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Verkehrsunfall – Kausalität einer HWS-Verletzung bei geringer Differenzgeschwindigkeit

OLG Bamberg – Az.: 5 U 66/12 – Beschluss vom 13.11.2012

1. Der Senat beabsichtigt, die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Landgerichts Coburg vom 14.03.2012, Az. 21 O 445/09, gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen, weil er einstimmig der Auffassung ist, dass die Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, der Rechtssache auch keine grundsätzliche Bedeutung zukommt und weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert. Auch die Durchführung einer mündlichen Verhandlung über die Berufung ist nicht geboten.

2. Der Senat beabsichtigt außerdem, der Klägerin die Kosten des Berufungsverfahrens aufzuerlegen und den Streitwert des Berufungsverfahrens auf 9.723,05 € festzusetzen.

3. Hierzu besteht Gelegenheit zur Stellungnahme bis spätestens 10.12.2012

Gründe

I.

Die Klägerin verfolgt behauptete Ansprüche auf materiellen und immateriellen Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall vom 24.11.2008 in H., für den die Beklagte unstreitig dem Grunde nach zu 100 % eintrittspflichtig ist. Streitig ist, ob die Klägerin bei dem Unfall, einem Auffahrunfall, verletzt wurde. Sie hat behauptet, sie hätte sich dadurch ein Postcommotionelles Syndrom, ein HWS-Syndrom und eine Commotio labyrinthi zugezogen, die lang anhaltende Beschwerden, wiederholte stationäre Klinikaufenthalte und ihre Arbeitsunfähigkeit bis 15.03.2009 nach sich gezogen hätten. Sie hat deswegen ein Schmerzensgeld von mindestens 6.000,00 € und Ersatz materieller Schäden in Höhe von 3.723,05 € nebst Zinsen und vorgerichtlichen Anwaltskosten gefordert sowie die Feststellung der Ersatzpflicht der Beklagten für zukünftige Schäden begehrt.

Das Landgericht hat die Klage wegen der genannten Ansprüche nach Beweisaufnahme abgewiesen. Gestützt auf ein biomechanisches Gutachten des Sachverständigen Dipl.-Ing. F. und ein medizinisches Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. B. hat sich das Landgericht nicht davon überzeugen können, dass die Beschwerden der Klägerin durch das Unfallereignis verursacht wurden.

Verkehrsunfall - Kausalität einer HWS-Verletzung bei geringer Differenzgeschwindigkeit
Symbolfoto: Von Andrey_Popov /Shutterstock.com

Mit der Berufung verfolgt die Klägerin die geltend gemachten Ansprüche (mit Ausnahme des Feststellungsantrags) weiter. Sie beanstandet die Beweiswürdigung des Landgerichts. Das Landgericht habe verkannt, dass es keine gesicherten Erkenntnisse zum Maß der Differenzgeschwindigkeit gibt, welches zur Verursachung einer HWS-Verletzung notwendig ist. Die vorliegenden ärztlichen Befunde und Aussagen der behandelnden Ärzte seien nicht hinreichend und nicht mit gleichem Maßstab gewürdigt worden wie die Gerichtsgutachten.

Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf das angefochtene Urteil (Bl. 221 – 230 d. A.) und die Berufungsbegründung vom 06.06.2012 (Bl. 263 ff d. A.) Bezug genommen.

II.

Die Berufung hat offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg, weil das angefochtene Endurteil weder auf einer Rechtsverletzung beruht, noch die zugrunde zu legenden Tatsachen eine andere Entscheidung rechtfertigen (§§ 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, 513 Abs. 1, 529, 546 ZPO).

Gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO ist das Berufungsgericht an die Tatsachenfeststellungen des  erstinstanzlichen Gerichts gebunden, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen und deshalb erneute Feststellungen durch das Berufungsgericht gebieten. Zweifel im Sinne dieser Vorschrift liegen nur dann vor, wenn – aufgrund konkreter Anhaltspunkte – aus der Sicht des Berufungsgerichts eine gewisse – nicht notwendig überwiegende – Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass im Falle erneuter Tatsachenfeststellungen die erstinstanzlichen Feststellungen keinen Bestand haben werden, sich also deren Unrichtigkeit herausstellt (vgl. BGHZ 158, 269 ff. = NJW 2004, 1876 ff.; BGHZ 162, 313 ff. = NJW 2005, 1583 ff.; BGH NJW 2003, 3480 ff.).

Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Der Senat schließt sich dem angefochtenen Urteil an und nimmt vorbehaltlich der nachfolgenden Ausführungen auf die Begründung des angefochtenen Urteils Bezug.

Zum Berufungsvorbringen ist ergänzend zu bemerken:

Die Beweiswürdigung durch das Gericht bestimmt sich im Zivilprozess nach § 286 ZPO. Danach ist der Richter dazu aufgefordert, nach seiner freien Überzeugung zu entscheiden. Dies bedeutet, dass der Richter lediglich an die Denk- und Naturgesetze sowie die bestehenden Erfahrungssätze gebunden ist, ansonsten aber die im Prozess gewonnenen Erkenntnisse grundsätzlich ohne Bindung an gesetzliche Beweisregeln nach seiner individuellen Einschätzung bewerten darf und muss. Der Vorgang der Überzeugungsbildung ist nicht von objektiven Kriterien abhängig, sondern beruht auf Erfahrungswissen und Judiz des erkennenden Richters (vgl. BGH NJW 08, 2845 m.w.N.; vgl. auch zum Ganzen Zöller, ZPO, 29. Aufl., § 286 Rn. 13).  Eine  Behauptung  ist  bewiesen, wenn das Gericht von ihrer Wahrheit überzeugt ist, ohne dabei unerfüllbare Anforderungen an deren Nachweis zu stellen (BGH WM 98, 1689). Nach § 286 Abs. 1 ZPO bezieht sich die Beweiswürdigung auf den gesamten Inhalt der mündlichen Verhandlung und des Vortrages der Parteien. Das Gericht beurteilt den Wert der einzelnen Beweismittel unter Berücksichtigung der ihnen eigenen Fehlerquellen (BGH NJW 98, 2736). Die ausdrücklich in § 286 Abs. 1 ZPO vorgesehene Würdigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses der Beweisaufnahme nach freier Überzeugung gibt dem Richter die Möglichkeit, unabhängig von Partei- und Zeugenstellung die Aussagen gegeneinander abzuwägen und zu bewerten (vgl. BVerfG NJW 01, 2531; BGH NJW-RR 06, 61; BGH NJW 03, 3636).

Unter Berücksichtigung dieser Rechtsgrundsätze ist die vom Landgericht vorgenommene Beweiswürdigung nicht zu beanstanden. Die Klägerin nimmt lediglich eine andere, ihr günstigere Beweiswürdigung vor, die jedoch weder zwingend noch derjenigen des Landgerichts vorzugswürdig ist. Dem Landgericht ist auch kein entscheidungserheblicher Verfahrensfehler unterlaufen.

Das Landgericht hat insbesondere nicht verkannt, dass es bei der kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung keine absolute „Harmlosigkeitsgrenze“ gibt, deren Unterschreitung eine HWS-Verletzung ausschließt. Dementsprechend hat das Landgericht, obwohl der Sachverständige F. eine Geschwindigkeitsänderung von nur 5 bis 6 km/h ermittelt und u. a. ausgeführt hat, dass nach durchgeführten Untersuchungen bei Geschwindigkeitsänderungen unter 10 km/h grundsätzlich keine HWS-Verletzungen auftreten, weiter Beweis erhoben durch Erholung eines medizinischen Gutachtens zu der Frage, ob trotz der festgestellten relativ geringen Geschwindigkeitsänderung die geklagten Beschwerden auf den Unfall zurückgeführt werden können (vgl. die Beweisbeschlüsse vom 07.04.2010, Bl. 60/62, und 12.09.2011, Bl. 169/179 d. A. sowie LGU S. 8).

Die medizinische Begutachtung hat einen solchen Zusammenhang aber ebenfalls nicht belegen können, sondern im Gegenteil degenerative Veränderungen der HWS als mögliche Alternativursache festgestellt, während die neben dem HWS-Syndrom behaupteten Verletzungen mangels Traumatisierung des Schädels als Unfallfolge ausgeschlossen werden konnten und einige der beschriebenen Beschwerden für eine HWS-Beschleunigungsverletzung als untypisch eingestuft wurden. Auf dieser Grundlage ist es nicht zu beanstanden, sondern gut nachvollziehbar, dass sich das Landgericht nicht von der Unfallbedingtheit der geltend gemachten Beschwerden überzeugen konnte.

Mit den vorliegenden Befunden und Diagnosen der behandelnden Ärzte haben sich sowohl der Sachverständige Prof. Dr. B. (Gutachten vom 23.09.2011, Bl. 175 ff d. A., dort S. 4 ff und 7 ff, und Ergänzungsgutachten zu den Einwendungen der Klägerin vom 04.01.2012, Bl. 207 ff d. A., dort S. 3/4) als auch – ihm folgend – das Landgericht (LGU S. 9) im gebotenen Umfang auseinandergesetzt. Unbeschadet des Umstands, dass eine HWS-Verletzung und die entsprechenden Beschwerden – wie vom Sachverständigen Prof. Dr. B. ausgeführt, meist nicht objektivierbar sind, wurde den vorliegenden ärztlichen Äußerungen letztlich nicht abgesprochen, das Beschwerdebild und die daraus resultierenden Beeinträchtigungen nach den damals jeweils zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen, insbesondere auch nach den Beschwerdeäußerungen der Klägerin, grundsätzlich zutreffend dokumentiert und diagnostiziert zu haben. Für den im Zivilprozess nach Maßgabe des § 286 ZPO zu führenden Vollbeweis einer durch den Unfall verursachten und damit haftungsbegründenden Verletzung sind jedoch höhere Anforderungen zu stellen. Erst dem medizinischen Gerichtsgutachter standen alle nun vorliegenden Erkenntnisse aus dem Behandlungsverlauf, über die vorbestehenden degenerativen Veränderungen und über das erst im Prozess gutachtlich ermittelte Maß der kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung zur Verfügung. Demgegenüber setzen die vorgelegten Arztberichte die Unfallbedingtheit der Beschwerden im Hinblick auf den zeitlichen Zusammenhang eher voraus und beschreiben den Behandlungsverlauf, als die Unfallbedingtheit zu hinterfragen. Eine intensive Auseinandersetzung mit der Frage der Ursächlichkeit des Unfalls ist auch nicht Aufgabe des behandelnden Arztes.

Soweit sich das Gutachten der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik M. vom 17.05.2010 (Anlage K 23) ausdrücklich mit der Klärung der „Zusammenhangsfrage“ zu befassen hatte und dabei von einer HWS-Beschleunigungsverletzung „im Rahmen eines Auffahrunfalls“ ausging, lagen auch dort keine Erkenntnisse über die konkrete kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung vor. Im übrigen äußert sich dieses für die Berufsgenossenschaft erstattete Gutachten zur Frage der Ursächlichkeit nicht nach Maßgabe des zivilrechtlichen Kausalitätsbegriffs sondern nach Maßgabe sozialrechtlicher Kriterien, insbesondere dazu, ob und in wieweit die geklagten Gesundheitsschäden (sozialrechtlich) „mit Wahrscheinlichkeit“ durch „das Ereignis“ verursacht wurden (vgl. dort Frage 4, S. 10). Eine Wahrscheinlichkeit reicht jedoch für den im Zivilprozess gemäß § 286 ZPO zu führenden Vollbeweis unfallbedingter Verletzungen nicht aus.

Soweit nunmehr vorgetragen wird, die Beschwerden der Klägerin seien nach Abschluss der ersten Instanz abgeklungen, so kann dies nicht als Beweis gewertet werden, dass unfallunabhängige Ursachen ausscheiden. Denn auch degenerativ bedingte Beschwerden können grundsätzlich durch ärztliche Maßnahmen, wie sie die Klägerin auch erfahren hat, erfolgreich behandelt werden. Dieser Umstand ist daher nicht aussagekräftig.

III.

Aus diesen wesentlichen Gründen hat die Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg. Eine Entscheidung des Berufungsgerichts ist auch nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Sache, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung geboten (§ 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und 3 ZPO). Umstände, die gleichwohl eine mündliche Verhandlung erfordern würden (§ 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 ZPO), sind nicht ersichtlich.

Die beabsichtigte Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO. Die beabsichtigte Festsetzung des Streitwerts ergibt sich aus dem Betrag der weiterverfolgten Ansprüche ohne Berücksichtigung der Nebenforderungen.

Auf die bei Berufungsrücknahme in Betracht kommende Gerichtsgebührenermäßigung von 4,0 auf 2,0 (vgl. KV Nr. 1220, 1222) wird vorsorglich hingewiesen.

 

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