BUNDESFINANZHOF
Az.: VI R 122/99
Urteil vom 26. Juli 2001
Vorinstanz: FG Niedersachsen
Leitsätze:
Ist in einem bestandskräftigen Kindergeldbescheid die Festsetzung des Kindergelds hinsichtlich der Höhe der Einkünfte und Bezüge des Kindes vorläufig erfolgt, so kann die Familienkasse die Festsetzung schon aus Gründen der Vorläufigkeit nach § 165 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 aufheben, sofern die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Jahresgrenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG überschreiten.
Normen:
§ 32 Abs. 4 Satz 2; AO 1977 § 165 Abs. 2 Satz 1 EStG
Gründe
Dem Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger), dem Vater des im Juli 1971 geborenen Sohnes D und des im Februar 1993 geborenen Sohnes J, ist durch Bescheid vom 7. Juli 1994 Kindergeld für D bis einschließlich September 1997 und für J bis einschließlich März 1997 bewilligt worden. Der Sohn D, der ein Studium aufgenommen hatte, erhielt von Mai 1996 bis Dezember 1997 ein Stipendium in Höhe von 1 600 DM monatlich. Dies teilte der Kläger dem Beklagten und Revisionskläger (Landesamt für Bezüge und Versorgung –Familienkasse–) im August 1996 mit. Mit Bescheid vom 28. August 1996 setzte die Familienkasse daraufhin das Kindergeld für den Sohn D bis Ende 1996 und für den Sohn J bis März 1997 fest. Der Bescheid enthielt den Zusatz, dass die Festsetzung des Kindergeldes hinsichtlich der Einkünfte und Bezüge der Söhne „unter dem Vorbehalt der Rückforderung“ erfolge. Weiter war ausgeführt, der Sohn D könne für das Kalenderjahr 1997 nicht mehr berücksichtigt werden, weil seine Einkünfte und Bezüge voraussichtlich den Jahresgrenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) überschritten. In einem weiteren Bescheid vom 7. Februar 1997 setzte die Familienkasse das Kindergeld für den Sohn J bis März 1999 fest.
Mit Bescheid vom 10. Juni 1997 hob die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung für den Sohn D für das Jahr 1996 auf und forderte das insoweit gezahlte Kindergeld gemäß § 37 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) zurück. Da die Einkünfte und Bezüge des Sohnes D den Grenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG überschritten hätten, würden der Bescheid vom 7. Juli 1994 und alle in der Zwischenzeit ergangenen –lediglich wiederholenden Bescheide– ab 1. Januar 1996 gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 aufgehoben.
Der dagegen nach erfolglosem Einspruchsverfahren gerichteten Klage hat das Finanzgericht (FG) mit den in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1999, 906 veröffentlichten Gründen stattgegeben. Zur Begründung führte das FG im Wesentlichen aus: Obwohl die Einkünfte und Bezüge des Sohnes D im Jahr 1996 den Jahresgrenzbetrag überschritten hätten, sei eine Änderung der Kindergeldfestsetzung nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 nicht mehr möglich. Der Sachverhalt habe sich nach dem Erlass des maßgebenden (Änderungs-)Bescheides vom 7. Februar 1997 nicht nochmals (mit Rückwirkung) geändert. Der dem Bescheid vom 7. Februar 1997 beigefügte Vorläufigkeitsvermerk beziehe sich nur auf die Festsetzung des Kindergelds für den Sohn J, nicht aber auf die Kindergeldfestsetzung für den Sohn D.
Mit der Revision rügt die Familienkasse die Verletzung des § 70 Abs. 2 EStG. Sie beantragt sinngemäß, das Urteil des Niedersächsischen FG vom 5. Mai 1999 II 651/97 Ki aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision aus den zutreffenden Gründen des angefochtenen Urteils zurückzuweisen.
Die Revision ist begründet, sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung –FGO–).
1. Die Familienkasse hat mit dem streitbefangenen Bescheid vom 10. Juni 1997 weder die Kindergeldfestsetzung für den Sohn D vom 7. Juli 1994 noch die allein den Sohn J betreffende Kindergeldfestsetzung vom 7. Februar 1997 geändert. Rechtsgrundlage für die Zahlung von Kindergeld für den Sohn D für das Streitjahr 1996 war der Bescheid vom 28. August 1996. Vorangegangene Bescheide entfalteten nach der Kindergeldfestsetzung für den Sohn D in diesem Bescheid keine Wirkung mehr. Die mit Bescheid vom 28. August 1996 erfolgte Festsetzung des Kindergelds für den Sohn D erfuhr durch den Bescheid vom 7. Februar 1997 keine Änderung. Letzterer betraf allein die Festsetzung von Kindergeld für den Sohn J und änderte den Bescheid vom 28. August 1996 nur insoweit. Eine Regelung über den Anspruch auf Kindergeld für den Sohn D enthielt der Bescheid vom 7. Februar 1997 nicht.
2. Der Bescheid vom 28. August 1996 war hinsichtlich der in Rede stehenden Kindergeldfestsetzung für den Sohn D mit einem Vorläufigkeitsvermerk gemäß § 165 Abs. 1 AO 1977 versehen. Das Wort „vorläufig“ braucht in einem solchen Vermerk nicht verwendet zu werden. Es reicht aus, wenn deutlich wird, dass wegen bestehender –im Einzelnen genannter Ungewissheiten (§ 165 Abs. 1 Nr. 3 AO 1977)– die abschließende Festsetzung noch aussteht. Dem von der Familienkasse im Streitfall beigefügten Zusatz zum Bescheid vom 28. August 1996 ist zu entnehmen, dass die Festsetzung des Kindergeldes für die Söhne D und J wegen der noch unbekannten Höhe der Einkünfte und Bezüge beider Söhne vorläufig erfolgt ist.
3. Der Senat braucht nicht zu entscheiden, ob die Familienkasse das Kindergeld im Streitfall vorläufig festsetzen durfte. Der mit dem Vorläufigkeitsvermerk versehene Bescheid vom 28. August 1996 ist bestandskräftig. Einwendungen gegen die Rechtmäßigkeit der in dem Bescheid ausgesprochenen vorläufigen Festsetzung können im vorliegenden den Aufhebungsbescheid vom 10. Juni 1997 betreffenden Verfahren nicht geprüft werden (vgl. Urteile des Bundesfinanzhofs –BFH– vom 12. März 1991 IX R 282/87, BFH/NV 1991, 506; vom 15. Juli 1987 X R 19/80, BFHE 150, 459, 461, BStBl II 1987, 746; vom 7. Februar 1995 IX R 68/92, BFH/NV 1995, 939).
4. Die Sache ist nicht spruchreif. Das FG hat keine Feststellungen dazu getroffen, ob bei dem Sohn D im Jahr 1996 ein ausbildungsbedingter Mehraufwand entstanden ist. Das FG hat zwar festgestellt, bei Einnahmen aus dem Stipendium in Höhe von insgesamt 12 800 DM verblieben nach Abzug der Kostenpauschale in Höhe von 360 DM Bezüge in Höhe von 12 440 DM; darüber hinaus gehende Unkosten im Zusammenhang mit den Bezügen habe der Kläger nicht geltend gemacht. Nach Ergehen des angefochtenen Urteils hat der Senat jedoch mit den Urteilen jeweils vom 14. November 2000 VI R 128/00 (BFHE 193, 457, BStBl II 2001, 495), VI R 62/97 (BFHE 193, 444, BStBl II 2001, 491) und VI R 52/98 (BFHE 193, 453, BStBl II 2001, 489) entschieden, dass von den Einkünften und Bezügen des Kindes nach § 32 Abs. 4 Satz 2 und 3 EStG auch der ausbildungsbedingte Mehraufwand abzuziehen ist. Das FG wird deshalb festzustellen haben, ob die Bezüge des Sohnes D den Jahresgrenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG in Höhe von 12 000 DM auch nach Abzug der für den Zeitraum Mai bis Dezember 1996 zu berücksichtigenden Kostenpauschale nach der Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs nach dem X. Abschnitt des Einkommensteuergesetzes 63.4.2.3. Abs. 4 (BStBl I 1997, 7, 23) sowie besonderer Ausbildungskosten überschritten haben.