung des Sozialverhaltens, Bewegungsdrang, Zwangshandlungen, geringe Frustrationstoleranz, Kurzschlusshandlungen, Aggressivität und ein comorbides Anfallsleiden, das im Zusammenhang mit dem gestörten Tag-Nacht-Rhythmus zu beobachten gewesen sei, vorgelegen. Auch eine deutlich verminderte Steuerungsfähigkeit sei von verschiedenen Personen in unterschiedlichen Situationen wahrgenommen worden. Diese deutlichen Orientierungsstörungen, die Intelligenzminderung mit Störung der Konzentration, der Ausdauer und des Gedächtnisses, die eingeschränkte Fähigkeit zur Affektregulation und Verhaltenskontrolle in Krisensituationen ergäben ebenso wie der gesteigerte Antrieb mit erhöhter Umtriebigkeit und Weglauftendenz sowie Störung des Tag-Nacht-Rhythmus einen extrem auffälligen psycho-pathologischen Befund. Der Sachverständige ist daher zu dem Ergebnis gekommen, dass eine geschlossene Unterbringung der Versicherten aus medizinischer Sicht indiziert gewesen sei. Die Notwendigkeit besonderer Sicherungsmaßnahmen zur Gefahrenabwehr habe bestanden. Eine Gefährdung allein im Zusammenhang mit Suizidtendenzen anzunehmen oder bei fehlenden Hinweisen für Suizidalität keine Gefährdung für möglich zu halten, ist nach Ansicht des Sachverständigen sträflicher Leichtsinn oder Ausdruck unzureichender Kompetenz.

Vorliegend darf aber bei der Beurteilung der Frage, ob eine Nebenpflicht aus dem Heimvertrag oder eine Verkehrssicherungspflicht verletzt worden ist, nicht auf die Sicht eines ausgebildeten Facharztes für Psychiatrie abgestellt werden. Es kommt vielmehr auf die Erkenntnismöglichkeiten einer fachlich ordnungsgemäß besetzten, gut organisierten Einrichtung der hier in Rede stehenden Art an. Der Sachverständige führte in seiner Einvernahme vor dem Senat aus, dass die Beurteilung der Selbst- und Fremdgefährdung eines geistig behinderten Menschen durch einen Arzt mit seiner Qualifikation einerseits und durch die in Behinderteneinrichtungen üblicherweise tätigen Personen andererseits aus unterschiedlichen Perspektiven geschehe und dass dabei unterschiedliche Gesichtspunkte eine Rolle spielen würden. Seine Ausführungen im Gutachten seien aufgrund seines spezifischen Blickwinkels als Mediziner zu verstehen. Was ein medizinischer Laie über bestehende Gefahrenpotenziale bei einem geistig behinderten Menschen wissen könne, hänge insbesondere von den ihm zur Verfügung stehenden Informationen ab. Der Beklagte sei von verschiedenen Seiten und auch aus eigenen Beobachtungen darüber informiert gewesen, dass es bei der Versicherten im Jahre 2008 verstärkt zu Verhaltensauffälligkeiten gekommen sei. Allerdings sei gleichzeitig darauf hingewiesen worden, dass dies nicht mit einer akuten Fremd- oder Selbstgefährdung verbunden sei. Auf die Frage der Prozessbevollmächtigten der Klägerinnen, ob die Mitarbeiter des Beklagten hätten erkennen können, dass die Unterbringung von Frau L. in der Einrichtung des Beklagten inadäquat sei, erklärte der Sachverständige, dass er dies nicht beantworten könne.

Stellt man auf die Erkenntnismöglichkeiten des Beklagten und seiner Mitarbeiter ab, so kann dem Beklagten nicht der Vorwurf gemacht werden, dass er seine Aufsichtspflicht aus dem Heimvertrag oder eine daneben bestehende inhaltsgleiche Verkehrssicherungspflicht verletzt hat. Kurz vor ihrem Fall aus dem Fenster im ersten Stock der Wohnstätte am 19. Juli 2008 war die Versicherte vom 04. Juli 2008 bis zum 10. Juli 2008 im Fachkrankenhaus für Psychiatrie und Neurologie Hildburghausen untergebracht gewesen. Aus dem den Mitarbeitern des Beklagten vorliegenden Entlassungsbogen vom 08. Juli 2008 ist zu entnehmen, dass die Versicherte als arbeitsfähig für die Werkstatt entlassen worden ist und keine weiteren Auffälligkeiten auf der Station aufgetreten seien. Der Entlassungsbericht enthielt keinerlei Hinweise auf eine bestehende oder fortbestehende Selbst- oder Fremdgefährdung. Dass der Entlassungsbericht aus Sicht eines Fachmediziners nichts über die Frage einer Selbst- oder Fremdgefährdung aussagt, sondern sich die dort getroffenen Aussagen nur auf die Indikation bei der Aufnahme beziehen, wie der Sachverständige in seiner Anhörung vor dem Senat angegeben hat, war für die Mitarbeiter des Beklagten, die keine Fachärzte für Psychiatrie sind, nicht erkennbar.

Auch legt der Sozialbericht vom 30.05.2008 keine andere Betrachtungsweise nahe. Zwar wird dort ausgeführt, dass bei der Versicherten eine kontinuierliche Verschlechterung und deutliche Persönlichkeitsveränderung aufgetreten seien. So falle es ihr schwer, am Arbeitsplatz sitzen zu bleiben. Sie gehe während der Arbeit mindestens 40 bis 50 mal zur Toilette. Auch versuche sie ständig wegzulaufen und sei auch in ihrem Drang aus dem Fenster im ersten Stock gesprungen. Letzteres wurde dann vom Zeugen B. in seiner Aussage vor dem Landgericht relativiert. Dieser Bericht war aber den Mitarbeitern des Beklagten nicht bekannt, wie sich aus der Aussage der Zeugin W. vor dem Landgericht ergibt. Auch sind diese Gefährdungen nicht in der Wohnstätte beobachtet worden, sondern in der Werkstatt, so dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass diese den Mitarbeitern des Beklagten auch ohne Vorlage des Sozialberichtes vom 30.05.2008 hätten aufgefallen sein müssen.

Überdies ist zu sehen, dass den Mitarbeitern des Beklagten grundsätzlich ein gewisser Beurteilungsspielraum bei der Frage der Verlegung der Versicherten in eine geschlossene Einrichtung und bei sonstigen Sicherungsmaßnahmen einzuräumen ist. Im Rahmen dessen hat grundsätzlich eine umfassende Abwägung der betroffenen Rechtsgüter stattzufinden. Den Interessen der Betroffenen und Dritter an der Vermeidung von Gefahren und Schädigungen sind gegenüberzustellen:

 

– die Erreichung der bei dem Betroffenen angestrebten therapeutischen und medizinischen Ziele,

– das Interesse des Betroffenen an größtmöglicher Autonomie und

– der Grundsatz der Unterbringung unter normalen Lebensverhältnissen möglichst weit-

gehend angenäherten Bedingungen.

So sind die Wohnstätten E. Bestandteil im Netz der Hilfsangebote des Beklagten, die in den Bereichen Wohnen, Arbeiten und Freizeit die Integration von Menschen mit Behinderungen in gesellschaftliche Strukturen ermöglichen. Es handelt sich bei der Einrichtung der Beklagten um ein „offenes“ Haus mit entsprechenden Wohngruppen und nicht um eine geschlossene Einrichtung. Wichtiges Ziel ist dabei die Hilfe zur Selbsthilfe, sowohl im privaten Lebensraum als auch bei der Teilnahme am öffentlichen Leben. Durch die Betreuung und heilpädagogische Förderung sollen vor allem die Eigenständigkeit im lebenspraktischen Bereich und die Sozialkompetenz verbessert werden. Dieser Zielsetzung würde es entgegenlaufen, wenn man die betreuten Heimbewohner bei jedem auch nur geringen Verdacht auf Selbst- oder Fremdgefährdung sofort in einer geschlossenen Einrichtung unterbringen würde.

Auch ist das Interesse der Betroffenen an größtmöglicher Autonomie in die Abwägung mit einzustellen. Die Wahrung weitest möglicher Autonomie der behinderten Menschen wurzelt in deren Menschenwürde, wie sie in Art. 1 Abs. 1 GG und in Art. 1 Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannt ist. Darüber hinaus ist der Respekt der Selbstständigkeit behinderter Menschen in der UN-Behindertenrechtskonvention verankert, etwa durch das Recht auf Freiheit und Sicherheit der Person in Art. 14 oder das Recht auf unabhängige Lebensführung und Einbeziehung in die Gemeinschaft in Art. 19 der Konvention. Dies verbietet nicht nur entwürdigende Überwachungs- und Sicherungsmaßnahmen, sondern auch eine „allzu strikte Verwahrung“ (vgl. BGH, Urteil vom 31. Oktober 2013 – III ZR 388/12, juris Rn. 11). Jedenfalls ist der Gesichtspunkt der Schonung von Autonomie und der Ermöglichung einer selbständigen Lebensführung maßgeblich in die erforderlichen Abwägungsprozesse einzubeziehen (vgl. auch die kritischen „abschließenden Bemerkungen“ des UN-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen über den ersten Staatenbericht Deutschlands, wonach der Ausschuss unter anderem besorgt ist „über die verbreitete Praxis der Zwangsunterbringung von Menschen mit psychosozialen Behinderungen in Einrichtungen“ oder den „mangelnden Schutz ihrer Privatsphäre“).

Ausgehend vom gesetzten Therapieziel und den Interessen der Versicherten, auch als Behinderte in einem bestimmten Rahmen autonom handeln zu können und den den Mitarbeitern des Beklagten zum Zeitpunkt des Unfallgeschehens vorliegenden Erkenntnisquellen kann daher dem Beklagten nicht der Vorwurf gemacht werden, dass er in Verkennung der konkret bestehenden Situation die Versicherte nicht in einer geschlossenen Anstalt untergebracht hat oder zumindest das Fenster im Zimmer der Betroffenen und konsequenterweise dann auch alle Fenster im ersten Stock des Gebäudes, in dem die Betroffene gewohnt hat, so abgesichert hat, dass ein vollständiges Öffnen der Fenster nicht möglich gewesen wäre. So handelte es sich bei dem kurz vor dem Unfallgeschehen stattgefundenen Aufenthalt der Versicherten in der geschlossenen Abteilung der Psychiatrie in H. nicht um ein einmaliges Ereignis. Vielmehr war es in der Vergangenheit bereits ständige Übung, dass die Versicherte bei Überhandnehmen ihrer psychopathologischen Störungen für einige Zeit in der eben genannten Klinik untergebracht worden war. Nach diesen Aufenthalten lebte die Versicherte in der Wohnstätte weiter und besuchte auch die Werkstätte. Anhaltspunkte dafür, weshalb dies diesmal anders sein sollte, waren für die Mitarbeiter des Beklagten nicht erkennbar. Auch widerspricht es dem Charakter der Einrichtung der Beklagten und dem angestrebten Therapiezweck, dass man die Verwahrung der Heimbewohner allzu strikt handhabt. Den Mitarbeitern des Beklagten ist zuzubilligen, dass sie aufgrund der in der Vergangenheit gemachten Erfahrungen auch diesmal darauf vertrauen durften, dass eine akute Selbstgefährdung der Versicherten nicht gegeben war. Die Behandlung der Versicherten der Klägerinnen vom 4. bis 10. Juli 2008 führte auch zu einer Umstellung der Medikamente. Die Mitarbeiter des Beklagten durften sich auf die Wirksamkeit der neuen Medikamente verlassen. Anhaltspunkte für Zweifel an der Wirksamkeit der neuen Medikation lassen sich dem Entlassungsbericht vom 08. Juli 2008 nicht entnehmen.

Im Übrigen wäre eine schuldhafte Pflichtverletzung der Mitarbeiter des Beklagten nicht kausal für das Schadensereignis am 19. Juli 2008 gewesen. Die Versicherte ist am 10. Juli 2008 aus der geschlossenen Abteilung der Psychiatrie in H. in die Wohnstätte des Beklagten zurückgekehrt. Aus dem Entlassungsbericht lassen sich keine Anhaltspunkte entnehmen, dass im Wege eines Eilantrages eine erneute Unterbringung der Versicherten in der geschlossenen psychiatrischen Abteilung in H. angezeigt gewesen wäre und mit Erfolg hätte beantragt werden können. Eine Unterbringung in einer anderen geschlossenen Einrichtung hätte ohne Eilbedürftigkeit nicht bis zum 19. Juli 2008 bewerkstelligt werden können. Selbst wenn man also den Beklagten bzw. dessen Mitarbeiter für verpflichtet gehalten hätte, umgehend nach Rückkehr der Versicherten aus der geschlossenen Abteilung der Psychiatrie in H. den Antrag zu stellen, die Versicherte der Klägerinnen in einer geschlossenen Anstalt unterzubringen, wäre ein Unterlassen entsprechender Schritte für das Unfallgeschehen nicht kausal gewesen, da auch bei Einleitung solcher Schritte der Unfall nicht verhindert worden wäre. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass sich im Zeitraum vom 10. bis zum 19. Juli 2008 eine solche Einrichtung tatsächlich hätte finden lassen, was auch der Gutachter in seiner Einvernahme vor dem Senat bestätigte. Diesbezüglich führte er aus, dass erfahrungsgemäß die Unterbringung in einem geschlossenen Bereich schwierig ist, weil die Einrichtungen genau schauen, wen sie unterbringen sollen. Dies bedeute häufig, dass eine Vorstellung in den jeweiligen Heimen gewünscht werde und dass vor der Aufnahme ausführliche Berichte angefordert würden. Überdies hätte in diesem Zeitraum in rechtlicher Hinsicht keine gerichtliche Unterbringungsanordnung, die auch im Sinne einer Unterbringung ausgefallen wäre, erwirkt werden können

Auf die Berufung des Beklagten war somit das Urteil des Landgerichts Meiningen vom 11.07.2014 abzuändern und die Klage abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO, der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf den §§ 708Nr. 10, 711 ZPO.

Die Revision wird nicht zugelassen, da die Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung hat noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordern (§ 543 Abs. 2 ZPO).

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