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Krankentagegeldversicherung – Leistungspflicht bei teilweiser Arbeitsfähigkeit

Bundesgerichtshof

BGH

Az.: IV ZR 239/11

Urteil vom 03.04.2013


Leitsatz (vom Verfasser – nicht amtlich):

In einer Krankentagegeldversicherung entfällt die Arbeitsunfähigkeit eines Versicherungsnehmers nicht, wenn er lediglich zu einzelnen Arbeitstätigkeiten im Rahmen seiner Berufstätigkeit in der Lage ist, welche jedoch seine vollständige Berufsausübung nicht ermöglichen. Die Krankentagegeldversicherung ist in diesen Fällen dazu verpflichtet, dass vertraglich vereinbarte Krankentagegeld an den Versicherten – auch über mehrere Jahre – weiterzuzahlen.


Der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 3. April 2013 für Recht erkannt:

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 8. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Celle vom 24. November 2011 aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Tatbestand:

Der Kläger, von Beruf Rechtsanwalt, macht Leistungsansprüche aus einer bei der Beklagten unterhaltenen Krankentagegeldversicherung für die Zeit vom 8. Juni 2010 bis zum 3. Juni 2011 geltend.

Dieser Versicherung liegen Allgemeine Versicherungsbedingungen für die Krankentagegeldversicherung (AVB/KT 2008) zugrunde, in denen es – insoweit im Wesentlichen gleichlautend mit den Musterbedingungen 2009 für die Krankentagegeldversicherung des Verbandes der privaten Krankenversicherung (MB/KT) – unter anderem wie folgt heißt:

„§ 1 Gegenstand, Umfang und Geltungsbereich des Versicherungsschutzes

1. Der Versicherer bietet Versicherungsschutz gegen Verdienstausfall als Folge von Krankheiten oder Unfällen, soweit dadurch Arbeitsunfähigkeit verursacht wird. Er zahlt im Versicherungsfall für die Dauer einer Arbeitsunfähigkeit ein Krankentagegeld in vertraglichem Umfang.

2. Versicherungsfall ist die medizinisch notwendige Heilbehandlung einer versicherten Person wegen Krankheit oder Unfallfolgen, in deren Verlauf Arbeitsunfähigkeit ärztlich festgestellt wird. Der Versicherungsfall beginnt mit der Heilbehandlung; er endet, wenn nach medizinischem Befund keine Arbeitsunfähigkeit und keine Behandlungsbedürftigkeit mehr bestehen. …

3. Arbeitsunfähigkeit im Sinne dieser Bedingungen liegt vor, wenn die versicherte Person ihre berufliche Tätigkeit nach medizinischem Befund vorübergehend in keiner Weise ausüben kann, sie auch nicht ausübt und keiner anderen Erwerbstätigkeit nachgeht. …“

Nach § 15 der Bedingungen endet das Versicherungsverhältnis unter anderem mit Eintritt der Berufsunfähigkeit der versicherten Person.

Aufgrund eines leichten Schlaganfalls mit der Folge einer Lesestörung (Dyslexie) war der Kläger jedenfalls ab dem 23. August 2006 arbeitsunfähig. Die Beklagte zahlte ihm daraufhin das vereinbarte Krankentagegeld, stellte die Zahlungen jedoch mit Ablauf des 22. Juli 2007 ein, weil sie der Auffassung war, dass das Versicherungsverhältnis durch den Eintritt von Berufsunfähigkeit beendet sei.

Auf die daraufhin erhobene Klage wurde die Beklagte rechtskräftig zur Zahlung von Krankentagegeld bis zum 27. Februar 2009 verurteilt.

Sie nahm danach die Zahlungen wieder auf, kündigte aber mit Schreiben vom 1. März 2010 erneut die Einstellung der Zahlungen an, weil nunmehr Berufsunfähigkeit vorliege.

Mit seiner Klage begehrt der Kläger die Zahlung von Krankentagegeld für den oben genannten Zeitraum in Höhe von insgesamt 36. 966, 40 € (361 Tage à 102, 40 €) nebst Zinsen.

Das Landgericht hat der Klage stattgegeben, das Oberlandesgericht hat sie abgewiesen. Dagegen wendet sich die Revision des Klägers, der die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils erstrebt.

Entscheidungsgründe:

Die Revision hat Erfolg und führt zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.

I. Das Berufungsgericht hat die Frage nach einer beim Kläger inzwischen eingetretenen Berufsunfähigkeit offen gelassen und ausgeführt, es fehle bereits an einem Versicherungsfall i. S. von § 1 Nr. 2 AVB/KT 2008. Innerhalb des streitgegenständlichen Zeitraums habe keine andauernde Arbeitsunfähigkeit mehr vorgelegen; der Kläger könne seiner Berufstätigkeit jedenfalls in einem geringen Umfang wieder nachgehen. Bedingungsgemäße Arbeitsunfähigkeit bestehe nach § 1 Nr. 3 AVB/KT 2008 nur bei vollständiger Arbeitsunfähigkeit, bereits der Wiedereintritt auch nur teilweiser Arbeitsfähigkeit lasse die Leistungspflicht des Versicherers vollständig entfallen.

Das Lesen von Texten sei dem Kläger nach dem in erster Instanz eingeholten Sachverständigengutachten nicht unmöglich, sondern nur mit größerem Zeitaufwand verbunden. Hinsichtlich aller anderen Anwaltstätigkeiten (Mandantengespräche, Diktate, Auftreten vor Gericht) unterliege er keinen Einschränkungen. Dass er möglicherweise insgesamt nur ein oder zwei Mandate innerhalb einer Arbeitswoche bearbeiten könne, sei ohne Belang.

Ebenfalls sei dem Kläger die für einen Fachanwalt notwendige Fortbildung möglich, da er Fortbildungsveranstaltungen besuchen könne.

Dadurch werde auch das Argument entkräftet, dass er sich bei Übernahme eines Mandats unkalkulierbaren Haftungsrisiken aussetze. Unzutreffend sei die von ihm geäußerte Auffassung, er sei gemäß § 43a BRAO zur Lektüre mindestens zweier juristischer Periodika verpflichtet.

Weder sehe das Gesetz eine solche Verpflichtung vor, noch sei sie im Wege der Rechtsfortbildung von der Rechtsprechung begründet worden.

II. Dies hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Die Feststellungen des Berufungsgerichts vermögen dessen Annahme einer teilweise gegebenen Arbeitsfähigkeit des Klägers im streitgegenständlichen Zeitraum nicht zu tragen.

1. Im Ansatz zutreffend geht das Berufungsgericht allerdings davon aus, dass bereits eine nur zum Teil gegebene Arbeitsfähigkeit genügt, um den Anspruch auf Krankentagegeld auszuschließen. Diese setzt aber voraus, dass der Versicherungsnehmer in der Lage ist, dem ausgeübten Beruf in seiner konkreten Ausgestaltung mindestens teilwe ise nachzugehen (Senatsurteil vom 25. November 1992 – IV ZR 187/91, VersR 1993, 297 unter II 1).

2. Hierfür genügt es entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts nicht, dass der Versicherte lediglich zu einzelnen Tätigkeiten in der Lage ist, die im Rahmen seiner Berufstätigkeit zwar auch anfallen, isoliert aber keinen Sinn ergeben. Dies schließt es aus, bei einem selbständig tätigen Rechtsanwalt, der eigenständig Mandate bearbeitet, nur auf einen Ausschnitt der dabei anfallenden Aufgaben, wie zum Beispiel das Führen von Mandantengesprächen, abzustellen. Vielmehr stellt die Fähigkeit zum flüssigen Lesen und Durcharbeiten von Texten regelmäßig eine Grundvoraussetzung für das Ausüben des juristischen Berufs dar; für den Beruf des Rechtsanwalts ist eine weitgehend erhaltene Lesefähigkeit unabdingbar. Nur so ist für den Rechtsanwalt – mag auch eine Übernahme von Mandaten nur in reduziertem Umfang möglich sein – die Fähigkeit zur umfassenden Bearbeitung dieser übernommenen Mandate und Vertretung des Mandanten gegeben.

Nichts anderes ergibt sich aus dem vom Berufungsgericht für seine Auffassung herangezogenen Senatsurteil vom 18. Juli 2007 (IV ZR 129/06, VersR 2007, 1260). Zwar hat der Senat dort bei einem Architekten, der nachweislich an drei Tagen Akquisetätigkeit ausgeübt hatte, diese Tätigkeit für den Verlust des Tagegeldanspruchs ausreichen lassen, allerdings nur für jene drei Tage. Diese Rechtsfolge ergab sich allein aus dem Tatbestandsmerkmal „sie auch nicht ausübt“ in § 1 Abs. 3 MB/KT.

Dieses selbständige Tatbestandsmerkmal knüpft an die tatsächliche Ausübung der Berufstätigkeit in Teilbereichen trotz insgesamt weiter vorliegender Arbeitsunfähigkeit an und sanktioniert eine solche Tätigkeit mit dem Verlust des Tagegeldanspruchs. Der Senat hat indes aus der Fähigkeit zur Akquise – obwohl er hierin eine teilweise Berufsausübung gesehen hat – gerade nicht generell auf eine teilweise Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit geschlossen. Er hat das dortige Berufungsurteil vielmehr hinsichtlich des weiteren Tagegeldanspruchs (für die anderen als die drei betroffenen Tage) aufgehoben und die Sache insoweit an das Berufungsgericht zurückverwiesen (aaO Rn. 44).

3. Nicht zu folgen ist der Annahme des Berufungsgerichts, der Kläger könne zumindest ein bis zwei Mandate pro Woche bearbeiten, wenn er sich auf Mandate für „einfache Kündigungsschutzklagen“ und im Übrigen auf Rechtsgebiete beschränke, in denen eine Fortbildung durch Vorträge möglich sei, so dass sein Haftungsrisiko das gewöhnliche Maß nicht übersteige. Das Berufungsgericht hat die Anforderungen, die an einen Rechtsanwalt bei seiner Berufsausübung nach gefestigter Rechtsprechung zu stellen sind, in grundsätzlicher Weise verkannt, weshalb die getroffenen Feststellungen die Annahme einer teilweise wiederhergestellten Arbeitsfähigkeit nicht zu tragen vermögen.

a) Einen Rechtsanwalt treffen bei der Bearbeitung jedes Mandats umfassende Sorgfaltspflichten.

aa) Er ist insbesondere gehalten, die höchstrichterliche Rechtsprechung anhand der amtlichen Sammlungen und der einschlägigen Fachzeitschriften zu verfolgen (BGH, Urteile vom 23. September 2010 – IX ZR 26/09, WM 2010, 2050 Rn. 17 [für Steuerberater]; vom 21. September 2000 – IX ZR 127/99, NJW 2001, 675 unter II 1). Wer – wie der Kläger – fünf Jahre lang nicht gearbeitet und sich deshalb nicht auf dem Laufenden gehalten hat, muss die Entwicklung dieser Rechtsprechung zudem bei jedem einzelnen Mandat für die sich dort stellenden Fragen überprüfen. Die Übernahme des Mandats verpflichtet ihn, sich die Kenntnis von der maßgeblichen höchstrichterlichen Rechtsprechung zu verschaffen (Böhnlein in Feuerich/Weyland, BRAO 8. Aufl. § 43a Rn. 97). Insoweit ist vom Rechtsanwalt auch zu verlangen, dass er sich anhand aktueller Kommentierungen über die Rechtslage informiert (vgl. beispielhaft OLG Frankfurt am Main FamRZ 1991, 1047). Es liegt auf der Hand, dass die Erlangung der notwendigen Kenntnisse allein durch den Besuch einzelner Fortbildungsveranstaltungen, die in der Regel einen begrenzten Themenkomplex oder aktuelle Entwicklungen betreffen, nicht gewährleistet werden kann.

bb) Darüber hinaus muss der Rechtsanwalt auch an der Klärung des Sachverhalts mitwirken. Er wird sich zwar im Ausgangspunkt zunächst auf die Sachverhaltsdarstellung seines Mandanten verlassen können, der ihn zutreffend über die relevanten tatsächlichen Umstände zu informieren hat. Da ein Mandant aber als juristischer Laie in der Regel nicht zuverlässig beurteilen kann, worauf es rechtlich ankommt, hat der Anwalt gegebenenfalls nachzuhaken und mittels ergänzender Fragen die wirklich maßgeblichen Fakten zu ermitteln. Auch dabei wird er vielfach gezwungen sein, umfangreichere Urkunden und Texte, im Arbeitsrecht zum Beispiel einen Tarifvertrag oder Vertragsurkunden und behördliche Erlaubnisse, zu studieren und inhaltlich zu verarbeiten (vgl. BGH, Urteile vom 29. März 1983 – VI ZR 172/81, VersR 1983, 659 unter II 1 b bb; vom 15. Januar 1985 – VI ZR 65/83, VersR 1985, 363 unter II 2 a; vom 20. Juni 1996 – IX ZR 106/95, VersR 1997, 187 unter II 2 a m. w. N.).

cc) Des Weiteren übersieht das Berufungsgericht, dass ein Lesen von Schriftstücken selbst außerhalb von Recherchetätigkeiten jederzeit auch im Zusammenhang mit Mandantengesprächen und dem Auftreten vor Gericht erforderlich werden kann. So wird ein Mandant vielfach mit Korrespondenz, Verträgen und sonstigen Dokumenten zum Gespräch erscheinen, deren sofortige Durchsicht und erste Bewertung er erwartet. In der mündlichen Verhandlung vor Gericht muss der Anwalt darauf eingestellt sein, dass ihm vom Gericht oder vom Gegner Vorhaltungen anhand von Aktenbestandteilen oder sonstigen Schriftstücken gemacht werden, wozu eine Stellungnahme gefordert wird. Nicht selten legen auch Zeugen oder Sachverständige neue Unterlagen vor, die im Hinblick auf die Erklärungspflicht aus § 138 ZPO inhaltlich zur Kenntnis genommen werden müssen.

b) Das Berufungsgericht hat nicht festgestellt, ob der Kläger wieder in der Lage ist, die Anforderungen zu erfüllen, die nach den vorstehenden Grundsätzen an die anwaltliche Tätigkeit zu stellen sind, und ihm damit die Wiederaufnahme seiner durch ein komplexes Berufsbild gekennzeichneten Berufstätigkeit – wenn auch in reduziertem Umfang – möglich ist. Das Berufungsgericht konnte sich auch nicht auf gutachtliche Aussagen stützen, die die Annahme wiederhergestellter Arbeitsfähigkeit auf der Grundlage des zutreffenden Prüfungsmaßstabs tragen. Die Privatgutachter der Beklagten sind zur Begründung der von ihnen angenommenen Berufsunfähigkeit des Klägers noch von zutreffenden Voraussetzungen bezüglich der notwendigen Lesefähigkeit ausgegangen.

Das vom Landgericht eingeholte Gutachten, auf das das Berufungsgericht sich gestützt hat, verhält sich wiederum nicht zu der Frage, ob der Kläger im relevanten Zeitraum in der Lage gewesen ist, Texte in dem Umfang zu lesen und inhaltlich so zu erfassen, wie es nach der oben wiedergegebenen Rechtsprechung erforderlich ist. Insbesondere hat der gerichtliche Sachverständige aus der im Gutachten von ihm beschriebenen Leseleistung entsprechende weitergehende Schlüsse nicht gezogen.

III. Die Zurückverweisung gibt dem Berufungsgericht Gelegenheit, diese Prüfung auf zutreffender Grundlage zu wiederholen und im Falle weiter bestehender Arbeitsunfähigkeit auch die Frage nach einer Berufsunfähigkeit des Klägers zu beantworten.

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