Haftungsabwägung im Straßenverkehr: Wie ein Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung die Schadenersatzansprüche beeinflusst
In einem komplexen Rechtsstreit hat das Landgericht Gera entschieden, dass die Klägerin keinen weiteren Anspruch auf Schadenersatz hat, da sie zu 50% für die Unfallfolgen mithaftet. Der Fall dreht sich um einen Verkehrsunfall, bei dem die Klägerin gegen die Straßenverkehrsordnung (StVO) verstoßen hat, indem sie eine Sperrfläche überfuhr. Das Hauptproblem in diesem Fall liegt in der Haftungsabwägung und der Frage, inwieweit die Klägerin für die Unfallfolgen verantwortlich ist.
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Übersicht:
Zulässigkeit der Berufung und Schadenersatzansprüche

Die Berufung der Klägerin war zwar zulässig, hatte jedoch keinen Erfolg. Die Klägerin hatte bereits einen Schadensersatz in Höhe von 1.383,69 EUR erhalten und verlangte mehr. Das Gericht stellte jedoch fest, dass sie keinen weiteren Anspruch auf Schadenersatz hat, da sie im Umfang von 50% für die Unfallfolgen mit haftet.
Die Rolle der Straßenverkehrsordnung
Das Gericht wies darauf hin, dass die Klägerin gegen § 41 Abs. 1 StVO in Verbindung mit Anlage 2 Nr. 72 zur StVO (Zeichen 298, Überfahren einer Sperrfläche) verstoßen hat. Diese Sperrfläche dient als Fahrstreifenbegrenzung und schützt in erster Linie den Gegenverkehr. Das Überfahren der Sperrfläche ist ein schwerwiegender Verstoß und hat Auswirkungen auf die Haftungsabwägung.
Beweislast und Sachverständigengutachten
Die Klägerin behauptete, dass der Beklagte unvermittelt die Fahrspur wechselte, um einen stehenden Bus zu umfahren. Das Gericht stellte jedoch fest, dass die Klägerin unmittelbar vor der Kollision über die Sperrfläche gefahren ist. Dies wurde durch ein Sachverständigengutachten und die Verkehrsunfallanzeige der Polizei bestätigt.
Keine überwiegende Haftung der Beklagten
Selbst wenn der Beklagte gegen die Sorgfaltspflichten beim Vorbeifahren verstoßen hätte, würde dies nach Auffassung des Gerichts keine überwiegende Haftung der Beklagten rechtfertigen. Die Klägerin hat daher keinen weiteren Anspruch auf Schadenersatz.
Das Urteil zeigt, wie komplex die Haftungsabwägung im Straßenverkehr sein kann und wie ein Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung die Schadenersatzansprüche beeinflussen kann. Es unterstreicht die Bedeutung der Einhaltung der Verkehrsregeln, nicht nur für die eigene Sicherheit, sondern auch im Falle eines Rechtsstreits.
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Das vorliegende Urteil
LG Gera – Az.: 1 S 40/21 – Urteil vom 29.09.2021
1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Amtsgerichts Jena vom 27.01.2021, Az. 26 C 368/19, wird zurückgewiesen.
2. Die Klägerin hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Das in Ziffer 1 genannte Urteil des Amtsgerichts Jena ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
Gründe
I.
Von der Darstellung des Tatbestandes wird gemäß §§ 540 Abs. 2, 313 a Abs. 1 Satz 1 ZPO abgesehen.
II.
Die Berufung ist zulässig, insbesondere statthaft sowie form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Sie hat jedoch im Ergebnis keinen Erfolg. Die Klägerin hat keinen über den bereits gezahlten Schadensersatz i.H.v. 1.383,69 EUR hinausgehenden Anspruch gem. §§ 7, 17 Abs. 1, 2 StVG, 823 Abs.1 BGB, 115 VVG.
Die Klägerin hat keinen weiteren Anspruch auf Schadenersatz, da sie jedenfalls im Umfang von 50% für die Unfallfolgen mithaftet. Dies ergibt sich im Ergebnis der gemäß § 17 Abs. 1, 2 StVG durchzuführenden Abwägung. Da der Schaden im Zusammenhang mit dem Betrieb zweier Kraftfahrzeuge entstand, ist der Umfang der Ersatzpflicht nämlich gemäß §§ 17 Abs. 1, 2 StVG unter Berücksichtigung der mitwirkenden Betriebsgefahr der beteiligten Fahrzeuge zu bestimmen. Hierbei sind die jeweiligen Verursachensbeiträge jeweils abzuwägen. Die Betriebsgefahr wird dabei durch einen schuldhaften Verstoß gegen die Pflichten im Straßenverkehr erhöht. Bei einem schwerwiegenden Verkehrsverstoß kann der Verursachensbeitrag bzw. die Betriebsgefahr des anderen Fahrzeugs ganz zurücktreten. Bei der Abwägung dürfen nur feststehende, d.h. unstreitige, zugestandene oder erwiesene Umstände, die sich nachweislich auf den Unfall ausgewirkt haben, berücksichtigt werden (BGH, Urteil vom 26.04.2005, Az. VI ZR 228/03, zitiert nach juris Rn. 20). Wo eine Haftung als solche und eine Ausgleichspflicht grundsätzlich in Betracht kommen, hat der jeweils andere Teil einen als Verschulden zurechenbaren Umstand oder andere, dessen Betriebsgefahr begründende oder erhöhende Tatsachen zu beweisen (BGH, Urteil vom 13.02.1996, Az. VI ZR 126/95, zitiert nach juris Rn. 11).
Zulasten der Klägerin ist in die Abwägung ein Verstoß gegen § 41 Abs. 1 StVO i.V.m. Anlage 2 Nr. 72 zur StVO (Zeichen 298, Überfahren einer Sperrfläche) einzustellen. Die Sperrfläche – Zeichen 298 – dient als Fahrstreifenbegrenzung, d.h. wenn sie – wie hier – die beiden Fahrbahnhälften einer Straße trennt, dazu den für den Gegenverkehr bestimmten Teil der Fahrbahn zu begrenzen. Damit schützt sie in erster Linie den Gegenverkehr. Die Markierung bezweckt andererseits, dass nur rechts von der Linie gefahren werden darf, so dass ein Überholen unter Inanspruchnahme der abgegrenzten anderen Fahrbahnhälfte unzulässig ist. Sie spricht allerdings ein Überholverbot nicht unmittelbar aus. Daraus, dass die infrage stehenden Markierungen selbst dort nicht einem Überholverbot im Sinne § 5 Abs. 3 StVO gleichzusetzen sind, wo wegen der Beschaffenheit der Straße ein Überholen an dieser Stelle nicht ohne ein verbotswidriges Überfahren der Fahrstreifenbegrenzung möglich ist, kann jedoch nicht geschlossen werden, dass derartige Markierungen keine Auswirkungen auf die Verkehrserwartung eines vorausfahrenden Verkehrsteilnehmers haben. Im Gegenteil schützt eine solche Markierung, wo sie sich wegen der Enge der Fahrbahn faktisch wie ein Überholverbot auswirkt, auch das Vertrauen des Vorausfahrenden, an dieser Stelle nicht mit einem Überholtwerden rechnen zu müssen. Er darf sich – ähnlich wie bei einer natürlichen Straßenverengung – darauf verlassen, dass ein nachfolgender Verkehrsteilnehmer sich verkehrsordnungsgemäß verhält, also nicht zum Überholen ansetzt, wenn dies nur durch Überfahren der Fahrstreifenbegrenzung oder der Sperrfläche möglich ist (BGH, Urteil vom 28.04.1987, Az. VI ZR 66/86).
Dass die Klägerin unmittelbar vor der Kollision über die Sperrfläche gefahren ist, steht für die Kammer unter Berücksichtigung des Sach- und Streitstandes zur Überzeugung (§ 286 ZPO) fest. Es wird dabei nicht verkannt, dass das Sachverständigengutachten vom 30.03.2020 (Bl. 93 ff. d.A.) für sich allein genommen nicht hinreichend ergiebig ist, da es Behauptungen anhand einer Prämisse aufstellt, die so für den Sachverständigen nicht feststand (Positionierung des Busses). Dies ist auch vom Sachverständigen offengelegt worden. Allerdings trägt die Klägerin selbst vor, dass sich auf Höhe des Christlichen Gymnasiums zum streitgegenständlichen Zeitpunkt für den Schienenersatzverkehr eine Ersatzhaltestelle der J Nahverkehr GmbH befunden habe. An dieser Haltestelle, so die Klägerin weiter, habe ein Bus gestanden (vgl. Bl. 4 d.A.). Weiter führt sie aus, dass der Beklagte zu 1 unvermittelt einen Fahrspurwechsel einleitete, als die Lichtzeichenanlage auf Grün schaltete, um den stehenden Bus zu umfahren (vgl. Bl. 4 d.A.). Hieraus ergibt sich nach hiesiger Auffassung hinreichend deutlich, dass der Bus sich nicht hinter den verkehrsbedingt haltenden Fahrzeugen eingeordnet hat, sondern an der Bushaltestelle verweilte, etwa um den Passagieren das Ein- bzw. Aussteigen zu ermöglichen. Der Vortrag der Klägerin deckt sich dabei auch mit den Angaben aus der Verkehrsunfallanzeige der Polizei (Bl. 11 ff. d.A.). Danach hat die Klägerin angegeben, dass der Bus an der Haltestelle hielt (Bl. 12 d.A.). Aus den Lichtbildaufnahmen des Sachverständigengutachtens – insbesondere Bild 1 (Bl. 114 d.A.) – ergibt sich wiederum, dass bei der dadurch gegebenen Rangierfläche, unabhängig davon, ob der Bus 2 Meter weiter vorn oder hinten gestanden hat, nicht genügend Raum war, damit die Klägerin auf die Linksabbiegerspur hätte fahren können, ohne die Sperrfläche zu überfahren.
Selbst wenn zu Lasten der Beklagten in die Haftungsabwägung gemäß § 17 Abs. 1, 2 StVG ein Verstoß des Beklagten zu 1 gegen die aus § 6 Satz 2 StVO folgenden Sorgfaltspflichten beim Vorbeifahren (gemäß § 20 StVO wird Omnibussen des Linienverkehrs, die an Haltestellen halten, vorbeigefahren) bzw. § 1 Abs. 2 StVO (vgl. hierzu Jagusch/ König, Komm. Straßenverkehrsrecht, 42. A., § 10 Rn 7 – Wiederanfahren nach verkehrsbedingtem Anhalten) eingestellt wird, würde dies nach Auffassung der Kammer keine überwiegende Haftung der Beklagten, d.h. von mehr als 50% rechtfertigen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.
Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO in Verbindung mit § 544 Abs. 2 Nr. 1 ZPO.
Die Revision ist nicht gemäß § 543 Abs. 2 ZPO zuzulassen. Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung. Weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordern eine Entscheidung des Revisionsgerichts.