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Verkehrsunfall von zwei Fahrzeugen beim Überholen einer Kolonne – durchgezogene Linie

Überholmanöver trotz durchgezogener Linie: Verkehrsunfall im Blickpunkt der Rechtsprechung

Im Verkehrsrecht werden häufig Fälle beurteilt, bei denen Fahrer Regeln und Markierungen auf der Straße missachten. Eines solcher Urteile ist das hier vorliegende, welches einen Verkehrsunfall betrachtet, der beim Überholen einer Fahrzeugkolonne aufgetreten ist. Das Unfallereignis ist insofern bemerkenswert, als dass beide beteiligten Fahrzeuge während des Überholvorgangs eine durchgezogene Linie überfuhren. Diese Tatsache wirft bedeutsame rechtliche Fragen bezüglich der Haftung und Verantwortlichkeit der Unfallbeteiligten auf.

Weiter zum vorliegenden Urteil Az.: I-7 U 66/20 >>>

Die Beweislast und die Rolle des Sachverständigen

Bei der Untersuchung des Unfallhergangs spielte die Expertise eines Sachverständigen eine wesentliche Rolle. Nach seinen Feststellungen wurde der Spurwechsel des beklagten Fahrzeugs etwa 2,6 Sekunden vor der Kollision und 0,5 Sekunden nach Beginn des Überholvorgangs des klagenden Mini eingeleitet. Hierbei wurden keine weiteren Verkehrsverstöße seitens des Beklagten festgestellt, die einen kausalen Zusammenhang mit dem Unfall haben könnten.

Beweis des ersten Anscheins und seine Bedeutung

Ein weiterer prägender Aspekt des Falles ist der „Beweis des ersten Anscheins“. Dies ist ein juristischer Begriff, der auf typischen Geschehensabläufen basiert und den Nachweis eines ursächlichen Zusammenhangs oder eines schuldhaften Verhaltens ohne exakte Tatsachengrundlage erlaubt. In diesem Fall konnte jedoch keine Sorgfaltspflichtverletzung der Beklagten durch den Beweis des ersten Anscheins festgestellt werden.

Keine feststellbaren Verkehrsverstöße des Beklagten

Trotz des kritischen Manövers des Beklagten, das den Unfallhergang mitbestimmte, waren keine weiteren Verkehrsverstöße auf Seiten des Beklagten feststellbar, die zum Unfall beigetragen hätten. Dies stützt die Position des Beklagten und fügt der rechtlichen Beurteilung des Falles eine zusätzliche Komplexität hinzu.

Die Rechtslage und ihre Auswirkungen auf den Fall

Die durchgezogene Linie, die beide Fahrzeuge überfuhren, stellt eine zentrale verkehrsrechtliche Frage dar. Ungeachtet des Umstands, dass auch die Beklagte die Linie überfahren hat, ändert dies nichts an der Verkehrswidrigkeit des Überholvorgangs des Klägers. Dieser Sachverhalt führt dazu, dass der Vertrauensgrundsatz in diesem Fall nicht greift und unterstreicht die Wichtigkeit der Einhaltung von Verkehrsregeln und Straßenmarkierungen.


Das vorliegende Urteil

OLG Hamm – Az.: I-7 U 66/20 – Beschluss vom 13.07.2021

Der Senat weist darauf hin, dass beabsichtigt ist, die Berufung des Klägers durch Beschluss zurückzuweisen, weil sie nach der übereinstimmenden Überzeugung des Senats offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat.

Der Kläger erhält Gelegenheit, innerhalb von drei Wochen ab Zustellung Stellung zu nehmen.

Gründe

I.

Die Berufung hat offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg. Das Landgericht hat die Klage, soweit die Parteien den Rechtsstreit nicht übereinstimmend für erledigt erklärt haben, im Ergebnis zu Recht abgewiesen. Nach übereinstimmender Auffassung des Senats haften die Beklagten dem Kläger für die Schäden aus dem Verkehrsunfallereignis vom 28.08.2017 gegen 7:50 h auf der A-Straße in B jedenfalls nicht mit einer höheren als der vom Landgericht zugrunde gelegten Quote von 40 %, nach der die Beklagten die Ansprüche des Klägers zwischenzeitlich unstreitig reguliert haben. Der Höhe nach sind und waren die Schäden des Klägers nicht streitig.

Die Einwendungen des Klägers, bezüglich derer zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Berufungsbegründung vom 02.09.2020 (Bl. 265-271 d.A.) Bezug genommen wird, rechtfertigen keine andere Entscheidung.

Im Einzelnen:

1.

Die jetzt noch rechtshängige Klage ist unbegründet. Dem Kläger stehen gegen die Beklagten keinerlei Ansprüche aus §§ 7 Abs. 1, 17, 18 StVG, für die Beklagte zu 2 i.V.m. §§ 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG, 1 PflVG (mehr) zu.

Die vom Landgericht angenommene Mithaftungsquote der Beklagten von 40 % ist zugunsten des Klägers jedenfalls nicht zu gering angesetzt.

Nach § 529 Abs. 1 S. 1 ZPO ist das Berufungsgericht an die vom erstinstanzlichen Gericht festgestellten Tatsachen gebunden, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten. Konkrete Anhaltspunkte, welche die Bindung an diese Feststellungen entfallen lassen, können sich aus erstinstanzlichen Verfahrensfehlern ergeben. Ein Verfahrensfehler liegt vor, wenn die Beweiswürdigung nicht den Anforderungen genügt, die von der Rechtsprechung zu § 286 Abs. 1 ZPO entwickelt worden sind. Dies ist der Fall, wenn sie unvollständig oder in sich widersprüchlich ist oder gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstößt. Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der erstinstanzlichen Feststellungen können sich außerdem aus der Möglichkeit unterschiedlicher Wertung ergeben, insbesondere daraus, dass das Berufungsgericht die Beweisaufnahme anders würdigt als die Vorinstanz. Besteht aus der für das Berufungsgericht gebotenen Sicht eine gewisse – nicht notwendig überwiegende – Wahrscheinlichkeit dafür, dass im Fall der Beweiserhebung die erstinstanzliche Feststellung keinen Bestand haben wird, ist es zu einer erneuten Tatsachenfeststellung verpflichtet (BGH, Urteil vom 11.10.2016 – VIII ZR 300/15, juris Rn. 24; Urteil vom 21.06.2016 – VI ZR 403/14, juris Rn. 11). Dies ist vorliegend jedoch nicht der Fall:

a)

Zwar liegen die haftungsbegründenden Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 StVG vor.

Der streitgegenständliche Unfall, bei dem das im Eigentum des Klägers stehende und von diesem geführte Fahrzeug BMW Mini Cooper S mit dem amtlichen Kennzeichen C-F 949 beschädigt wurde, hat sich im Sinne des § 7 Abs. 1 StVG beim Betrieb des von dem Beklagten zu 1 gehaltenen und gefahrenen und bei der Beklagten zu 2 haftpflichtversicherten Pkw Opel Corsa mit dem amtlichen Kennzeichen C-MM 1068 ereignet, da es zu einer unmittelbaren Kollision zwischen den beiden Fahrzeugen im fließenden Straßenverkehr gekommen ist. Höhere Gewalt im Sinne des § 7 Abs. 2 StVG liegt nicht vor.

b)

Eine Unabwendbarkeit i.S.d. § 17 Abs. 3 StVG wird zu Recht von keinem Beteiligten geltend gemacht.

Unabwendbar ist ein Ereignis, das auch durch äußerste Sorgfalt, die insbesondere die Einhaltung der geltenden Verkehrsvorschriften beinhaltet, nicht abgewendet werden kann. Abzustellen ist insoweit auf das Verhalten des sog. „Idealfahrers“ (Senat, Urteil vom 03.06.2016 – 7 U 14/16 – juris; König in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 46. Aufl. 2021, § 17 StVG, Rn. 22 m.w.N.). Zur äußersten Sorgfalt gehört die Berücksichtigung aller möglichen Gefahrenmomente (König, a.a.O., § 17 StVG, Rn. 23).

Dem wurde das Verhalten der Unfallbeteiligten vorliegend nicht gerecht. Denn es ist unstreitig, dass sich der Unfall ereignete, als sowohl der Kläger als auch die weiter vorne in einer Kolonne fahrende Beklagte zu 1 unter Überfahren der durchgezogenen Mittellinie (Verkehrszeichen 295) zu einem Überholvorgang des vor der Beklagten zu 1 mit ca. 15-20 km/h fahrenden Baggers ansetzten. Die ununterbrochene Linie – Zeichen 295 – dient als Fahrstreifenbegrenzung dazu, den für den Gegenverkehr bestimmten Teil der Fahrbahn zu begrenzen. Sie bezweckt andererseits, dass nur rechts von der Linie gefahren werden darf (s. BR-Drucks. 420/70 zu § 41 S. 81, 82), so dass ein Überholen unter Inanspruchnahme der abgegrenzten anderen Fahrbahnhälfte unzulässig ist (so OLG München, Urteil vom 15.03.2019 – 10 U 2655/18, juris Rn. 7 m.w.N.). Ein Idealfahrer hätte dies beachtet und dementsprechend von einem Überholvorgang an dieser Stelle abgesehen.

c)

Die gem. § 17 Abs. 1 und 2 StVG erforderliche Abwägung ist aufgrund aller feststehenden, d.h. unstreitigen, zugestandenen oder bewiesenen Umstände vorzunehmen, die sich auf den Unfall ausgewirkt haben. In erster Linie ist hierbei das Maß der Verursachung von Belang, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben. Ein Faktor bei der Abwägung ist das beiderseitige Verschulden (std. Rspr., vgl. z.B. BGH, Urteil vom 15.05.2018 – VI ZR 231/17, r+s 2018, 447, Rn. 10 m.w.N.; König in: Hentschel/König/Dauer, a.a.O., § 17 StVG, Rn. 31).

aa)

Dies zugrunde gelegt steht auf Klägerseite zum einen ein kausaler schuldhafter Verstoß gegen § 41 Abs. 1 StVO i.V.m. Anlage 2 zur StVO, Zeichen 295, fest. Wie ausgeführt hat der Kläger die durchgezogene Mittellinie im Rahmen seines Überholvorgangs verbotener Weise überfahren. Dadurch wurde die Betriebsgefahr erhöht.

Durch das Überfahren der durchgezogenen Linie hat der Kläger zwar nicht gegen § 5 StVO verstoßen. Die Markierung spricht ein Überholverbot nämlich nicht unmittelbar aus. Soweit ein Überholen innerhalb der begrenzten Fahrbahn möglich und mit dem nach § 5 Abs. 4 Satz 2 StVO gebotenen seitlichen Abstand zu anderen Verkehrsteilnehmern, insbesondere zu Fußgängern und Radfahrern, zulässig ist, ist dies erlaubt (so schon BGH, Urteil vom 28.04.1987 – VI ZR 66/86, juris Rn. 22). Auch wenn ein Verkehrsteilnehmer die Fahrstreifenbegrenzung im Zuge eines Überholvorgangs überfährt, verstößt er damit nicht gegen ein „Überholverbot“ im Sinne von § 5 StVO (BGH aaO.; vgl. zum faktischen Überholverbot auch OLG Hamm, Urteil vom 04.02.2014 – 9 U 149/13, juris Rn. 16-18).

Daraus kann jedoch nicht geschlossen werden, dass derartige Markierungen keine Auswirkungen auf die Verkehrserwartung eines vorausfahrenden Verkehrsteilnehmers haben. Im Gegenteil schützt eine solche Markierung, wo sie sich – wie hier – wegen der Enge der Fahrbahn faktisch wie ein Überholverbot auswirkt, auch das Vertrauen des Vorausfahrenden, an dieser Stelle nicht mit einem Überholtwerden rechnen zu müssen. Er darf sich – ähnlich wie bei einer natürlichen Straßenverengung – darauf verlassen, dass ein nachfolgender Verkehrsteilnehmer sich verkehrsordnungsgemäß verhält, also nicht zum Überholen ansetzt, wenn dies nur durch Überfahren der Fahrstreifenbegrenzung oder der Sperrfläche möglich ist (OLG München, Urteil vom 15.03.2019 – 10 U 2655/18, juris Rn. 7 m.w.N.). Dass die Beklagte zu 1 hier ebenfalls die durchgezogene Mittellinie überfahren hat und sich wegen dieses Verkehrsverstoßes nicht auf den Vertrauensgrundsatz berufen kann, ändert an der Verkehrswidrigkeit des klägerischen Überholvorgangs nichts.

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bb)

Gegeben ist darüber hinaus ein Verstoß gegen § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO. Der Kläger hat bei unklarer Verkehrslage überholt. Eine solche besteht zwar nicht per se dann, wenn eine Kolonne vorausfährt (vgl. OLG München, Urteil vom 24.02.2017 – 10 U 4448/16, juris Rn. 7), weil bei fehlender Überholabsicht der Vorausfahrenden sonst jedes Überholen und damit die Auflösung der Kolonne ausgeschlossen wäre (vgl. OLG Karlsruhe, Urteil vom 08.06.2002 – 10 U 77/01, juris Rn. 14). Unklar ist die Verkehrslage aber dann, wenn nach allen Umständen nicht mit einem gefahrlosen Überholen gerechnet werden kann (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 30.10.1995 – 5 Ss (OWi) 345/95, juris), insbesondere dann, wenn sich nicht verlässlich beurteilen lässt, was der Vorausfahrende jetzt sogleich tun wird (vgl. OLG Hamm, Urteil vom 09.07.2013 – 9 U 191/12, juris, Rn. 31). So lag es hier. Hinter dem mit ca. 15-20 km/h vorausfahrenden Bagger hatte sich bereits über eine längere Strecke eine Kolonne gebildet. Ein Überholen war zunächst nicht nur wegen der durchgezogenen Mittellinie faktisch verboten, sondern auch aufgrund der eingeschränkten Sicht auf den Gegenverkehr auf der zu überquerenden Autobahnbrücke nicht gefahrlos möglich. Als dann nach der Brücke die Sicht nach vorne wieder frei war und zudem die zugelassene Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h auf 70 km/h erhöht wurde, bestand für den Kläger Anlass zu der Erwartung, dass auch die Vorausfahrenden zum Überholen ansetzen würden. Hinzu kommt, dass die das faktische Überholverbot aussprechende ununterbrochene Mittellinie an der ersten Kreuzung hinter der Brücke endete, wie auf dem unteren Foto der Anlage A 3 zum Sachverständigengutachten vom 17.09.2019 ersichtlich ist. Spätestens ab dort hätte der Kläger damit rechnen müssen, dass die Vorausfahrenden, die diese Stelle vor dem Kläger erreichen würden, zum Überholen des Baggers ansetzen würden. Dass er seinen Überholvorgang bis dahin abgeschlossen haben würde, konnte er nicht sicher absehen. Als jemand, der sich selbst nicht verkehrsrichtig verhalten hat, konnte der Kläger insoweit auch nicht darauf vertrauen, dass die Vorausfahrenden das geltende faktische Überholverbot einhalten würden. Die etwas zu frühe Einleitung eines Überholvorgangs dürfte in der konkreten Situation zudem ein erfahrungsgemäß häufiger und typischer Verkehrsverstoß sein, der die Anwendung des Vertrauensgrundsatzes ebenfalls ausschließt (vgl. König in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 46. Aufl. 2021, Einleitung, Rn. 136).

cc)

Entgegen der Ansicht des Landgerichts ist allerdings ein Verstoß des Klägers gegen § 5 Abs. 4, 4a StVO nicht feststellbar. Nach den dort normierten Pflichten muss der Überholende auf die Fahrweise des Eingeholten achten und darf ihn nicht gefährden (so schon BGH, VersR 1965, 82). Wie ausgeführt, ist das Überholen mehrerer Fahrzeuge aber grundsätzlich nicht verboten. Wer eine stockende Kolonne überholen will, muss nach der Örtlichkeit gewiss sein, dass kein Vorausfahrender links abbiegen will (vgl. Schleswig-Holsteinisches OLG, Beschluss vom 30.01.2020 – 7 U 210/19, juris Rn. 28). Das gleiche gilt in Bezug auf ein zu erwartendes Überholen des Vorausfahrenden. Der Überholende braucht aber bei Fahrzeugen, deren Fahrtrichtungsanzeiger er sehen kann, mangels Anzeige nicht mit einem plötzlichen Ausscheren zu rechnen (vgl. OLG Koblenz, Urteil vom 10.02.2020 – 12 U 1134/19, juris, Rn. 22). Der Kläger hat hier vorgetragen, die Beklagte zu 1 sei plötzlich und völlig überraschend ausgeschert, was nur so verstanden werden kann, dass er deren Fahrtrichtungsanzeiger nicht oder zumindest nicht so rechtzeitig, dass er noch hätte reagieren können, habe wahrnehmen können. Durch die Aussage der Zeugin D, die Beklagte zu 1 habe geblinkt, sie wisse aber nicht, welcher zeitliche Abstand zwischen dem Setzen des Blinkers und dem Ausscheren der Beklagten zu 1 lag, ist nicht bewiesen, dass der Kläger hier aufgrund auch rechtzeitigen Blinkens mit einem Ausscheren der Beklagten zu 1 rechnen musste. Nach den Feststellungen des Sachverständigen kann der Spurwechsel des Beklagtenfahrzeugs nur etwa 2,6 Sekunden vor der Kollision und 0,5 Sekunden nach dem Spurwechselbeginn des klägerischen Mini eingeleitet worden sein, wobei ein Blinkersetzen erst mit dem Ausscheren zu Gunsten des Klägers nicht auszuschließen ist.

dd)

Auf Seiten der Beklagten ist lediglich die erhöhte Betriebsgefahr aufgrund des kausalen Verstoßes gegen § 41 Abs. 1 StVO i.V.m. Anlage 2 zur StVO, Zeichen 295 in die Abwägung einzustellen, da auch die Beklagte zu 1 die durchgezogene Mittellinie überfahren und damit das faktische Überholverbot missachtet hat. Die gesetzlich normierten Überholverbote schützen auch den nachfolgenden Verkehr, der durch falsches Überholen eines Vorausfahrenden gefährdet werden kann (vgl. OLG Hamm, Urteil vom 23.04.13 – 9 U 12/13, juris Rn. 14; König in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 46. Aufl. 2021, § 5 StVO Rn. 33). Für ein faktisches Überholverbot kann nichts anderes gelten (vgl. OLG Hamm, Urteil vom 04.02.2014, 9 U 149/13, juris Rn. 18).

Weitere unfallursächliche Verkehrsverstöße auf Seiten des Beklagten zu 1 sind dagegen aufgrund des unstreitigen Sachverhalts und des Ergebnisses der erstinstanzlichen Beweisaufnahme, zu deren Wiederholung der Senat auch unter Berücksichtigung des Berufungsvortrages keinen Anlass hat, nicht feststellbar.

ee)

Dass die Beklagte zu 1 unter Verstoß gegen § 5 Abs. 4a StVO ihren Fahrstreifenwechsel nicht rechtzeitig angezeigt hat, ist nicht bewiesen. Die hinter der Beklagten zu 1 in der Kolonne fahrende Zeugin D hat bekundet, die Beklagte zu 1 habe den Blinker gesetzt und sei dann in die Gegenfahrbahn leicht herausgezogen. Dass die Zeugin keine Angaben zur Rechtzeitigkeit des Blinkens machen konnte, beweist eine nicht rechtzeitige Ankündigung der Überholabsicht nicht.

ff)

Richtig hat das Landgericht zudem ausgeführt, dass der Beklagten zu 1 ebenfalls kein Verstoß gegen die Pflicht zur Rückschau beim Ausscheren nach § 5 Abs. 4 StVO nachgewiesen werden kann. Der öffentlich bestellte und vereidigte Sachverständige für Straßenverkehrsunfälle Dipl.-Ing. E F hat in seinem schriftlichen Gutachten und dessen mündlicher Erläuterung vor dem Landgericht im Termin vom 10.06.2020 ausgeführt, es lasse sich aus technischer Sicht nicht sicher feststellen, dass zum Zeitpunkt der zweiten Rückschaupflicht am Beginn des Spurwechsels des Beklagtenfahrzeugs der mindestens 0,5 Sekunden zuvor begonnene Überholvorgang des Klägerfahrzeugs für die Beklagte zu 1 erkennbar gewesen sei. Das Klägerfahrzeug könne sich zu diesem Zeitpunkt nämlich noch vollständig innerhalb des rechten Fahrstreifens befunden haben, wie das Weg-Zeit-Diagramm in der Anlage C 1 des Gutachtens verdeutliche. Gründe, an diesen nachvollziehbaren und überzeugenden Ausführungen zu zweifeln, hat auch der Senat nicht.

Insbesondere hat der Sachverständige, dessen fachliche Kompetenz nicht in Zweifel steht, seiner Analyse vorliegend die zutreffenden Anknüpfungstatsachen zugrunde gelegt. Dies gilt sowohl für die von ihm selbst ermittelten Entfernungen und die von den Parteien angegebene Geschwindigkeit des vorausfahrenden Baggers von maximal 20 km/h als auch für Annahme, der Kläger habe nur ein weiteres Fahrzeug, nämlich das der hinter der Beklagten zu 1 fahrenden Zeugin D überholt. Entgegen der Auffassung der Berufung musste das Landgericht keinen weiteren Beweis dazu erheben, ob unter Zugrundelegung, dass hinter der Zeugin D ein weiteres Fahrzeug gefahren und vom Kläger überholt worden wäre, die Beklagte zu 1 den dann notwendiger Weise schon früher begonnenen Überholvorgang des Klägers bei Einhaltung der Rückschaupflicht hätte wahrnehmen müssen. Denn das würde zunächst voraussetzen, dass der im Hinblick auf den Verkehrsverstoß der Beklagten zu 1 beweisbelastete Kläger diese für die Beklagte zu 1 ungünstigere Ausgangslage beweist. Dass ein weiteres Fahrzeug zwischen der Zeugin D und dem Kläger fuhr, hat der Kläger aber schon nicht substantiiert vorgetragen. In seiner persönlichen Anhörung hat er angeben, sein Mini sei das vierte oder fünfte Fahrzeug in der Kolonne gewesen. Am Beginn der Kolonne fuhr unstreitig der Bagger, danach folgten die Beklagte zu 1 im zweiten und die Zeugin D im dritten Fahrzeug, so dass schon nach seinem eigenen Vortrag der dann folgende Kläger an vierter Stelle direkt hinter der Zeugin D gefahren sein kann. Dass vor ihm noch ein weiteres Fahrzeug unterwegs gewesen sei, hat er also nicht einmal eindeutig behauptet, geschweige denn unter Beweis gestellt. Dagegen spricht auch die Unfallskizze der Polizei vom 28.08.2017 (Bl. 6, 58 d.A), auf der kein weiteres Fahrzeug eingezeichnet ist sowie die Tatsache, dass in der Unfallmitteilung neben den unmittelbaren Unfallbeteiligten lediglich die Zeugin D als Zeugin aufgeführt ist. Auch auf den Polizeifotos (Anlage A 4, 5) ist kein weiteres Fahrzeug zu sehen. Zugunsten der Beklagten zu 1 ist daher davon auszugehen, dass die Kolonne aus lediglich vier Fahrzeugen bestand mit der Folge, dass ein Verstoß gegen die Rückschaupflicht eben nicht beweisbar ist.

Eine Sorgfaltspflichtverletzung der Beklagten zu 1 lässt sich – wie das Landgericht richtig gesehen hat – auch nicht im Wege des Anscheinsbeweises feststellen. Zwar wird in der Rechtsprechung teilweise angenommen, dass der Beweis des ersten Anscheins für eine solche Sorgfaltspflichtverletzung des Linksabbiegers spricht, wenn er im unmittelbaren zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit dem Linksabbiegen mit einem links überholenden Fahrzeug kollidiert (vgl. KG Berlin, Urteil vom 07.10.2002 – 12 U 41/01 , MDR 2003, 507 = NZV 2003, 89). Dies wird entsprechend angewendet, wenn der Vorausfahrende statt abzubiegen seinerseits zum Überholen ausschert. Dieser Grundsatz findet jedoch nicht uneingeschränkt Anwendung. Er kann in dieser Allgemeinheit dann nicht gelten, wenn der Überholer dem Linksabbieger bzw. selbst Überholenden nicht unmittelbar gefolgt war, sondern zuvor eine kleine Kolonne überholt und dann mit dem abbiegenden Spitzenfahrzeug zusammenstößt (vgl. OLG Hamm, Urteile vom 23.02.2006 – 6 U 126/05, juris Rn. 12, 13 und vom 09.07.2013 – 9 U 191/12, juris Rn. 27, zustimmend OLG Stuttgart, Beschluss vom 08.04.2011 – 13 U 2/11, juris Rn. 9). Der Anscheinsbeweis erlaubt bei typischen Geschehensabläufen den Nachweis eines ursächlichen Zusammenhangs oder eines schuldhaften Verhaltens ohne exakte Tatsachengrundlage aufgrund von Erfahrungssätzen. Der Beweis des ersten Anscheins greift aber nur dann ein, wenn ein feststehendes oder bewiesenes Tatsachengeschehen den Schluss auf eine dann typischerweise zugrunde liegende Verursachung durch ein bestimmtes Verhalten zulässt (so Greger in: Zöller, ZPO, 33. Aufl. 2020, vor § 284 Rn. 29 ). Erst wenn die konkrete Typizität feststeht, kann der exakte Nachweis des Unfallhergangs durch die Anwendung der Anscheinsbeweisgrundsätze ersetzt werden (vgl. OLG Hamm, Urteil vom 09.07.2013 – 9 U 191/12, juris Rn. 27). An einem solchen typischen Geschehensablauf fehlt es vorliegend.

Dem erkennenden Senat ist als Fachsenat aus einer Vielzahl von Verfahren bekannt, dass es gerade nicht untypisch ist, dass – wie hier – der Linksüberholer einer Kolonne bei Fassung des Überholentschlusses durch den Fahrer des vorausfahrenden Spitzenfahrzeugs für diesen deshalb noch nicht erkennbar ist, weil der Überholer mit seinem Fahrzeug noch nicht auf die Gegenfahrbahn ausgeschert ist und von den dem Ausscherenden unmittelbar folgenden Fahrzeugen noch verdeckt wird. In solchen Fallgestaltungen kann hinzutreten, dass der Überholer den gesetzten Fahrtrichtungsanzeiger des Spitzenfahrzeugs nicht wahrnehmen kann, weil dieser durch die nachfolgenden Fahrzeuge verdeckt wird (vgl. OLG Hamm, Urteil vom 09.07.2013 – 9 U 191/12, juris Rn. 29).

gg)

Der Beklagten zu 1 kann entgegen der Ansicht des Landgerichts auch nicht vorgeworfen werden, unter Verstoß gegen § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO bei unklarer Verkehrslage überholt zu haben. Eine solche liegt noch nicht vor, wenn wegen eines langsam vorausfahrenden Fahrzeugs grundsätzlich damit zu rechnen ist, dass auch andere Fahrzeugführer in einer Kolonne einen Überholentschluss fassen könnten. Denn sonst wäre das Überholen eines langsamen Spitzenfahrzeugs gar nicht möglich. Es ist vielmehr darauf abzustellen, ob die Beklagte zu 1 hier konkret nach allen Umständen mit einem gefahrlosen Überholen rechnen konnte. Da – wie ausgeführt – nicht festgestellt werden kann, dass der Überholvorgang des Klägers für die Beklagte zu 1 bei Fassung ihres Überholentschlusses erkennbar war, ihre Sicht auf den Gegenverkehr nicht eingeschränkt war und auch sonst keine Hindernisse bekannt sind, durfte sie davon ausgehen, gefahrlos überholen zu können. Als diejenige, die unmittelbar hinter dem langsam vorausfahrenden Bagger fuhr, war die Beklagte zu 1 zudem diejenige, die den Bereich, in dem die Sicht nach vorne wieder frei und die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf 70 km/h erhöht war, zuerst erreichte. In dieser Situation hatte sie daher keinen Anlass, damit zu rechnen, dass hinter ihr fahrende Fahrzeuge bereits früher als sie zum Überholen ansetzen würden, auch wenn sie sich auf das Nichtüberfahren der durchgezogenen Linie nicht verlassen durfte.

d)

Dies zugrunde gelegt ist die vom Landgericht angenommene Mithaftungsquote der Beklagten zu 1 von 40 % jedenfalls nicht zugunsten des Klägers zu gering angesetzt. Hätte sich der Unfall nicht im Bereich eines faktischen Überholverbots ereignet, wäre der Beklagten zu 1 hier kein Verkehrsverstoß vorzuwerfen, die Betriebsgefahr ihres Fahrzeugs träte hinter dem Verschulden des Klägers, der gem. § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO nicht überholen durfte, zurück. Die Tatsache, dass beide Unfallbeteiligten gleichermaßen gegen ein durch eine durchgezogene Linie geschaffenes faktisches Überholverbot verstoßen haben, vermag an der Tatsache, dass der Kläger hier den maßgeblichen Verursachungsbeitrag gesetzt hat, nichts zu ändern. Der beiderseitige Verstoß gegen § 41 Abs. 1 StVO i.V.m. Anlage 2 zur StVO, Zeichen 295 ist zwar insoweit kausal geworden, als dass sich der Unfall nicht ereignet hätte, hätten die Parteien nicht verbotener Weise zum Überholen angesetzt. Dieser Vorwurf ist aber dem Kläger und der Beklagten zu 1 in gleicher Weise zu machen und kann daher nicht einseitig zu einer Erhöhung der Haftungsquote der Beklagten führen.

2.

Vor dem Hintergrund der unstreitigen Regulierung auf Basis von 40 % Mithaftung bestehen keine Ansprüche des Klägers (mehr).

II.

Die Sache hat keine grundsätzliche Bedeutung. Weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordern eine Entscheidung des Senates auf Grund mündlicher Verhandlung, die auch sonst nicht geboten ist (§ 522 Abs. 2 S. 1 ZPO).


Die folgenden rechtlichen Bereiche sind u.a. in diesem Urteil relevant

  1. Verkehrsrecht – Das Verkehrsrecht ist in diesem Fall das zentrale Rechtsgebiet. Die Konfliktsituation entsteht aus einem Verkehrsunfall, der aufgrund eines Überholvorgangs eingetreten ist. Verschiedene Aspekte des Verkehrsrechts sind in die Analyse des Falles eingebunden, wobei speziell die Regeln über die korrekte Nutzung der Straße und die Verantwortlichkeit bei Verstößen gegen diese Regeln relevant sind.
    • § 5 Straßenverkehrs-Ordnung (StVO): Dieser Paragraph befasst sich mit dem Überholen im Straßenverkehr. Hier ist insbesondere die Regelung relevant, dass das Überholen unzulässig ist, wenn die Straßenmarkierung dies untersagt (z.B. durch eine durchgezogene Linie).
    • § 41 Straßenverkehrs-Ordnung (StVO): Dieser Paragraph regelt die Anwendung und Auslegung von Verkehrszeichen und Verkehrseinrichtungen. Die Verletzung dieser Norm könnte, abhängig vom konkreten Verstoß, relevant für die Beurteilung der Schuldfrage im Unfall sein.
  2. Zivilprozessrecht – Das Zivilprozessrecht regelt den Ablauf von Streitigkeiten vor Zivilgerichten. Hierbei sind insbesondere die Vorschriften der Zivilprozessordnung (ZPO) zu beachten, welche den Prozessablauf und die Beweislastregelungen beinhalten.
    • § 529 Zivilprozessordnung (ZPO): Dieser Paragraph behandelt die Berücksichtigung der vom Vorgericht festgestellten Tatsachen in der Berufungsinstanz. Im vorliegenden Fall spielt die Frage, ob und inwiefern das Berufungsgericht an die Feststellungen des erstinstanzlichen Gerichts gebunden ist, eine wesentliche Rolle.
  3. Versicherungsrecht – Versicherungsrechtliche Aspekte sind bei Verkehrsunfällen häufig von Bedeutung. Hierbei geht es insbesondere um Fragen der Haftung und Schadensregulierung.
    • § 17 Straßenverkehrsgesetz (StVG): Dieser Paragraph regelt die Haftungsverteilung bei Verkehrsunfällen. Insbesondere die Frage, in welchem Maße die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben, ist für die endgültige Haftungsverteilung entscheidend.

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