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Wann liegt eine Beweisvereitelung vor?

Gerichtsurteil zur Beweisvereitelung und deren rechtlichen Folgen

Das OLG Köln hat in seinem Urteil (Az.: 20 U 240/23) vom 15.03.2024 entschieden, dass die Beweislastumkehr zum Nachteil des Klägers aufgrund des Vorwurfs der Beweisvereitelung durch das Landgericht Bonn nicht getragen wird, weshalb das ursprüngliche Urteil aufgehoben und zur erneuten Verhandlung an das Landgericht zurückverwiesen wird.

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✔ Das Wichtigste in Kürze

  • Das OLG Köln hebt das Urteil des Landgerichts Bonn auf und verweist den Fall zur Neuverhandlung zurück, da die Grundlage für die Beweislastumkehr zum Nachteil des Klägers fehlerhaft war.
  • Eine Beweisvereitelung durch den Kläger, welche eine solche Beweislastumkehr rechtfertigen könnte, wurde vom OLG nicht festgestellt.
  • Das Landgericht Bonn muss nun erneut unter Berücksichtigung der korrekten Beweislastverteilung und ohne Annahme einer Beweisvereitelung durch den Kläger entscheiden.
  • Die Entscheidung betont die Bedeutung der korrekten Anwendung von Beweislastregeln und die Anforderungen an die Annahme einer Beweisvereitelung.
  • Zudem wird klargestellt, dass auch bei mehreren Bevollmächtigten des Klägers die Nichtwahrnehmung eines Geheimhaltungstermins nicht automatisch eine Beweisvereitelung darstellt.
  • Das Urteil zeigt die Komplexität der Thematik rund um Geheimhaltungsbedürfnisse und die Herausforderungen bei der Beweisaufnahme in Gerichtsverfahren.
  • Es unterstreicht ferner, dass die Begründung einer Beweislastumkehr stets auf einer sorgfältigen Prüfung der Umstände basieren muss.
  • Revision gegen das Urteil wurde nicht zugelassen, wodurch die Entscheidung des OLG Köln abschließend ist.

Beweisvereitelung und ihre Folgen

Beweisvereitelung ist ein Rechtsbegriff, der im Zivilprozess eine wichtige Rolle spielt. Wenn eine Partei vorsätzlich oder fahrlässig Beweismittel vorenthält, vernichtet oder deren Nutzung verhindert, kann dies als Beweisvereitelung gewertet werden.

Diese Handlung kann schwerwiegende Folgen nach sich ziehen. Im schlimmsten Fall droht eine Beweislastumkehr zum Nachteil der Partei, die die Beweisvereitelung begangen hat. Es liegt dann an ihr, die Rechtmäßigkeit ihres Verhaltens zu beweisen – oft eine große Hürde. Deshalb ist es für alle Beteiligten essenziell, Beweisvereitelung zu vermeiden und stattdessen transparent und kooperativ an der Aufklärung mitzuwirken.

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➜ Der Fall im Detail


Kern des Streits: Beweisvereitelung und ihre rechtlichen Folgen

Im Fokus des Rechtsstreits steht die Frage der Beweisvereitelung, ein komplexes rechtliches Thema, das sowohl für Juristen als auch für Laien von Bedeutung ist. Der Fall, der vor dem OLG Köln verhandelt wurde, dreht sich um die Berufung eines Klägers gegen das Urteil des Landgerichts Bonn.

Beweisvereitelung
(Symbolfoto: KI gen. /Shutterstock.com)

Die ursprüngliche Entscheidung wurde aufgehoben, da die Grundlage für die angenommene Beweisvereitelung und die daraus resultierende Beweislastumkehr zum Nachteil des Klägers nicht tragfähig war. Diese rechtliche Auseinandersetzung betrifft direkt die Frage, unter welchen Umständen eine Partei durch ihr Verhalten die Beweisführung der Gegenseite schuldhaft unmöglich macht oder erschwert.

Gerichtliche Entscheidung zur Beweislast und deren Bedeutung

Das OLG Köln hat entschieden, dass das Landgericht Bonn die Klage abgewiesen hatte, ohne ausreichend zu begründen, warum die Handlungen des Klägers als Beweisvereitelung zu werten seien. Die Berufung des Klägers hatte vorläufigen Erfolg, was bedeutet, dass der Fall zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen wurde. Diese Entscheidung unterstreicht die Wichtigkeit einer sorgfältigen Prüfung und Begründung bei der Annahme einer Beweisvereitelung und der daraus folgenden Beweislastumkehr.

Die Rolle der Geheimhaltung in der Beweisführung

Ein wesentlicher Aspekt des Falles ist die Frage nach dem berechtigten Geheimhaltungsbedürfnis der Beklagten hinsichtlich bestimmter Dokumente. Das OLG Köln stellte fest, dass das Landgericht zu Recht die Notwendigkeit eines Geheimhaltungsbeschlusses anerkannt hatte, betonte jedoch, dass die Nichtwahrnehmung des entsprechenden Termins durch die Klägerseite allein nicht ausreicht, um eine Beweisvereitelung anzunehmen. Die sorgfältige Abwägung des Geheimhaltungsinteresses und der Anforderungen an die Prozessführung spielt eine entscheidende Rolle in der gerichtlichen Bewertung der Beweisvereitelung.

Verfahrensrechtliche Erwägungen und ihre Konsequenzen

Die Entscheidung des OLG Köln berührt auch wichtige verfahrensrechtliche Fragen, insbesondere die Vertretungsmacht von Prozessbevollmächtigten und die Bedingungen für die Verpflichtung zur Geheimhaltung. Das Gericht klärte, dass auch bei einer Mehrfachvertretung des Klägers die Verpflichtung eines einzelnen Anwalts zur Geheimhaltung ausreichen kann, solange dieser umfassend bevollmächtigt ist. Diese Feststellung hat weitreichende Implikationen für die Handhabung von geheimhaltungsbedürftigen Informationen im Gerichtsprozess.

Vorläufige Vollstreckbarkeit und fehlende Revision

Abschließend zum Urteil des OLG Köln wird der Beschluss zur vorläufigen Vollstreckbarkeit hervorgehoben, was bedeutet, dass das Urteil umgesetzt werden kann, während die endgültige Entscheidung noch aussteht. Die Nichtzulassung der Revision durch das OLG Köln zeigt, dass das Gericht die Rechtsfragen als geklärt ansieht und keinen grundlegenden Klärungsbedarf auf höherer Ebene erkennt. Dies verdeutlicht die Bedeutung des Urteils für die beteiligten Parteien und ihre unmittelbaren rechtlichen Interessen.

✔ Häufige Fragen – FAQ

Was versteht man unter Beweisvereitelung?

Unter Beweisvereitelung versteht man die vorsätzliche oder fahrlässige Handlung einer Partei in einem Gerichtsverfahren, durch die dem Gegner die Möglichkeit genommen oder erschwert wird, einen für ihn günstigen Beweis zu führen. Dies kann beispielsweise durch die Vernichtung, Veränderung oder Verheimlichung von Beweismitteln geschehen.

Eine Beweisvereitelung liegt vor, wenn die nicht beweisbelastete Partei dem beweisbelasteten Gegner schuldhaft die Beweisführung unmöglich macht oder erschwert. Dabei ist es unerheblich, ob dies vorsätzlich oder fahrlässig geschieht. Beispiele für eine Beweisvereitelung sind die Beseitigung von Beweismitteln, das Nichtaufbewahren schadhafter Bauteile oder die Verweigerung einer zumutbaren ärztlichen Untersuchung.

Die Rechtsfolgen einer Beweisvereitelung sind im deutschen Zivilprozessrecht nicht einheitlich geregelt. Grundsätzlich kann das Gericht eine Beweisvereitelung bei der Beweiswürdigung zu Lasten der vereitelten Partei berücksichtigen. Je nach Verschuldensgrad sind Beweiserleichterungen bis hin zu einer Beweislastumkehr möglich. Eine pauschale Fiktion, dass der Beweis als geführt gilt, lehnt der BGH jedoch ab.

Wie wird Beweisvereitelung im Gerichtsprozess behandelt?

Beweisvereitelung liegt vor, wenn die nicht beweisbelastete Partei dem beweisbelasteten Gegner schuldhaft die Beweisführung unmöglich macht oder erschwert. Dies kann beispielsweise durch die Vernichtung, Veränderung oder Verheimlichung von Beweismitteln geschehen. Dabei ist es unerheblich, ob dies vorsätzlich oder fahrlässig erfolgt.

Die Zivilprozessordnung enthält keine allgemeine Regelung für die Rechtsfolgen einer Beweisvereitelung. Grundsätzlich kann das Gericht eine Beweisvereitelung bei der Beweiswürdigung nach § 286 ZPO zu Lasten der vereitelten Partei berücksichtigen. Je nach Verschuldensgrad sind Beweiserleichterungen bis hin zu einer Beweislastumkehr zugunsten der beweisbelasteten Partei möglich:

  • Bei vorsätzlicher Beweisvereitelung kann die zu beweisende Tatsache regelmäßig als wahr behandelt werden.
  • Bei fahrlässiger Beweisvereitelung kommt eine Beweiserleichterung des Gegners in Betracht, die gegebenenfalls bis zur Umkehr der Beweislast reichen kann.
  • Fehlt ein Verschulden, treten dagegen keine negativen Folgen ein.

Der BGH lehnt es jedoch ab, bei einer Beweisvereitelung pauschal zu fingieren, dass der Beweis als geführt gilt. Vielmehr muss das Gericht auch in diesen Fällen eine Beweisaufnahme durchführen und in der Gesamtwürdigung das bestmögliche Ergebnis des vereitelten Beweismittels berücksichtigen.

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Zusammenfassend führt eine Beweisvereitelung also nicht automatisch zum Prozessverlust der vereitelten Partei. Das Gericht muss den Einzelfall betrachten und kann je nach den Umständen Beweiserleichterungen bis hin zur Beweislastumkehr gewähren. Eine völlige Fiktion des Beweisergebnisses ist nach der Rechtsprechung des BGH jedoch nicht zulässig.

Welche Rolle spielt die Geheimhaltung bei der Beweisführung?

Die Geheimhaltung spielt bei der Beweisführung im Zivilprozess eine wichtige Rolle, da hier oft ein Spannungsfeld zwischen dem Geheimhaltungsinteresse einer Partei und der Notwendigkeit einer effektiven Beweisführung besteht.

Grundsätzlich sind Parteien im Zivilprozess zur Vorlage von Urkunden und anderen Beweismitteln verpflichtet, selbst wenn diese geheimhaltungsbedürftige Informationen enthalten. Allerdings kann das Gericht zum Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen die Öffentlichkeit von der Verhandlung ausschließen. Auch Zeugen und Sachverständige können zur Verschwiegenheit über vertrauliche Informationen verpflichtet werden.

Verweigert eine Partei die Vorlage geheimhaltungsbedürftiger Beweismittel, so kann dies als Beweisvereitelung gewertet werden. Das Gericht kann daraus nachteilige Schlüsse bei der Beweiswürdigung ziehen, bis hin zu einer Beweislastumkehr. Allerdings muss die Partei die Geheimhaltungsbedürftigkeit substantiiert darlegen.

Um einen Ausgleich zwischen Geheimhaltung und Beweisführung zu schaffen, sieht das Gesetz zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen (GeschGehG) besondere Maßnahmen vor. So können als geheim eingestufte Informationen in einem abgesonderten Verfahren nur einem begrenzten Personenkreis zugänglich gemacht werden.

Insgesamt zeigt sich, dass bei der Beweisführung im Zivilprozess versucht wird, sowohl den Geheimhaltungsinteressen der Parteien als auch den Erfordernissen einer effektiven Beweisführung Rechnung zu tragen. Durch gesetzliche Regelungen und eine differenzierte Handhabung durch die Gerichte soll ein angemessener Ausgleich zwischen beiden Positionen erreicht werden.

Welche Auswirkungen hat eine Beweislastumkehr?

Eine Beweislastumkehr hat weitreichende Auswirkungen auf den Ausgang eines Zivilprozesses. Sie bedeutet, dass die Beweislast von der Partei, die normalerweise einen bestimmten Umstand beweisen muss, auf die Gegenpartei übergeht.

Im Regelfall muss jede Partei die Tatsachen beweisen, die für sie günstig sind und aus denen sie Rechte herleitet. Bei einer Beweislastumkehr dreht sich dies um: Nun muss die Gegenpartei beweisen, dass die behauptete Tatsache nicht vorliegt. Gelingt ihr dieser Beweis nicht, wird die Tatsache als wahr unterstellt und die andere Partei gewinnt den Prozess.

Eine Beweislastumkehr kann sich aus dem Gesetz ergeben, etwa bei Anscheinsbeweis oder gesetzlichen Vermutungen. Sie kann aber auch durch richterliche Rechtsfortbildung angeordnet werden, insbesondere als Sanktion für eine Beweisvereitelung.

Gerade bei der Beweisvereitelung ist die Beweislastumkehr ein scharfes Schwert: Macht eine Partei dem Gegner die Beweisführung schuldhaft unmöglich, kann das Gericht die zu beweisende Tatsache als wahr unterstellen. Dies gilt vor allem bei vorsätzlicher Beweisvereitelung, kann aber auch bei grober Fahrlässigkeit in Betracht kommen.

Die Beweislastumkehr erleichtert es der beweisbelasteten Partei erheblich, den Prozess zu gewinnen. Sie muss nicht mehr aktiv beweisen, sondern kann sich darauf verlassen, dass die Gegenpartei den Beweis des Gegenteils nicht erbringen kann. Damit verschiebt die Beweislastumkehr das Prozessrisiko massiv zulasten der Gegenpartei.

Insgesamt zeigt sich, dass die Beweislastumkehr ein einschneidendes prozessuales Instrument ist. Sie greift tief in die Rechtsposition der betroffenen Partei ein und kann über Sieg oder Niederlage im Prozess entscheiden. Gerade bei der Beweisvereitelung dient sie als wirksame Sanktion, um einer Verschleierung der Tatsachen entgegenzuwirken.

Kann die Verpflichtung zur Geheimhaltung Beweisvereitelung beeinflussen?

Die Verpflichtung zur Geheimhaltung kann durchaus Einfluss auf die Bewertung einer möglichen Beweisvereitelung haben. Grundsätzlich sind Parteien im Zivilprozess zur Vorlage aller relevanten Beweismittel verpflichtet, auch wenn diese vertrauliche Informationen enthalten. Verweigert eine Partei die Vorlage unter Berufung auf Geheimhaltung, kann dies als Beweisvereitelung gewertet werden.

Allerdings sind hier Differenzierungen notwendig: Beruht die Geheimhaltungspflicht auf gesetzlichen Vorschriften, etwa zum Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen, kann die Verweigerung der Vorlage gerechtfertigt sein. Das Gericht muss dann abwägen zwischen dem Geheimhaltungsinteresse und dem Interesse an einer effektiven Beweisführung.

Besteht die Geheimhaltungspflicht aufgrund einer vertraglichen Vereinbarung, ist die Rechtslage komplizierter. Grundsätzlich können solche Vereinbarungen die prozessuale Vorlagepflicht nicht aushebeln. Allerdings kann eine Verletzung der Geheimhaltungsvereinbarung Schadensersatzansprüche auslösen, was die Parteien oft vor einem Dilemma stehen lässt.

Um einen Ausgleich zu schaffen, sieht das Gesetz zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen (GeschGehG) besondere Maßnahmen vor. Danach können vertrauliche Informationen in einem abgesonderten Verfahren nur einem begrenzten Personenkreis zugänglich gemacht werden. So soll verhindert werden, dass die Geheimhaltung einer effektiven Beweisführung entgegensteht.

Verweigert eine Partei trotz dieser Möglichkeiten die Vorlage von Beweismitteln, wird das Gericht genau prüfen müssen, ob die Berufung auf Geheimhaltung berechtigt ist. Ist dies nicht der Fall, kann die Verweigerung sehr wohl als Beweisvereitelung gewertet werden – mit allen negativen Konsequenzen wie einer möglichen Beweislastumkehr.

Insgesamt zeigt sich, dass die Verpflichtung zur Geheimhaltung die Bewertung einer Beweisvereitelung zwar beeinflussen kann, aber nicht automatisch ausschließt. Es kommt auf die Umstände des Einzelfalls an, insbesondere auf die Grundlage und Reichweite der Geheimhaltungspflicht. Das Gericht muss hier sorgfältig abwägen und kann bei missbräuchlicher Berufung auf Geheimhaltung durchaus eine Beweisvereitelung annehmen.

§ Relevante Rechtsgrundlagen des Urteils

  • § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO: Erläutert die Möglichkeit der Zurückverweisung eines Falles an das erstinstanzliche Gericht zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, wenn das Berufungsgericht das erstinstanzliche Urteil aufhebt. Dies ist relevant, da das OLG Köln genau diesen Schritt im vorliegenden Fall unternommen hat.
  • § 540 Abs. 2 i.V.m. § 313a Abs. 1 Satz 1 ZPO: Regelt den Verzicht auf die Darstellung der tatsächlichen Feststellungen im Berufungsurteil, was im dargestellten Urteil angewendet wurde, um den Umfang des schriftlichen Urteils zu reduzieren.
  • § 174 Abs. 3 GVG: Betrifft die Geheimhaltungsverpflichtung, die ein Gericht Personen auferlegen kann, die Zugang zu geheimhaltungsbedürft


Das vorliegende Urteil

OLG Köln – Az.: 20 U 240/23 – Urteil vom 15.03.2024

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil der 21. Zivilkammer des Landgerichts Bonn vom 28. Juni 2023- 41 O 134/22 – aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten des Berufungsverfahrens – an das Landgericht Bonn zurückverwiesen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

I.

Von der Darstellung der tatsächlichen Feststellungen wird gemäß § 540 Abs. 2 i.V.m. § 313a Abs. 1 Satz 1 ZPO abgesehen.

II.

Die zulässige Berufung des Klägers hat in der Sache vorläufigen Erfolg.

Die von dem Landgericht gegebene Begründung trägt die Abweisung der Klage gestützt auf den Vorwurf der Beweisvereitelung und eine sich daraus ergebende Beweislastumkehr zum Nachteil des Klägers nicht. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben und die Sache auf den entsprechenden Hilfsantrag des Klägers nach § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO an das Landgericht zurückzuverweisen.

1.

Zu Recht ist das Landgericht allerdings davon ausgegangen, dass die Beklagte die Darlegungs- und Beweislast für die von dem Kläger bestrittene materielle Rechtmäßigkeit der streitgegenständlichen Beitragsanpassungen trifft (vgl. nur BGH, Urteil vom 9. Dezember 2015 – IV ZR 272/15, juris Rn. 21) und auf Grundlage des Parteivorbringens ein Sachverständigengutachten über die versicherungsmathematische Richtigkeit der den Prämienanpassungen für die Jahre 2020 bis 2022 zugrundeliegenden Kalkulationen einzuholen wäre.

a)

Die Beklagte hat ihrer Darlegungslast, anders als der Kläger meint, genügt. Ihrem Vortrag nebst den überreichten Anlagen lässt sich hinreichend entnehmen, wegen schwellenwertüberschreitender Veränderungen bei welcher Rechnungsgrundlage die Überprüfung und Anpassung der Beiträge jeweils erfolgt sein soll. Die Beklagte hat bereits in der Klageerwiderung (Bl. 78, Bl. 80 f. LGA) unter Bezugnahme auf die Anlage BLD 1 (Bl. 108 LGA) vorgetragen, dass Auslöser der Beitragsanpassungen jeweils geänderte Leistungsausgaben waren, und die auslösenden Faktoren für die streitgegenständlichen Anpassungen zudem konkret beziffert. Als Anlage BLD 2 (Bl.109-117 LGA) hat sie zudem Tabellen vorgelegt, in denen sie die Berechnung der Beitragserhöhungen im Einzelnen aufschlüsselt. Schließlich hat sie eine tabellarische Übersicht (Bl. 453 – 460 LGA) der auf dem zunächst nur für das Gericht zur Verfügung gestellten USB-Stick enthaltenen, dem Treuhänder vorgelegten Unterlagen mit weiteren Erläuterungen u.a. zum Grund des geltend gemachten Geheimhaltungsbedürfnisses zur Akte gereicht. Diese beziehen sich u.a. auch auf ein Limitierungskonzept.

b)

Nicht durchgreifend ist auch der entgegengesetzte Einwand der Beklagten, der Kläger habe die materielle Unwirksamkeit erstinstanzlich nur beschränkt auf die Vollständigkeit der dem Treuhänder vorgelegten Limitierungsunterlagen bestritten. Auf die entsprechende Nachfrage des Landgerichts (vgl. Bl. 416 LGA) hat der Kläger mit Schriftsatz vom 13. April 2023 (vgl. Bl. 423 LGA) klargestellt bzw. korrigiert, dass er die Rechtmäßigkeit der Limitierungsmaßnahmen bestreiten wolle.

2.

In berufungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise hat das Landgericht außerdem die grundsätzliche Notwendigkeit eines Geheimhaltungsbeschlusses nach § 174 Abs. 3 GVG bejaht, weil die Beklagte an den Unterlagen, die sie dem Treuhänder nach ihrem Vorbringen zur Überprüfung der Kalkulation der jeweiligen Prämienanpassungen nach § 203 Abs. 2 VVG zur Verfügung gestellt hat und die zum Gegenstand der sachverständigen Begutachtung zu machen wären, ein berechtigtes Geheimhaltungsinteresse geltend macht.

Der Kläger stellt ein berechtigtes Geheimhaltungsbedürfnis der Beklagten in Abrede, ohne sich jedoch mit deren Vorbringen und insbesondere deren Angaben in der Übersicht zu den auf dem USB-Stick befindlichen Unterlagen auseinanderzusetzen. Die Darlegung oder Feststellung einer besonderen Bedeutung der einzelnen konkret betroffenen Informationen für die wirtschaftliche Entwicklung des Versicherungsunternehmens ist entgegen der Auffassung des Klägers zur Bejahung eines berechtigten Geheimhaltungsinteresses nicht notwendig. Dafür findet sich insbesondere in der höchstrichterlichen Rechtsprechung keine Stütze. Der Bundesgerichtshof hat in seinem Urteil vom 9. Dezember 2015 (IV ZR 272/15, juris Rn. 9 f.) vielmehr zum Ausdruck gebracht, dass es sich bei den technischen Berechnungsgrundlagen, die der Krankenversicherer dem unabhängigen Treuhänder zur Prüfung einer Prämienanpassung nach § 203 Abs. 2 VVG vorzulegen hat, um Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse im Sinne von § 172 Nr. 2 GVG handelt, die überdies schon dann im Sinne der Vorschrift zur Sprache kommen, wenn die Unterlagen nach Darlegung des Versicherers zu deren Inhalt an die Gegenseite übergeben werden. Es versteht sich des Weiteren von selbst, dass die Beklagte vor dem Erlass eines Geheimhaltungsbeschlusses nicht gehalten sein konnte, zu dem konkreten Inhalt der geheimhaltungsbedürftigen Unterlagen noch näher vorzutragen. Auch insoweit ist die Würdigung des Landgerichts nicht zu beanstanden.

3.

Im weiteren Ausgangspunkt hat das Landgericht zudem zutreffend und in Einklang mit der Rechtsprechung des Senats angenommen, dass in der Nichtwahrnehmung des zum Erlass der vor der Einholung des Sachverständigengutachtens notwendigen Geheimhaltungsverpflichtung nach § 174 Abs. 3 GVG sowie zur Übergabe der geheimhaltungsbedürftigen Unterlagen bestimmten Termins durch die Klagepartei und einen mit vollumfänglicher Prozessvollmacht ausgestatteten Rechtsanwalt eine Beweisvereitelung zu sehen sein kann.

Eine Beweisvereitelung liegt vor, wenn eine Partei dem beweisbelasteten Gegner die Beweisführung schuldhaft unmöglich macht oder erschwert, indem sie vorhandene Beweismittel vernichtet bzw. vorenthält oder deren Benutzung erschwert oder verhindert (vgl. etwa BGH, Urteil vom 11. Juni 2015 – I ZR 226/13, juris Rn. 44; Urteil vom 25. Juni 1997 – VIII ZR 300/96, juris Rn. 18). Eine Verhinderung der Beweisführung in diesem Sinne kann dadurch eintreten, dass die beweiserheblichen Unterlagen, an denen der Versicherer berechtigterweise ein Geheimhaltungsinteresse geltend gemacht hat, weder zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung noch zu einer anschließenden Begutachtung gemacht werden können, weil die Klägerseite sich schuldhaft nicht der notwendigen Geheimhaltungsverpflichtung unterwirft. Der Senat verweist wegen der grundsätzlichen Anforderungen an die Annahme der Beweisvereitelung in solchen Fallkonstellationen vollumfänglich auf sein Urteil vom 1. September 2023 zum Aktenzeichen 20 U 50/23 (abzurufen über juris, dort Rn. 48 ff.).

Entgegen der Ansicht des Landgerichts genügt es allerdings auch bei einer Mehrfachvertretung des klagenden Versicherungsnehmers, wenn sich neben der Partei selbst mindestens ein Hauptbevollmächtigter zu der notwendigen Geheimhaltung nach § 174 Abs. 3 GVG verpflichten lässt.

a)

Der Kläger war in der mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht am 7. Juni 2023 persönlich anwesend und zudem durch einen im Sinne der §§ 81, 83 ZPO umfassend bevollmächtigten Rechtsanwalt vertreten. Rechtsanwalt M. ist ausweislich des Protokolls (vgl. Bl. 515 LGA) ausdrücklich „als weiterer Prozessbevollmächtigter“ unter Bezugnahme auf die zuvor zur Akte gereichte, der B. Rechtsanwaltsgesellschaft mbH erteilte Prozessvollmacht vom 10. März 2023 (vgl. Bl. 511 LGA) aufgetreten. Zwischenzeitlich ist ferner unter Vorlage eines Arbeitsvertrags vom 28. April 2022 (vgl. Bl. 307 ff. GA) klargestellt worden, dass Rechtsanwalt M. Angestellter der B. Rechtsanwaltsgesellschaft mbH ist. Mangels gegenteiliger Feststellungen hat der Senat überdies zu unterstellen, dass sowohl der Kläger als auch Rechtsanwalt M. bereit waren, sich zur Geheimhaltung durch einen Beschluss nach § 174 Abs. 3 GVG verpflichten zu lassen.

b)

Der Umstand, dass kein Vertreter der K. I. Rechtsanwaltsgesellschaft mbH als der weiteren Hauptbevollmächtigten des Klägers zum Termin erschienen ist, auf den der Geheimhaltungsbeschluss hätte erstreckt werden können, stand weder der regelkonformen Durchführung der anstehenden Beweisaufnahme noch einer prozessual ordnungsgemäßen Fortsetzung des Verfahrens im Übrigen entgegen.

aa)

Vorab ist klarstellend in den Blick zu nehmen, dass sich die Frage, ob es genügen kann, einen einzelnen Rechtsanwalt zur Geheimhaltung zu verpflichten, nicht nur bei der Bevollmächtigung von zwei Kanzleien, sondern in allen Fällen stellt, in denen nicht ausschließlich ein Einzelanwalt bevollmächtigt ist. Nach dem eindeutigen Wortlaut des § 174 Abs. 3 Satz 1 GVG können zur Geheimhaltung durch einen Beschluss nach dieser Vorschrift ausschließlich in der mündlichen Verhandlung persönlich anwesende Personen verpflichtet werden (vgl. BGH, Beschluss vom 23. Juni 2021 – IV ZB 23/20 Rn. 25; Beschluss vom 10. November 2021 – IV ZB 27/20, juris Rn. 24). Eine Weitergabe geheimhaltungsbedürftiger Unterlagen an gleichfalls vertretungsberechtigte, aber nicht zur Geheimhaltung verpflichtete Kollegen – auch aus derselben Rechtsanwaltsgesellschaft – verbietet sich daher (vgl. OLG Oldenburg, Beschluss vom 15. Februar 2022 – 1 W 5/23, BeckRS 2023, 9988 Rn. 3 f.).

bb)

Richtig ist, dass infolge eines nur auf Rechtsanwalt M. erstreckten Geheimhaltungsbeschlusses das Fortbestehen der Vollmacht der K. I. Rechtsanwaltsgesellschaft mbH ebenso wie aber auch der übrigen Vertreter der B. Rechtsanwaltsgesellschaft mbH für das weitere Verfahren weitgehend ins Leere laufen würde. Vorbehaltlich einer späteren Geheimhaltungsverpflichtung dürften insbesondere Schriftsätze, Gutachten und Entscheidungen, die sich auf die geheimhaltungsbedürftigen Unterlagen beziehen, keinem anderen Bevollmächtigten als Rechtsanwalt M. persönlich übermittelt werden; Akteneinsicht dürfte den übrigen Vertretern nicht unbeschränkt gewährt werden (vgl. dazu noch unter (4)).

Dies ist allerdings unschädlich. Es genügt, wenn zumindest ein einzelner uneingeschränkt vertretungsberechtigter Rechtsanwalt weiterhin in der Lage ist, sämtliche Zustellungen entgegenzunehmen, (Prozess-)Erklärungen für die Partei abzugeben und zu empfangen sowie an Verhandlungs- und Beweisaufnahmeterminen teilzunehmen, deren Inhalt der Geheimhaltung unterliegt. Dies wäre bei einer Verpflichtung des erschienenen Rechtsanwalts M. der Fall gewesen.

(1)

Im Zivilprozess kann sich die Partei – anders als im Strafverfahren (vgl. § 137 Abs. 1 StPO) – von beliebig vielen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen (MüKoZPO/Toussaint, 6. Aufl., § 84 Rn. 2). Nach § 84 Satz 1 ZPO sind mehrere Prozessbevollmächtigte berechtigt, sowohl gemeinschaftlich als auch einzeln die Partei zu vertreten. Ist eine rechtsfähige Berufsausübungsgesellschaft (§ 59b BRAO) bevollmächtigt worden, gilt § 84 ZPO entsprechend für die für die bevollmächtigte Gesellschaft nach § 79 Abs. 2 Satz 3 ZPO und § 59l Abs. 2 BRAO handelnden einzelnen Rechtsanwälte (vgl. MüKoZPO/Toussaint, 6. Aufl., § 84 Rn. 2; BeckOK ZPO/Piekenbrock, [1.12.2023], § 84 Rn. 5). Jeder Rechtsanwalt, auf den sich die erteilte Vollmacht erstreckt, ist daher nach § 84 ZPO zwingend (auch) einzelvertretungsbefugt. Innerhalb des Geltungsbereichs des Anwaltszwangs kann diese Einzelvertretungsmacht im Außenverhältnis gegenüber Gericht und Gegner nicht beschränkt werden (vgl. §§ 83 f. ZPO sowie BGH, Urteil vom 12. März 2019 – VI ZR 277/18, juris Rn. 13, 19 f.; Urteil vom 14. Januar 2019 – AnwZ (Brfg) 25/18, juris Rn. 15, auch zu evtl. Ausnahmen aufgrund materiell-rechtlicher Gemeinschaftsermächtigung).

(2)

Infolge der Einzelvertretungsbefugnis reicht es bei mehreren Bevollmächtigten aus, gerichtliche Handlungen nur gegenüber einem von ihnen vorzunehmen und Zustellungen nur an einen von ihnen zu bewirken (vgl. BGH, Beschluss vom 13. Januar 2021 – XII ZB 386/20, juris Rn. 9; Urteil vom 8. März 2004 – II ZB 21/03, juris Rn. 6; Urteil vom 4. Juni 1992 – IX ZR 149/91, BGHZ 118, 312, zitiert nach juris Rn. 34; Beschluss vom 21. Mai 1980 – IVb ZB 567/80, juris Rn. 6; Beschluss vom 15. Februar 1978 – IV ZB 42/77, juris Rn. 6; Smid/Hartmann in: Wieczorek/Schütze, ZPO, 5. Aufl., § 84 Rn. 3; Althammer in: Zöller, ZPO, 35. Aufl., § 84 Rn. 3; MüKoZPO/Toussaint, 6. Aufl., § 84 Rn. 6). Das Gericht darf sich außerdem darauf beschränken, nur einen von mehreren Prozessbevollmächtigen zum Termin zu laden (vgl. BGH, Urteil vom 20. März 1967 – VIII ZR 15/65, juris Rn. 6; Urteil vom 4. Juni 1992 – IX ZR 149/91, BGHZ 118, 312, zitiert nach juris Rn. 33 f.). Des Weiteren kann jeder einzelne Prozessbevollmächtigte mit Wirkung für und gegen die Partei Prozesshandlungen allein vornehmen, beispielsweise ein Rechtsmittel zurücknehmen, auch wenn ein anderer Prozessbevollmächtigter dieses eingelegt hat (vgl. BGH, Beschluss vom 30. Mai 2007 – XII ZB 82/06, juris Rn. 24). Die Partei muss sich sowohl die Kenntnis als auch das Verschulden jedes einzelnen ihrer Bevollmächtigten zurechnen lassen (vgl. § 85 Abs. 2 ZPO; BGH, Beschluss vom 14. November 1990 – XII ZB 35/90, juris Rn. 7; Beschluss vom 10. April 2003 – VII ZR 383/02, juris Rn. 6 ff.; MüKoZPO/Toussaint, 6. Aufl., § 84 Rn. 6; Althammer in Zöller: ZPO, 35. Aufl., § 85 Rn. 21).

(3)

Diejenigen Prozessbevollmächtigten, die sich der durch das Gericht für notwendig erklärten Geheimhaltungsverpflichtung nicht unterwerfen, begeben sich damit weitgehend der Möglichkeit, an dem Verfahren künftig noch mitzuwirken. Das Gericht hat grundsätzlich die Wahl, an wen es zustellt(vgl. BGH, Beschluss vom 15. Februar 1978 – IV ZB 42/77, juris Rn. 6). Nach dem Erlass eines Geheimhaltungsbeschlusses nach § 174 Abs. 3 GVG muss das Auswahlermessen zumindest in Bezug auf geheimhaltungsbedürftige Verfahrensgegenstände konsequenterweise auf diejenigen Bevollmächtigten beschränkt sein, die zur Geheimhaltung verpflichtet worden sind. Das Gericht ist zudem nicht gehindert, zur Vereinfachung der Abläufe und zur Vermeidung eines unangemessenen Mehraufwands, der mit einer Differenzierung verbunden wäre, auch alle übrigen Zustellungen und Zuschriften nur noch an den zur Geheimhaltung verpflichteten Rechtsanwalt vorzunehmen.

Dies ändert aber nichts daran, dass der Kläger seine prozessualen Rechte weiterhin in angemessener Weise wahrnehmen kann, indem er durch einen seiner Prozessbevollmächtigten zu allen Gegenständen des Verfahrens sowie zum Ergebnis der Beweisaufnahme Stellung nehmen oder beispielsweise ergänzende Fragen an den Sachverständigen richten kann.

Es ist die freie Entscheidung des Klägers, mehrere Rechtsanwälte bzw. Kanzleien nebeneinander mit seiner Prozessvertretung zu beauftragen und die hierfür auf Grundlage des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes anfallenden Mehrkosten (vgl. § 6 RVG) ggf. selbst zu tragen. Auch das zumindest theoretisch bestehende Risiko einer widersprüchlichen Vertretung darf der Kläger nach eigenem Ermessen eingehen. Ob und unter welchen Voraussetzungen für einen an der Vertretung weitgehend gehinderten Anwalt Veranlassung bestünde, sein Mandat niederzulegen, weil er – was auch haftungsrechtlich von Relevanz sein kann – dieses nicht mehr interessensgerecht wahrnehmen kann, ist für die hier maßgebliche Frage der wirksamen Vertretung der Partei durch einen anderen Prozessbevollmächtigten nicht ausschlaggebend.

In der Konsequenz muss dem Kläger bewusst sein, dass er sich nicht später auf eine Verletzung seiner Verfahrens(grund)rechte mit dem Argument wird berufen können, ein Teil seiner Rechtsanwälte sei nicht umfassend über alle Verfahrensinhalte informiert worden. Wenn sich mit der Billigung des Klägers nur einer seiner Bevollmächtigten zur Geheimhaltung verpflichten lässt, muss der Kläger sich an dieser Entscheidung – bis zu einer etwaigen späteren Erstreckung der Geheimhaltungsverpflichtung auf weitere Bevollmächtigte – festhalten lassen.

Es ist auch verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn Zustellungen nur an einen einzelnen Prozessbevollmächtigten vorgenommen werden. Äußerungsmöglichkeiten dürfen eingeschränkt werden, wenn dies durch sachliche Gründe hinreichend gerechtfertigt ist. Das Gericht darf nur nicht aus sachfremden Erwägungen eine Form der Anhörung wählen, die für den Betroffenen ein erhöhtes Risiko mit sich bringt, von den mitzuteilenden Umständen keine Kenntnis zu erhalten (vgl. BVerfG, Beschluss vom 29. November 1989 – 1 BvR 1011/88, juris Rn. 20). Für anstehende Folgetermine zur Beweisaufnahme und zur mündlichen Verhandlung, an denen weitere Prozessbevollmächtigte teilnehmen wollten, könnte und müsste ggf. ebenfalls ein weiterer Beschluss nach § 174 Abs. 3 GVG erlassen werden.

(4)

Das Gericht wäre auch umgekehrt prozessrechtlich nicht gehindert, die Geheimhaltung gegenüber den (noch) nicht nach § 174 Abs. 3 GVG verpflichteten Prozessbevollmächtigten zu gewährleisten. Entgegen der Auffassung des Landgerichts müsste insbesondere nicht jedem Prozessbevollmächtigen unabhängig von einer Geheimhaltungsverpflichtung nach § 174 Abs. 3 GVG gleichwohl Einsicht in alle Aktenbestandteile nach § 299 Abs. 1 ZPO gewährt werden.

Der Bundesgerichtshof hat zwar mit Urteil vom 9. Dezember 2015 (IV ZR 272/15, juris Rn. 18) u.a. ausgeführt, dass das Recht der Parteien auf Akteneinsicht die gesamten Akten umfasst und nicht im Hinblick auf zu wahrende Geschäfts- oder Betriebsgeheimnisse verwehrt werden darf. Er hat aber ebenso festgestellt, dass die Regelung des § 174 Abs. 3 GVG selbständig neben dem Recht auf Akteneinsicht steht und die Akteneinsicht deshalb mit sich aus dieser Vorschrift zulässigerweise ergebenen Beschränkungen, nämlich der Verpflichtung zur Geheimhaltung, gewährt werden kann (vgl. BGH, Urteil vom 9. Dezember 2015 – IV ZR 272/15, juris Rn. 18). Auf dieser Grundlage verbietet sich die Annahme, dass das Gericht zwar die Aufnahme geheimhaltungsbedürftiger Unterlagen in die Akte und deren Verwertung als Prozessstoff von der Verpflichtung der Geheimhaltung nach § 174 Abs. 3 GVG abhängig machen dürfte, dann aber ohne Rücksicht auf das Bestehen einer Geheimhaltungsverpflichtung jedem Prozessbevollmächtigten (vollständige) Akteneinsicht nach § 299 Abs. 1 ZPO zu gewähren hätte. Andernfalls ließe sich der Schutz des durch den Bundesgerichtshof anerkannten Geheimhaltungsinteresses des Versicherers ohne Weiteres durch die Bestellung einer größeren Kanzlei oder zusätzlicher Rechtsanwälte umgehen. Die Erstreckung einer Geheimhaltungsverpflichtung auf alle Angehörigen einer großen Kanzlei ließe sich praktisch zudem kaum bewerkstelligen und dürfte – abgesehen von bloßen prozesstaktischen Überlegungen – weder den Interessen der Kläger- noch der Beklagtenseite in der Sache gerecht werden.

Ob auch der Abschluss einer außergerichtlichen strafbewehrten Geheimhaltungsvereinbarung (vgl. dazu OLG München, Beschluss vom 17. Mai 2023 – 38 W 533/23 e, juris Rn. 15) oder die einseitige Abgabe einer strafbewehrten Unterlassungsverpflichtungserklärung in Betracht kommen, bedarf vorliegend keiner Entscheidung.

(5)

Das berechtigte Geheimhaltungsinteresse der Beklagten wird schließlich durch die Verpflichtung nur eines Bevollmächtigten ohnehin nicht beeinträchtigt. Für den Versicherer stellt es sich vielmehr als Vorteil dar, wenn nur ein einzelner gegnerischer Rechtsanwalt Einblick in die geheimhaltungsbedürftigen Unterlagen erhält und der Kreis der eingeweihten Personen dementsprechend begrenzt(er) bleibt. Das Risiko, dass der zur Geheimhaltung verpflichtete Rechtsanwalt sein Mandat später niederlegt oder beispielsweise krankheitsbedingt nicht ausüben kann und ein neuer bzw. weiterer Prozessbevollmächtigter zur Geheimhaltung verpflichtet werden muss, besteht in jedem Prozess unabhängig davon, wie viele Bevollmächtigte die Klägerseite hat.

Der in der Berufungserwiderung geäußerten Sorge der Beklagten, dass geheimhaltungsbedürftige Unterlagen „durch die Hintertür“ an nicht zur Geheimhaltung verpflichtete Bevollmächtigte weitergegeben werden könnten, kann nur – und muss zugleich – dadurch Rechnung getragen werden, dass das Gericht sich (mindestens) mit Blick auf die geheimhaltungsbedürftigen Inhalte auf die Kommunikation mit dem oder den entsprechend verpflichteten Hauptbevollmächtigten beschränkt. Es hat dafür Sorge zu tragen, dass sämtliche – seien es formlose oder förmliche – Zuschriften und Zustellungen, die geheimhaltungsbedürftige Daten betreffen, im Rahmen des elektronischen Rechtsverkehrs ausschließlich an das persönliche besondere elektronische Anwaltspostfach des zur Geheimhaltung verpflichteten Rechtsanwalts gesendet werden. Wie bereits ausgeführt, bestehen keine Bedenken, dass das Gericht sich hierzu vollständig auf die Kommunikation mit dem zur Geheimhaltung verpflichteten Rechtsanwalt beschränkt. Eine weitergehende faktische Sicherstellung der Geheimhaltung ist auch ansonsten durch einen Beschluss nach § 174 Abs. 3 GVG nicht zu gewährleisten. Selbstverständlich ist sowohl von der Partei selbst als auch von ihrem Rechtsanwalt zu erwarten, dass sie sich an die ihnen auferlegte und überdies strafbewehrte Geheimhaltungsverpflichtung halten und die ihnen anvertrauten Informationen tatsächlich nicht an Dritte weitergeben. Dass dies auch jegliche Weitergabe der betroffenen Informationen an nicht persönlich zur Geheimhaltung verpflichtete Kollegen – gleich ob aus derselben oder einer anderen Kanzlei – des zur Geheimhaltung verpflichteten Rechtsanwalts ausschließt, haben die klägerischen Prozessbevollmächtigten ausdrücklich anerkannt (vgl. Bl. 509 LGA).

4.

Das angefochtene Urteil ist demnach aufzuheben. Der Senat verweist die Sache auf den Hilfsantrag des Klägers hin zur weiteren Verhandlung nach § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO an das Landgericht zurück. Auf Grundlage des bisherigen Sach- und Streitstands wird eine aufwändige Beweisaufnahme durchzuführen sein. Aus den vorstehend dargestellten Gründen tragen zudem die verfahrensrechtlichen Erwägungen des Landgerichts bezogen auf die Reichweite der jeweiligen Vertretungsmacht mehrerer Prozessbevollmächtigter i.S.v. § 84 ZPO und das (Spannungs-)Verhältnis zwischen § 174 Abs. 3 GVG und § 299 ZPO das Absehen von dem an sich gebotenen Ausschluss der Öffentlichkeit sowie dem Erlass eines Geheimhaltungsbeschlusses nicht.

5.

Der Ausspruch der vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt mit Blick auf §§ 775 Nr. 1, 776 ZPO aus §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.

6.

Gründe, die Revision zuzulassen (§ 543 Abs. 2 ZPO), sind nicht gegeben.

Streitwert für das Berufungsverfahren: bis 7.000 EUR

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