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Verkehrsunfall – Kollision des Überholers mit ausscherendem Fahrzeug

AG Hamburg-Harburg – Az.: 640 C 378/18 – Urteil vom 12.04.2019

1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Der Kläger hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung der Beklagten durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden. Dies gilt nicht, wenn die Beklagten vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leisten.

4. Der Streitwert wird auf 1.773,31 € festgesetzt.

Tatbestand

Die Parteien streiten um Schadensersatzansprüche aufgrund eines Verkehrsunfallgeschehens vom 27.03.2018 gegen 15.00 Uhr auf der Straße … in ….

Der Kläger fuhr mit dem in seinem Eigentum stehenden Fahrzeug … in Richtung …. Vor dem Kläger in gleicher Richtung fuhr der Beklagte zu 1. mit seinem bei der Beklagten zu 2. haftpflichtversicherten PKW des Herstellers … Vor dem Beklagten zu 1. fuhr zumindest ein weiteres Fahrzeug mit einer Geschwindigkeit von weniger als – wie dort erlaubt – 60 km/h. Der Kläger versuchte, die vor ihm fahrenden Fahrzeuge zu überholen. Als sich das klägerische Fahrzeug auf gleicher Höhe mit dem … befand, scherte auch der Beklagte zu 1. zum Überholen mit seinem PKW nach links aus. Das klägerische Fahrzeug nahm er dabei nicht wahr, weil er zuvor keinen Schulterblick durchgeführt hatte. Hierdurch kam es zur seitlichen Kollision der beteiligten Fahrzeuge.

Der Kläger ließ den ihm entstandenen Schaden gutachterlich untersuchen. Für das Gutachten des Sachverständigenbüros … vom 03.04.2018 (Anlage K 1, Bl. 6 f. d.A.) entstanden ihm Kosten in Höhe von 911,00 € (Bl. 19 d.A.). Er nahm die Beklagten auf dieser Grundlage mit anwaltlichem Schreiben vom 04.04.2018 (Anlage K 2, Bl. 20f. d.A.) auf Schadensersatz in Anspruch. Die Beklagte zu 2. regulierte den dem Kläger entstandenen Schaden unter Zugrundelegung eines unfallbedingten Reparaturaufwandes von netto 4.997,53 € sowie einer Haftungsquote von 70 %. Auf das Abrechnungsschreiben der Beklagten zu 2. vom 04.06.2018 (Anlage K 3, Bl. 22f. d.A.) wird wegen der Einzelheiten verwiesen.

Der Kläger behauptet, er habe den Unfall nicht abwenden können. Er habe keine Anhaltspunkte dafür gehabt, dass auch der Beklagte zum Überholen ansetzen wollte. Eine unklare Verkehrslage habe nicht vorgelegen, der Beklagte habe insbesondere nicht den linken Fahrtrichtungsanzeiger betätigt. Der Kläger habe freie Sicht auf die Gegenfahrbahn gehabt, so dass ihm ein Überholen gefahrlos möglich gewesen sei.

Der Kläger beantragt, die Beklagten gesamtschuldnerisch zu verurteilen,

1.

an den Kläger 1.505,26 € nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen und

2.

ihn von Sachverständigenkosten in Höhe von 268,05 € sowie vorgerichtlichen Anwaltskosten von 157,80 € freizuhalten.

Die Beklagten beantragen, die Klage abzuweisen.

Die Beklagten behaupten, der Beklagte zu 1. habe rechtzeitig vor dem Ausscheren den linken Fahrtrichtungsanzeiger betätigt. Zudem habe er in den linken Außen- und Rückspiegel geschaut, ohne das klägerische Fahrzeug wahrzunehmen. Der Kläger habe zeitgleich zum Überholen angesetzt. Er habe sein Fahrzeug aber so stark beschleunigt, dass es zu der seitlichen Kollision gekommen sei.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Vernehmung des Zeugen …. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme sowie der Anhörung des Klägers und des Beklagten zu 1. gemäß § 141 ZPO zum Unfallhergang wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 22.03.2019 verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist unbegründet.

I.

Dem Kläger steht kein restlicher Schadensersatzanspruch gegen die Beklagten aus §§ 7 Abs. 1, 17 Abs. 2 StVG, 823 Abs. 1, 2 BGB, 5 Abs. 4 StVO, 115 Abs. 1 Nr. 1 VVG zu.

1.

Der Verkehrsunfall vom 27.03.2018 hat sich beim Betrieb des klägerischen und des damals bei der Beklagten zu 2. versicherten Fahrzeugs des Beklagten zu 1. ereignet. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Unfall bei Anwendung höchster Sorgfalt für die Fahrer beider unfallbeteiligten Fahrzeuge vermeidbar gewesen wäre. Daher liegt ein unabwendbares Ereignis i.S.d. § 17 Abs. 3 StVG für keinen der Beteiligten vor. Die beiderseitigen Verursachungsbeiträge sind gemäß § 17 Abs. 2 und 1 StVG gegeneinander abzuwägen. Dabei kann das Gericht allein unstreitige oder erwiesene Tatsachen zugrunde legen. Hiernach ergibt sich eine Haftungsquote zu Lasten der Beklagten von 70:30. Dies beruht auf folgenden Erwägungen:

a)

Zu Lasten der Beklagten ist bei der Abwägung gemäß § 17 Abs. 2 und 1 StVG ein Verstoß gegen § 5 Abs. 4 StVO zu berücksichtigen.

Wer zum Überholen ausscheren will, muss sich danach so verhalten, dass eine Gefährdung des nachfolgenden Verkehrs ausgeschlossen ist; es ist also äußerste Sorgfalt erforderlich sowohl im subjektiven als auch im objektiven Bereich. Dabei verbietet schon der geringste verbleibende Zweifel das Ausscheren, weil anderenfalls eine Behinderung (Gefährdung) nicht ausgeschlossen ist (OLG Schleswig, NJOZ 2010, 665). Der Gefährdungsausschluss verlangt eine besonders sorgfältige Rückschau, auch hinsichtlich des über die Rückspiegel nicht einsehbaren „toten Winkels“. Diesen höchsten Anforderungen hat der Beklagte zu 1. nicht genügt. Nach seinen eigenen Angaben im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 22.03.2019 hat er vor Einleitung des Überholmanövers lediglich in die Rückspiegel seines Fahrzeugs (Innen- und linker Außenspiegel) geschaut. Dies hätte er jedoch unmittelbar vor dem Ausscheren wiederholen müssen, um eine Gefährdung des nachfolgenden Verkehrs auszuschließen. Darüber hinaus hat er eingeräumt, dass er vor dem Ausscheren keinen Schulterblick durchgeführt hat.

Hätte der Beklagte zu 1. seiner Rückschaupflicht entsprochen, wäre es nicht zu der seitlichen Kollision der Fahrzeuge gekommen. Bei gehöriger Rückschau hätte er das herannahende Fahrzeug des Klägers nämlich erkennen können und das Ausscheren nach links zur Vermeidung des Zusammenstoßes unterbrechen müssen.

b)

Der Kläger muss sich bei der Abwägung der wechselseitigen Verursachungsbeiträge die erhöhte Betriebsgefahr seines Fahrzeugs entgegenhalten lassen.

aa)

Ihm ist zunächst zur Last zu legen, dass er bei seinem Überholmanöver die erlaubte Geschwindigkeit nach seinen Angaben im Termin zur mündlichen Verhandlung am 22.03.2019 überschritten hat, wenn auch nur geringfügig, nämlich um ca. 10 km/h. Er hat sein Fahrzeug nach seinen Angaben während des Überholmanövers auf ca. 70 km/h beschleunigt, obwohl am Unfallort nach dem übereinstimmenden Vortrag der Parteien eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf 60 km/h gilt. Zwar darf gemäß § 5 Abs. 2 S. 2 StVO nur überholen, wer mit wesentlich höherer Geschwindigkeit als der zu Überholende fährt. Die Überholgeschwindigkeit soll aber nur im Rahmen des Erlaubten möglichst hoch sein. Die zulässige Höchstgeschwindigkeit darf auch beim Überholen nicht überschritten werden (Heß in: Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, Straßenverkehrsrecht, 25. Aufl. 2018, § 5 StVO Rn. 23).

bb)

Den Beklagten ist der ihnen obliegende Beweis, der Beklagte zu 1. habe rechtzeitig vor dem Ausscheren den Fahrtrichtungsanzeiger nach links betätigt, so dass seine Überholabsicht für den Kläger erkennbar gewesen sei, hingegen nicht gelungen.

Die Angaben des Zeugen … hierzu waren unergiebig. Denn er hat nach seinen Angaben im fraglichen Zeitraum als Beifahrer nach rechts aus dem Fenster geschaut. Ob der Beklagte zu 1. sein Fahrmanöver angekündigt hatte, hat der Zeuge daher nicht wahrgenommen.

Allein auf die diesbezüglichen Angaben des Beklagten zu 1. im Rahmen seiner persönlichen Anhörung im Termin zur mündlichen Verhandlung am 22.03.2019 kann das Gericht eine solche Feststellung ebenfalls nicht stützen. Dieser Erklärung stehen nämlich die Angaben des Klägers entgegen, wonach er keine Anhaltspunkte für ein Ausscheren des Beklagten zu 1. gehabt habe. Bei der Würdigung der Angaben des Klägers und des Beklagten zu 1. ist deren fehlende Neutralität aufgrund ihrer Parteistellung zu berücksichtigen. Hinzu kommt, dass Fahrer unfallbeteiligter Fahrzeuge dazu neigen, ihr Fahrverhalten – oft unbewusst – vor sich und anderen zu rechtfertigen, weshalb es ihnen häufig schon nach kurzer Zeit nicht mehr gelingt, den Unfallhergang objektiv zu schildern.

cc)

Allerdings wollte der Kläger hier unstreitig zugleich zumindest zwei vor ihm fahrende Fahrzeuge überholen, also eine, wenn auch kleine, Kolonne (vgl. OLG München, BeckRS 2017, 112371). Zwar ist das Überholen einer Fahrzeugkolonne nicht generell verboten. Insbesondere lässt sich hieraus keine unklare Verkehrslage i.S.d. § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO herleiten. Den Überholenden einer Kolonne trifft aber wegen des damit verbundenen besonderen Gefahrenpotentials eine gesteigerte Sorgfaltspflicht (Heß, a.a.O., Rn. 35). Der Überholende muss in einer solchen Situation auch ohne Anzeichen damit rechnen, dass vor ihm fahrende Fahrzeuge zum Überholen ausscheren. Ggf. muss er daher durch Hupen oder Lichtzeichen sicherstellen, dass die vorausfahrenden Fahrzeugführer seine Überholabsicht sicher und rechtzeitig bemerken (OLG Karlsruhe, NZV 2001, 473; s.a. § 5 Abs. 5 S. 1 StVO). Dies hat der Kläger auch nach seinen Angaben nicht getan.

Hier hatte die Fahrzeugkolonne im Übrigen nach dem unstreitigen Angaben der Beklagten vor dem Unfall eine Linkskurve durchfahren. Die Sicht auf die Gegenfahrbahn war erst hinter dieser Kurve frei. Daraufhin hat sich also erst eine Gelegenheit für den Kläger zum Überholen der vorausfahrenden langsameren Fahrzeuge ergeben. Der Idealfahrer hätte dem vor ihm fahrenden Fahrzeugführer sodann zumindest eine kurze Überlegungsfrist eingeräumt und unter Umständen seinen eigenen Überholwillen zurückgestellt (vgl. OLG Rostock, SVR 2008 Heft 1, 22).

c)

Nach allem konnte hier zwar nicht sicher festgestellt werden, dass das Ausscheren des Fahrzeugs des Beklagten zu 1. für den Kläger erkennbar war (s.o.). Umgekehrt konnte aber auch der Kläger nicht beweisen, dass der Unfall für ihn unvermeidbar war. Es erscheint daher bei der Bestimmung der Haftungsquote unter Abwägung der wechselseitigen Verursachungsbeiträge gerechtfertigt, zu Lasten des Klägers eine durch das Überholen der Fahrzeugkolonne sowie seine geringfügige Geschwindigkeitsüberschreitung erhöhte Betriebsgefahr anzusetzen.

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Unter Berücksichtigung des Verschuldens des Beklagten zu 1. gem. § 5 Abs. 4 S. 1 StVO erscheint eine Haftungsquote von 30:70 zugunsten des Überholenden, wie von der Beklagten zu 2. bei der vorgerichtlichen Regulierung angenommen, angemessen (vgl. OLG Rostock, a.a.O.; OLG Hamm, NZV 1995, 399).

2.

Die Beklagte zu 2. hat die dem Kläger entstandenen Schäden bereits unter Zugrundelegung dieser angemessenen Haftungsquote reguliert. Bei der Berechnung seiner Klageforderung hat der Kläger die vorgerichtlichen Einwände der Beklagten zur Schadenshöhe berücksichtigt. Er macht mit seiner Klage lediglich den Differenzbetrag zwischen dem von der Beklagten zu 2. gemäß deren Regulierungsschreiben vom 04.06.2018 (Bl. 22 d.A.) berücksichtigten Schaden sowie den jeweils nach der Haftungsquote von 70 % geleisteten Zahlungen geltend. Hieraus schließt das Gericht, wie bereits im Verhandlungstermin am 22.03.2019 erörtert, dass die Schadenshöhe, wie von der Beklagten zu 2. bei der Regulierung berücksichtigt, unstreitig ist. Feststellungen zu dem Qualitätsstandard des von den Beklagten angeführten Referenzbetriebes mussten daher nicht getroffen werden.

3.

Ein über die geleistete Entschädigung hinausgehender Zahlungsanspruch steht dem Kläger nach allem nicht zu. Entsprechendes gilt für den geltend gemachten Freistellungsanspruch in Bezug auf die restlichen Sachverständigen- sowie vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten.

II.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus § 708 Nr. 11, 711 ZPO.

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