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Sturz Radfahrer bei Verstoß gegen Rechtsfahrgebot im fließenden Verkehr

OLG Karlsruhe – Az.: 9 U 86/19 – Urteil vom 02.04.2020

I. Auf die Berufung des Klägers wird unter Zurückweisung seines weitergehenden Rechtsmittels das Urteil des Landgerichts Freiburg im Breisgau vom 23.05.2019, Az. 6 O 166/17, abgeändert und wie folgt neu gefasst:

I. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger 70 Prozent sämtlicher materieller Schäden sowie sämtliche immateriellen Schäden unter Berücksichtigung eines Mitverursachungsanteils von 30% zu ersetzen, die diesem aufgrund des Verkehrsunfalls vom 01.07.2016 gegen 10:30 Uhr in der … (Höhe Haus Nr. 31) in …. entstanden sind oder noch entstehen werden, soweit Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergangen sind oder übergehen werden.

II. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

II. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Landgerichts Freiburg im Breisgau vom 23.05.2019, Az. 6 O 166/17, wird zurückgewiesen.

III. Von den Kosten des Rechtsstreits trägt der Kläger 30%, die Beklagte 70%. Die durch die Nebenintervention verursachten Kosten trägt der Kläger zu 30%, im Übrigen behalten die Nebenintervenienten die Kosten auf sich.

IV. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Zwangsvollstreckung kann durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des aus dem Urteil vollstreckbaren Betrages abgewendet werden, sofern nicht die Gegenseite vor der Vollstreckung ihrerseits Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

V. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

I.

Der Kläger nimmt die Beklagte im Wege der Feststellungsklage auf Schadensersatz nach einem Verkehrsunfall in Anspruch. Der Kläger war an dem Unfall als Radfahrer beteiligt, er erlitt schwere Verletzungen mit dauerhaften Folgen.

Wegen der erstinstanzlichen Feststellungen wird gem. § 540 ZPO auf die angefochtene Entscheidung Bezug genommen.

Das Landgericht hat festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger 60 Prozent sämtlicher materieller und immaterieller Schäden zu ersetzen, die diesem aufgrund des Verkehrsunfalls vom 01.07.2016 gegen 10:30 Uhr in der … Höhe Haus Nr. 31) in … entstanden sind oder noch entstehen werden, soweit Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder übergehen werden.

Zur Begründung hat das Landgericht ausgeführt, die Haftung der Beklagten ergebe sich aus § 7 StVG, da der Kläger beim Betrieb eines von der Beklagten gehaltenen Kraftfahrzeugs verletzt worden und die Ersatzpflicht der Beklagten nicht gem. § 7 Abs. 2 StVG wegen höherer Gewalt ausgeschlossen sei. Der Kläger müsse sich aber ein Mitverschulden gem. § 254 BGB anrechnen lassen, unter Abwägung der beiderseitigen Verantwortlichkeiten sei von einer Haftungsquote der Beklagten von 60 Prozent auszugehen.

Nach der Beweisaufnahme stehe fest, dass sich das Beklagtenfahrzeug unmittelbar vor dem Unfall in Rückwärtsfahrt befunden habe. Zwar habe der Fahrer des Beklagtenfahrzeugs, der Zeuge …, angegeben, er habe unmittelbar vor dem Unfall nur den Motor gestartet, ohne bereits rückwärts auf die Straße zurückgesetzt zu haben. Diese Aussage stehe aber in Widerspruch zu den Aufzeichnungen des Zeugen … unmittelbar nach dem Unfall, nach denen der Zeuge … am Unfallort erklärt habe, er sei rückwärts aus dem Hof herausgefahren, als er plötzlich ein Geräusch gehört und den gestürzten Radfahrer im Rückspiegel gesehen habe. Dass sich das Beklagtenfahrzeug unmittelbar vor dem Sturz des Klägers in Rückwärtsfahrt befunden habe, belege zudem der Endstand des Fahrzeugs im Unfallzeitpunkt. Denn es sei nicht davon auszugehen, dass der Zeuge ……das Fahrzeug während des Auslieferns der Post entsprechend der Endstellung mitten auf der Fahrbahn abgestellt hätte, so dass die gesamte Fahrbahn für ein durchschnittlich breites Fahrzeug nicht mehr passierbar gewesen wäre. Vielmehr liege nahe, dass das Postfahrzeug erst nach dem Ausliefern der Post vom Hof weiter rückwärts in Richtung Straße bewegt worden sei.

Die Beweisaufnahme habe weiter ergeben, dass der Kläger beim Linksabbiegen in die … nicht am rechten Fahrbahnrand, sondern nur 1,0 – 1,5 m vom linken Fahrbahnrand entfernt gefahren sei und sich damit deutlich auf der linken Fahrspur befunden habe. Zudem habe er die Bremse seines Fahrrades falsch bedient, indem er die Vorderradbremse zu stark betätigt habe. Eine überhöhte Geschwindigkeit des Klägers sei dagegen nicht nachgewiesen.

Aus dem festgestellten Sachverhalt folge, dass der Fahrer des Beklagtenfahrzeugs schuldhaft seine Pflichten aus §§ 9 Abs. 5 und 10 StVO verletzt habe. Denn er sei rückwärts aus der Hofeinfahrt des Anwesens … gefahren, obwohl die Sicht durch die das Anwesen umgrenzende, ca. 1,80 m hohe Hecke stark eingeschränkt gewesen sei. Damit habe er die ihm nach beiden Vorschriften obliegende Pflicht, eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer auszuschließen, nicht erfüllt. Richtigerweise hätte er sich beim Rückwärtsfahren einweisen lassen müssen oder er hätte von vornherein rückwärts in den Hofbereich hineinfahren müssen, um anschließend vorwärts aus dem Hof herausfahren zu können.

Der Kläger dagegen habe gegen das Rechtsfahrgebot (§ 2 Abs. 2 StVO) und gegen das Rücksichtnahmegebot (§ 1 Abs. 1 StVO) verstoßen, indem er sich beim Abbiegen deutlich auf der linken Fahrbahn befunden habe. Dadurch habe er zum einen sich selbst die Sicht auf mögliche Gefahren und Hindernisse auf der linken Seite der Fahrbahn verkürzt und so dazu beigetragen, dass die Gefahrensituation für ihn später erkennbar geworden sei. Zum anderen habe er – in Kenntnis der Unübersichtlichkeit der Kreuzung – seine Erkennbarkeit für andere Verkehrsteilnehmer erschwert. Darüber hinaus habe er durch sein falsches Bremsen gegen die Pflicht verstoßen, sein Fahrzeug jederzeit sicher zu beherrschen.

Unter Abwägung der Verschuldensbeiträge sei die Verantwortlichkeit von Kläger- und Beklagtenseite im Ausgangspunkt gleich groß zu bemessen. Während beim Kläger der Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot die erhöhte Unfallgefahr begründet habe und ihm zudem – wenn auch mit geringem Gewicht für die Abwägung – die fehlerhafte Bedienung der Bremse zur Last zu legen sei, sei zu Lasten der Beklagten der Verstoß gegen die Pflicht aus §§ 9 Abs. 5, 10 StVO, eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer auszuschließen, einzustellen. Da zu Lasten der Beklagten zudem noch die Betriebsgefahr des VW-Transporters zu berücksichtigen sei, führe die Abwägung zu einer Haftungsquote von 60% zu Lasten der Beklagten.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gründe der angefochtenen Entscheidung verwiesen.

Gegen die Entscheidung des Landgerichts haben beide Parteien Berufung eingelegt, wobei beide ihre erstinstanzlichen Ziele – der Kläger die Feststellung einer 100%-igen Haftung der Beklagten, die Beklagte die Abweisung der Klage – weiter verfolgen.

Der Kläger hält zwar die Feststellungen des Landgerichts für zutreffend, er meint aber, die zugrunde zu legenden Tatsachen rechtfertigten eine andere Entscheidung.

Während das Landgericht zutreffend eine Haftung der Beklagten gem. § 7 Abs. 1 StVG annehme, lege es ihm auf der Grundlage seiner Feststellungen zu Unrecht ein Mitverschulden zur Last. Das Landgericht verkenne, dass der Fahrer des Beklagtenfahrzeugs aufgrund seiner Verstöße gegen §§ 9 Abs. 5, 10 StVO eine doppelte Kardinalspflichtverletzung begangen habe, so dass ein doppelter Anscheinsbeweis zu seinen Gunsten spreche. Diesen doppelten Anscheinsbeweis habe die Beklagte nicht erschüttert. Denn die Beklagte habe kein Fehlverhalten seinerseits vorgetragen und unter Beweis gestellt, das so schwer wiege, dass sogar die einfache Betriebsgefahr eines anderen Fahrzeugs dahinter zurücktrete.

Der Kläger hält die Entscheidung des Landgerichts darüber hinaus für widersprüchlich, weil das Landgericht einerseits feststelle, das vorschriftswidrige Befahren der linken Fahrbahn beseitige nicht die Verpflichtung des Einfahrenden, dem fließenden Verkehr den Vorrang zu belassen, dann aber andererseits zu seinen Lasten eine Anspruchskürzung wegen eines Verstoßes gegen das Rechtsfahrgebot vornehme.

Der Kläger meint weiter, das Landgericht hätte seinen Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot im Rahmen der Haftungsabwägung nicht berücksichtigen dürfen, weil dieser Verstoß nicht unfallursächlich gewesen sei. Da es unstreitig nicht zu einer Kollision gekommen sei, sei er seinen Pflichten als Radfahrer gerecht geworden. Denn er sei mit einer derartigen Geschwindigkeit gefahren, dass er sein Fahrrad ständig beherrscht habe und innerhalb der übersehbaren Strecke zum Stillstand gekommen sei.

Auch eine fehlerhafte Bedienung der Bremsen hätte das Landgericht nach Auffassung des Klägers nicht im Rahmen der Haftungsabwägung als Mitverschulden berücksichtigen dürfen. Insoweit fehle es an der subjektiven Vorwerfbarkeit, da es sich um eine Gefahrenbremsung gehandelt habe, die absolut notwendig gewesen sei, um eine direkte Kollision zu vermeiden.

Die Abwägung der Verschuldensbeiträge durch das Landgericht hält der Kläger zudem deshalb für fehlerhaft, weil der Verstoß des Fahrers des Beklagtenfahrzeugs gegen die Pflichten aus §§ 9 Abs. 5, 10 StVO derart massiv sei, dass eine Verantwortlichkeit seinerseits im Wege des Mitverschuldens dahinter völlig zurücktrete. Da zu Lasten der Beklagten darüber hinaus die Betriebsgefahr ihres Fahrzeugs einzustellen sei, sei nicht nachvollziehbar, wie das Landgericht zu einer Haftung der Beklagten dem Grunde nach von nur 60% gelange.

Der Kläger beantragt,

1. das Urteil des Landgerichts, Az. 6 O 166/17 vom 31.05.2019 aufzuheben;

2. festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger sämtliche materiellen und immateriellen Schäden, die diesem aufgrund des Verkehrsunfalls vom 01.07.2016 gegen ca. 10:30 Uhr in … (Höhe Haus Nr. 31) in entstanden sind oder noch entstehen werden, soweit Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder übergehen werden, zu ersetzen;

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3. die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

1. das Urteil des Landgerichts Freiburg i. Br. vom 23.05.2019, Az. 6 O 166/17 abzuändern und die Klage abzuweisen.

2. die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Die Streithelfer der Beklagten schließen sich den Anträgen der Beklagten an.

Die Beklagte hält die Beweiswürdigung des Landgerichts für fehlerhaft. Weder die schriftliche Notiz des Zeugen … nach dem Unfall noch die Endstellung des Beklagtenfahrzeugs rechtfertige die vom Landgericht getroffene Feststellung, dass der Fahrer des Beklagtenfahrzeug im Unfallzeitpunkt rückwärtsgefahren sei. Keiner der angehörten Zeugen habe eine Rückwärtsfahrt des Beklagtenfahrzeugs bestätigen können. Im Gegenteil habe der Zeuge … ausdrücklich geschildert, er sei sich sicher, nicht rückwärts gefahren zu sein. Die den Unfall aufnehmenden Polizeibeamten hätten keine Erinnerung an die konkreten Äußerungen des Zeugen … nach dem Unfall mehr gehabt, die Zeugin … habe das eigentliche Unfallgeschehen nicht wahrgenommen. Der vom Zeugen … gefertigte Vermerk vom 05.07.2016 führe nicht weiter. Denn es sei nicht auszuschließen, dass der Zeuge … eine vom Zeugen … geschilderte beabsichtigte Rückwärtsfahrt als bereits eingeleitete Rückwärtsfahrt missverstanden habe. Ein solches geringfügiges Missverständnis könne gerade in unmittelbarem zeitlichem Zusammenhang mit der Aufnahme eines Unfalls mit dramatischen Folgen leicht entstehen, zumal der Aktenvermerk im Nachhinein gefertigt worden sei, ohne dass für den Zeugen … eine Möglichkeit zur Klarstellung bestanden habe. Soweit das Gericht zudem aus der markierten Unfallendstellung des Beklagtenfahrzeugs auf eine Rückwärtsfahrt geschlossen habe, sei auch dies nicht überzeugend. Denn aus der reinen Endstellung eines Fahrzeugs könne nicht geschlossen werden, in welcher Stellung es abgestellt worden sei.

Die Beklagte meint, angesichts des fehlenden Nachweises einer Rückwärtsfahrt lägen die Voraussetzungen für den vom Kläger für anwendbar gehaltenen Anscheinsbeweis nicht vor. Selbst wenn man dies anders sehe, führe das nachgewiesene schwere Eigenverschulden des Klägers zu einem vollständigen Zurücktreten der Betriebsgefahr ihres Fahrzeugs, so dass die Klage abzuweisen sei. Dasselbe gelte im Übrigen selbst dann, wenn man eine Rückwärtsfahrt für nachgewiesen halte. Denn auch in diesem Fall treffe den Kläger ein derart gravierendes Mitverschulden am Unfall, dass Ansprüche ihr gegenüber ausgeschlossen seien. Nach den eindeutigen Feststellungen des Sachverständigen Dr. … sei der Kläger in einer schlecht einsehbaren Kurve, in der die Sicht zudem durch eine vorhandene Hecke noch weiter eingeschränkt gewesen sei, äußerst weit links gefahren. Der Sachverständige habe zudem nachvollziehbar weiter ausgeführt, dass der Kläger bei Einhaltung des Rechtsfahrgebots nicht nur ohne weiteres hinter ihrem Fahrzeug hätte vorbeifahren, sondern dieses Fahrzeug auch rechtzeitig hätte erkennen und ohne Schwierigkeiten hierauf hätte reagieren können. Das tragische Geschehen sei daher allein dem Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot seitens des Klägers geschuldet.

Soweit der Kläger seinen Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot nicht für unfallursächlich halte, verkenne er, dass ohne diesen Pflichtverstoß eine Notfallbremsung gar nicht erforderlich gewesen wäre. Anders als von ihm vorgetragen, habe er das Sichtfahrgebot gerade nicht erfüllt, da er nicht ordnungsgemäß zum Anhalten gekommen sondern schwer gestürzt sei.

Die Beklagte meint weiter, das Landgericht habe verkannt, dass es sich vorliegend um einen berührungslosen Unfall handele, so dass besonderes hohe Anforderungen an ein Mitverschulden zu stellen seien. Unstreitig sei der Kläger deutlich vor ihrem Fahrzeug gestürzt, obwohl es ihm ohne weiteres möglich gewesen wäre, sein Fahrrad ordnungsgemäß abzubremsen und gleichzeitig ggf. nach rechts auszuweichen, wo er ohnehin hätte fahren müssen. Der tragische Sturz beruhe demnach ausschließlich auf dem doppelten Fahrfehler des Klägers („verbotswidrige Linksfahrt“ und „misslungenes Bremsmanöver“).

Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens in der Berufungsinstanz wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.

II.

Die zulässige Berufung des Klägers ist teilweise begründet, die zulässige Berufung der Beklagten dagegen unbegründet.

Zwar bestehen keine Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der erstinstanzlichen Feststellungen; die der Entscheidung zugrunde zu legenden Tatsachen rechtfertigen aber eine andere Entscheidung, § 513 ZPO.

1.

Mit ausführlicher und zutreffender Begründung, auf die vollumfänglich verwiesen werden kann, hat das Landgericht eine Haftung der Beklagten aus § 7 StVG bejaht.

2.

Sturz Radfahrer bei Verstoß gegen Rechtsfahrgebot im fließenden Verkehr
(Symbolfoto: Von connel/Shutterstock.com)

Zutreffend hat das Landgericht auch entschieden, dass sich der Kläger nach § 254 BGB ein Mitverschulden zurechnen lassen muss.

Die Abwägung der wechselseitigen Verursachungsbeiträge führt jedoch zu einer höheren Haftungsquote der Beklagten als vom Landgericht angenommen.

a.

Dass das Landgericht im Rahmen der Haftungsabwägung zu Lasten der Beklagten nicht nur die Betriebsgefahr, sondern auch einen Verstoß gegen § 9 Abs. 5 StVO und gegen § 10 StVO berücksichtigt hat, weil sich das Beklagtenfahrzeug unmittelbar vor dem Unfall in Rückwärtsfahrt befunden hat, ist nicht zu beanstanden. Auch hinsichtlich dieser Feststellung kann auf die ausführliche und überzeugende Begründung der erstinstanzlichen Entscheidung verwiesen werden.

aa.

Die Berufungsangriffe der Beklagten gegen die Beweiswürdigung des Landgerichts greifen nicht durch.

Zwar trifft zu, dass die Zeugen … und … keine konkrete Erinnerung mehr an das Gespräch mit dem Zeugen … hatten. Das Landgericht hat aber nachvollziehbar und überzeugend begründet, warum der Kläger dennoch den Nachweis erbracht hat, dass der Zeuge … unmittelbar vor dem Unfall rückwärtsfuhr. Zu Recht hat das Landgericht insoweit den Aufzeichnungen des Zeugen … in der beigezogenen Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft Freiburg, nach denen der Zeuge beim Eintreffen der Polizei am Unfallort angegeben hatte, er sei rückwärts aus dem Hof gefahren, als er plötzlich ein Geräusch gehört habe, wesentliche Bedeutung beigemessen. Der Senat teilt die Einschätzung des Landgerichts, dass diese zeitnah nach dem Unfall gefertigten Aufzeichnungen eine hohe Gewähr dafür bieten, dass der Zeuge … diese Äußerung gegenüber dem Zeugen … tatsächlich getätigt hat und dass daraus auf eine Rückwärtsfahrt des Zeugen … unmittelbar vor dem Unfall geschlossen werden kann.

Soweit die Beklagte darauf hinweist, der Zeuge … könne den Zeugen … missverstanden und statt der vom Zeugen … geschilderten „beabsichtigten“ Rückwärtsfahrt eine „tatsächlich durchgeführte“ Rückwärtsfahrt aufgezeichnet haben, so trifft zwar zu, dass es – gerade bei Polizeivermerken, die vom Zeugen nicht gegengezeichnet werden – zu Missverständnissen kommen kann. Aus Sicht des Senats ist das von der Beklagten aufgezeigte Missverständnis aber sehr unwahrscheinlich. Denn angesichts des Unfallhergangs war von Anfang an klar, dass dem Umstand, ob das Beklagtenfahrzeug unmittelbar vor dem Unfall rückwärtsgefahren war oder nicht, eine wesentliche Bedeutung zukam. Entsprechend wurde auch die Zeugin … am Unfalltag schon zu Beginn der Vernehmung nach diesem Umstand gefragt (vgl. S. 2 der Vernehmung der Zeugin …, S. 25 der beigezogenen Ermittlungsakte). Der Senat geht daher davon aus, dass die wichtige Unterscheidung zwischen „beabsichtigter“ und „begonnener“ Rückwärtsfahrt im Rahmen der Vernehmung sorgfältig getroffen wurde und deshalb das von der Beklagten angesprochene mögliche Missverständnis fernliegt.

Darüber hinaus hat das Landgericht seine Überzeugung von der Rückwärtsfahrt des Beklagtenfahrzeugs im Unfallzeitpunkt nicht nur auf die Aufzeichnungen des Zeugen …, sondern darüber hinaus mit überzeugender Begründung auch auf die Unfallendstellung des Beklagtenfahrzeugs gestützt. Der Einwand der Beklagten, „aus der reinen Endstellung eines Fahrzeugs“ könne nicht geschlossen werden, „in welcher Stellung es abgestellt wurde“ (vgl. S. 3 der Berufungsbegründung), geht fehl. Denn das Landgericht hat aus der Endstellung des Beklagtenfahrzeugs nicht geschlossen, wo dieses zuvor abgestellt wurde, sondern das Landgericht hat im Gegenteil überzeugend darauf hingewiesen, es sei nicht davon auszugehen, dass das Beklagtenfahrzeug entsprechend seiner Endstellung abgestellt worden sei, da fernliege, dass ein Postmitarbeiter sein Fahrzeug während des Aushändigens von Post ohne Not so platziere, dass für durchschnittliche Fahrzeuge überhaupt kein Durchkommen mehr sei.

Nicht zuletzt hat auch der Kläger angegeben, der Zeuge … sei rückwärtsgefahren, als er nach links in die eingebogen sei. Auch wenn hinsichtlich dieser Parteiangabe – ähnlich wie bei der Angabe des Zeugen … – das erhebliche Interesse am Ausgang des Prozesses zu berücksichtigen ist, erscheint die Aussage des Klägers, er habe gerade wegen der Rückwärtsfahrt des Fahrzeugs nicht gewusst, ob er vor oder hinter dem Fahrzeug vorbeifahren solle, plausibel. Auch diese Aussage stützt daher die Feststellung des Landgerichts, der Zeuge … sei unmittelbar vor dem Unfall rückwärtsgefahren.

bb.

Die Beklagte kann auch nicht erfolgreich einwenden, die Verletzung der Pflichten aus §§ 9 Abs. 5, 10 StVO durch ihren Fahrer sei nicht unfallursächlich gewesen, weil der Kläger nach den überzeugenden Feststellungen des Sachverständigen hinter dem Fahrzeug genug Platz für ein gefahrloses Durchfahren gehabt hätte. Diese Argumentation übersieht, dass die – tatsächlich erfolgte und zum Sturz führende – Gefahrbremsung des Klägers nur deshalb erfolgt ist, weil der Fahrer der Beklagten sich nicht, wie es notwendig gewesen wäre, hat einweisen lassen. Denn der Einweiser hat nicht nur die Funktion, dem Fahrzeugführer behilflich zu sein, sondern auch diejenige, herannahende Fahrzeuge rechtzeitig zu warnen (vgl. Scholten in Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Aufl., § 10 StVO, Stand 07.09.2018, Rn. 57). Wäre der Zeuge … seiner Einweisungspflicht vollumfänglich nachgekommen, was – da sich unstreitig weitere Personen in der Nähe aufgehalten haben – ohne weiteres möglich gewesen wäre, hätte der Kläger daher das Ausfahren des Beklagten aus der Hofeinfahrt rechtzeitig bemerken und ein scharfes Bremsen dadurch vermeiden können. Der Verstoß gegen die Pflichten aus §§ 9 Abs. 5, 10 StVO war damit unfallkausal und ist deshalb im Rahmen der Abwägung gem. § 254 BGB zu berücksichtigen.

b.

Mit zutreffender Begründung ist das Landgericht weiter zu dem Ergebnis gekommen, dass im Rahmen der Abwägung der Verursachungsbeiträge gem. § 254 BGB zu Lasten des Klägers zu berücksichtigen ist, dass dieser nicht vorschriftsmäßig auf der rechten Fahrbahnseite, sondern nur 1 bis 1,5 m vom linken Fahrbahnrand entfernt nach links in die … eingebogen ist und damit gegen das Rechtsfahrgebot (§ 2 Abs. 2 StVO) und das Rücksichtnahmegebot (§ 1 Abs. 1 StVO) verstoßen hat.

Soweit der Kläger mit seiner Berufung geltend macht, das Landgericht habe verkannt, dass gegen die Beklagte wegen des doppelten Kardinalpflichtverstoßes (§ 9 Abs. 5 und 10 StVO) ein doppelter Anscheinsbeweis spreche, den diese nicht erschüttert habe, bleibt diesem Einwand der Erfolg versagt.

Zwar trifft zu, dass sowohl bei einem Verstoß gegen die Pflichten aus § 9 Abs. 5 StVO als auch bei einem Verstoß gegen § 10 StVO ein Anscheinsbeweis für das alleinige bzw. das überwiegende Verschulden des Ein- bzw. Rückwärtsfahrenden spricht (vgl. BGH Urt. v. 20.09.2011 – VI ZR 282/10, DAR 2011, 696; Scholten in Freymann/Wellner, jurisPK- Straßenverkehrsrecht, a.a.O., Rn 60 m.w.N.). Auf diesen Anscheinsbeweis kommt es hier jedoch nicht an, weil die Beklagte aufgrund der eindeutigen und vom Kläger auch nicht angegriffenen Ausführungen des Sachverständigen Dr das vorschriftswidrige Abbiegen des Klägers und damit einen Verstoß gegen § 2 Abs. 2 und § 1 Abs. 1 StVO nachgewiesen hat.

bb.

Der Kläger kann sich auch nicht erfolgreich darauf berufen, sein Befahren der linken Fahrbahn sei nicht unfallursächlich gewesen und damit im Rahmen der Haftungsabwägung gem. § 254 BGB nicht zu berücksichtigen.

Zwar trifft zu, dass es aufgrund der Gefahrenbremsung des Klägers nicht zu einer Kollision mit dem Beklagtenfahrzeug gekommen ist. Daraus folgt aber nicht, dass der Kläger, wie er mit seiner Berufung geltend macht, seinen Pflichten als Radfahrer genügt hat, indem er innerhalb der übersehbaren Strecke zum Stillstand gekommen ist und sein Fahrrad stets beherrscht hat. Denn letzteres war gerade nicht der Fall: Hätte der Kläger sein Fahrrad beherrscht, wäre er nicht über den Lenker auf die Straße gestürzt. Damit hat sich durch den Sturz des Klägers gerade die Gefahr verwirklicht, die durch ein „Schneiden der Kurve“ im Kreuzungsbereich verhindert werden soll. Denn wäre der Kläger nicht auf der linken, sondern auf der rechten Seite in die …….eingebogen, hätte er das Beklagtenfahrzeugs früher gesehen und hätte ggf. sogar ohne Bremsen hinter dem Fahrzeug vorbeifahren können. An der Unfallursächlichkeit des Verkehrsverstoßes des Klägers besteht daher kein Zweifel.

cc.

Die Entscheidung des Landgerichts ist – anders als der Kläger meint – auch nicht widersprüchlich, wenn sie einerseits ausführt, die Pflichten aus §§ 9 Abs. 5, 10 StVO würden nicht dadurch gemindert, dass der Vorfahrtsberechtigte unter Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot die linke Straßenseite benutze, andererseits aber den Verstoß des Klägers gegen das Rechtsfahrgebot als Mitverschulden wertet. Denn die rechtliche Ausgangserwägung, dass das Vorfahrtsrecht grundsätzlich für die gesamte Fahrbahn gilt, bedeutet nicht, dass im Einzelfall der Verstoß des Vorfahrtsberechtigten gegen das Rechtsfahrgebot nicht im Wege des Mitverschuldens zu berücksichtigen sein kann (vgl. BGH Urt. v. 20.09.2011 – VI ZR 282/10, DAR 2011, 696). Einen solchen Fall hat das Landgericht hier mit zutreffender Begründung bejaht.

dd.

Zu Unrecht rügt der Kläger darüber hinaus, das Landgericht hätte sein zu starkes Betätigen der Vorderbremse nicht als Mitverschulden im Sinne von § 254 BGB berücksichtigen dürfen, da es insoweit an der subjektiven Vorwerfbarkeit fehle. Zwar entspricht es gefestigter Rechtsprechung, dass das falsche Reagieren eines Verkehrsteilnehmers dann kein Verschulden begründet, wenn er in einer ohne sein Verschulden eingetretenen, für ihn nicht voraussehbaren Gefahrenlage keine Zeit zu ruhiger Überlegung hat und deshalb nicht das Richtige und Sachgemäße unternimmt, um den Unfall zu verhüten, sondern aus verständlicher Bestürzung objektiv falsch reagiert (vgl. BGH Urt. v 16.03.1976 – VI ZR 62/75, DAR 1976, 185; OLG Düsseldorf, Urt. v. 10.03.2008 – I-1 U 188/07, juris). Hier ist die Gefahrenlage aber aus den oben dargelegten Gründen nicht ohne Verschulden des Klägers eingetreten, deshalb ist die zitierte Rechtsprechung nicht einschlägig. Im Übrigen läge – hielte man die „Fehlbremsung“ des Klägers nicht für subjektiv vorwerfbar – jedenfalls ein Verstoß gegen das Gebot des „Fahrens auf Sicht“ vor, weil der Kläger nicht so gefahren ist, dass er rechtzeitig ohne zu stürzen anhalten konnte.

c.

Im Rahmen der vorzunehmenden Abwägung der Verursachungsbeiträge gem. § 254 Abs. 1 BGB teilt der Senat noch die Ausgangsüberlegung des Landgerichts, dass die jeweiligen Verkehrsverstöße des Klägers und der Beklagten aus den vom Landgericht dargelegten Gründen etwa gleich schwer wiegen.

Aus Sicht des Senats führt aber die nur zu Lasten der Beklagten zu berücksichtigende Betriebsgefahr ihres Fahrzeugs zu einer höheren Haftungsquote der Beklagten. Angesichts der Tatsache, dass es sich bei dem Beklagtenfahrzeug zwar nicht um einen LKW, aber doch um ein gegenüber einem durchschnittlichen PKW größeren Kleinbus handelt und das Fahrzeug im Unfallzeitpunkt auch situationsbedingt (weites Hineinragen in den Verkehrsraum) mit einer deutlichen Gefahr verbunden war, die sich auch realisiert hat, erscheint eine Haftung der Beklagten mit einer Quote in Höhe von 70% als angemessen.

3.

Im Rahmen der Tenorierung hat der Senat berücksichtigt, dass die Klage wegen der Berücksichtigung des Mitverschuldens auf Seiten des Klägers nur teilweise Erfolg hat. Gleichzeitig wurde klargestellt, dass im Hinblick auf die Erstattung immaterieller Schäden nicht auf eine Quote zu erkennen, sondern auszusprechen ist, dass der Anspruch unter Berücksichtigung eines bestimmten Mitverursachungsanteils des Verletzten gerechtfertigt ist (Grüneberg in Palandt, BGB, 79 Aufl. 2020, § 253 Rn. 24; vgl. auch BGH, Urteil vom 28. Februar 2012 – VI ZR 10/11, NJW 2012, 2027).

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 91, 92, 97, 101 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit wurde gem. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO angeordnet.

Anlass, die Revision zuzulassen, besteht nicht.

 

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