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Entschädigungsloser Rücktritt von Flusskreuzfahrt aufgrund Corona

LG Stuttgart – Az.: 5 S 217/20 – Urteil vom 22.07.2021

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Amtsgerichts Stuttgart-Bad Cannstatt vom 20.11.2020 – 12 C 1596/20 – wird zurückgewiesen.

2. Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 120 % des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung gleiche Sicherheit leistet.

4. Die Revision gegen dieses Urteil wird zugelassen.

Beschluss

Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 1.319,86 € festgesetzt.

Gründe

I.

Entschädigungsloser Rücktritt von Flusskreuzfahrt aufgrund Corona
(Symbolfoto: hermitis/Shutterstock.com)

Die Klägerin und Berufungsbeklagte (im Folgenden: Klägerin) nimmt die Beklagte und Berufungsklägerin (im Folgenden: Beklagte) auf Rückzahlung ihrer Anzahlung einer Flusskreuzfahrt in Anspruch, die Beklagte hingegen verlangt im Wege der Widerklage von der Klägerin darüber hinausgehende Stornogebühren.

Die 84-jährige Klägerin buchte bei der Beklagten am 17.01.2020 eine achttägige Flusskreuzfahrt auf der MS Belvedere mit den Stationen Passau / Wien / Esztergom / Budapest / Mohacs – Budapest – Bratislava – Melk – Passau vom 22.06. bis zum 29.06.2020 für 1.599,84 €. Der Reise lagen die Allgemeinen Reisebedingungen der Beklagten (Aktenseite 31) zugrunde. Die Klägerin leistete eine Anzahlung in Höhe von 319,97 €.

Mit Schriftsatz vom 07.06.2020 (Aktenseite 9) stornierte die Klägerin die Reise aufgrund der Corona-Pandemie. Anlässlich eines Besuchs bei ihrer Hausärztin kurz zuvor war ihr dies dringend geraten worden, da sie immer wieder mit Lungen- und Bronchialentzündungen zu tun hatte. Die Beklagte erstellte mit Schriftsatz vom 25.06.2020 (Aktenseite 28) eine Stornorechnung – unter Verrechnung der Anzahlung – über 999,89 €. Die Klägerin forderte mit Schriftsatz vom 06.07.2020 (Aktenseite 11) die Beklagte erneut zur Rückzahlung ihrer Anzahlung bis zum 17.07.2020 auf, was die Beklagte verweigerte. Mit Schriftsatz vom 14.07.2020 wurde die Beklagte durch die Prozessbevollmächtigten der Klägerin zur Rückzahlung aufgefordert, wofür vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 81,43 € (Aktenseite 4) geltend gemacht werden. Die Kreuzfahrt wurde mit einem angepassten Hygienekonzept und einer von 176 auf 100 reduzierten Passagierzahl durchgeführt.

Wegen der Einzelheiten des Vorbringens wird auf den Tatbestand der angefochtenen Entscheidung Bezug genommen.

Die Klägerin nahm die Beklagte vor dem Amtsgericht Stuttgart-Bad Cannstatt auf Rückzahlung der geleisteten Anzahlung in Höhe von 319,97 € in Anspruch. Die Beklagte machte im Wege der Widerklage die restlichen Stornokosten (insgesamt 85 % des Reisepreises) in Höhe von 999,89 € geltend.

Das Amtsgericht verurteilte die Beklagte zur Rückzahlung der 319,97 € samt vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe von 81,43 € und wies die Widerklage ab.

Zur Begründung hat es ausgeführt, dass die Klägerin bei einer ex ante-Prognose am 07.06.2020 aufgrund der weltweiten Reisewarnung des Auswärtigen Amtes berechtigt war, entschädigungslos vom Vertrag gemäß § 651 h Abs. 3 BGB zurückzutreten. Die Klägerin zähle aufgrund ihres Alters und ihrer Vorerkrankung zur Risikogruppe, ein Impfstoff bzw. eine Therapie hätte zu der Zeit auch nicht zur Verfügung gestanden. Bei einer Flusskreuzfahrt sei von einer erhöhten Ansteckungsgefahr auszugehen aufgrund der engen räumlichen Verhältnisse.

Ergänzend wird auf die Entscheidungsgründe des erstinstanzlichen Urteils verwiesen.

Hiergegen wendet sich die Beklagte mit ihrer form- und fristgerecht eingelegten Berufung. Sie ist der Ansicht, dass eine weltweite Reisewarnung des Auswärtigen Amtes kein Tourismusverbot bedeuten könne und eine weltweite Pandemie auch nicht von § 651 h Abs. 3 BGB erfasst sei. Die Kreuzfahrt sei mit einem Corona-angepassten Hygienekonzept durchgeführt worden, dass die Klägerin zur Gruppe der Risikopatienten gehöre, falle in ihren eigenen Risikobereich.

Die Beklagte beantragt in der Berufungsinstanz:

Die Klage wird unter Abänderung des Urteils des Amtsgerichts Stuttgart-Bad Cannstatt – 12 C 1596/20 – in vollem Umfang abgewiesen und die Klägerin dazu verurteilt, an die Beklagte 999,89 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 10.07.2020 zu zahlen.

Die Klägerin beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Hinsichtlich des weiteren Berufungsvortrags wird auf die Berufungsbegründung und Berufungserwiderung Bezug genommen. Der nicht nachgelassene Schriftsatz der Beklagten vom 19.07.2021 gab keinen Anlass zur Wiedereröffnung der Verhandlung und würde auch eine andere rechtliche Beurteilung nicht rechtfertigen.

II.

Das Berufungsvorbringen rechtfertigt nicht die Abänderung des amtsgerichtlichen Urteils, so dass die Berufung zurückzuweisen ist.

1. Die Klägerin konnte von der gebuchten Kreuzfahrt gemäß § 651 h Abs. 3 BGB bzw. entsprechend gemäß 5.2 der AGB der Beklagten ohne Entschädigungspflicht zurücktreten.

a) Grundsätzlich entfällt der Entschädigungsanspruch des Reiseveranstalters nach § 651 h Abs. 3 Satz 1 BGB, wenn am Bestimmungsort oder in dessen unmittelbarer Nähe unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände auftreten, die die Durchführung der Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort erheblich beeinträchtigen. Bei der gegenwärtigen Covid 19-Pandemie dürfte an sich das Vorliegen von unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umständen zu bejahen sein. Auch der Erwägungsgrund 31 der Pauschalreiserichtlinie (RL(EU)2302/2015 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25.11.2015 über Pauschalreisen und verbundene Reiseleistungen, ABl. 2015 L 326,1) nennt ausdrücklich den Ausbruch einer schweren Erkrankung am Reiseziel als erhebliches Risiko für die menschliche Gesundheit als Beispiel.

b) Nach herrschender Meinung ist eine Gesamtwürdigung des Einzelfalls aus Sicht eines objektiven Durchschnittsreisenden im Hinblick auf die Frage, ob sich durch die außergewöhnlichen Umstände erhebliche Beeinträchtigungen der Reise ergeben, vorzunehmen. Dabei ist auf die ex ante-Sicht abzustellen, das heißt, der Umfang der Beeinträchtigung, wie er sich zur Zeit der Stornierungsentscheidung darstellt, ist zugrunde zu legen, auch wenn sich nachträglich die Umstände anders entwickeln.

c) Legt man diese Grundsätze zugrunde, so ist die Klägerin zurecht am 07.06.2020 davon ausgegangen, dass außergewöhnliche Umstände vorlagen, die die Durchführung der von ihr gebuchten Kreuzfahrt erheblich beeinträchtigen würden.

Das Auswärtige Amt sprach am 18.03.2020 eine weltweite Reisewarnung aus, die zunächst bis zum 29.04.2020 galt, dann aber bis zum 14.06.2020 verlängert wurde. Die Klägerin stornierte ihre Reise am 7.06.2020 und damit innerhalb dieser Zeitspanne. Am 07.06.2020 war auch keinesfalls absehbar bzw. wahrscheinlich, dass die Reisewarnung nicht wiederum verlängert würde und die Reise somit nicht in den Zeitraum der weltweiten Reisewarnung fallen würde. Die weltweite Reisewarnung des Auswärtigen Amtes ist als starkes Indiz anzusehen, dass eine erhebliche Beeinträchtigung der Reise vorliegt.

Hinzu kommt im vorliegenden Fall, dass eine Flusskreuzfahrt – auch bei begrenzter Passagierzahl und angepasstem Hygienekonzept – eine Reiseart darstellt, bei der man auf begrenztem Raum mit vielen Menschen zusammen ist und einer Begegnung mit ihnen nur schlecht aus dem Weg gehen kann. Die Klägerin hatte die Reise alleine gebucht in der Erwartung, mit anderen Passagieren in Kontakt treten zu können, was durch Corona ebenfalls nicht mehr gewährleistet war. Zur Zeit der Stornierung gab es weder Impfangebote noch eine spezielle Therapiemöglichkeit. Die 84-jährige Klägerin hätte sich bei Durchführung der Reise einem erheblichen Gesundheitsrisiko aufgrund der Vorschädigung ihrer Lunge ausgesetzt. Diese tatsächlich objektiv erhöhte Gefährdung geht über bloße individuelle Angst oder Sorge vor einer Ansteckung hinaus.

Das Landgericht Stuttgart hat zwar in seinem Urteil vom 07.04.2021 (40 O 60/20 KfH) angeführt, dass das Alter und erhöhte Risiko eines Kunden nicht zu Lasten der Beklagten in die Abwägung eingestellt werden kann. Die Kammer sieht einerseits natürlich auch, dass dies Umstände sind, die allein in der Sphäre der Klägerin liegen. Hätte die Klägerin in Kenntnis der Corona-Pandemie eine Reise gebucht mit ihrem Alter und Gesundheitszustand, wäre ein Berufen hierauf auch nach Auffassung der Kammer ausgeschlossen. Anders liegt es aber dann, wenn eine Reise gebucht wird in Unkenntnis dessen, dass Umstände auftreten werden, bei denen das Alter und die gesundheitliche Vorschädigung lebensbedrohlich werden können. Auch dies sind Umstände, die im konkreten Einzelfall für die Abwägung relevant sind und daher nicht außer Betracht gelassen werden können.

Ob in Fällen der Corona-Pandemie auf die Entscheidung des BGH vom 15.10.2002 – X ZR 147/01 – zurückzugreifen ist und auf eine Wahrscheinlichkeit von mindestens 25 % der erheblichen Beeinträchtigung der Reise abzustellen ist, kann vorliegend dahingestellt bleiben, da eine Wahrscheinlichkeitsquote einer Ansteckung mit Corona bei einer Kreuzfahrt und einer Passagierin im Alter und mit dem Gesundheitszustand der Klägerin nicht fundiert bestimmt werden kann.

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Da die Klägerin somit gemäß § 651 h Abs. 3 BGB entschädigungslos zurücktreten konnte, steht ihr die Rückzahlung der von ihr angezahlten 319,97 € samt Nebenforderungen zu. Die Beklagte hingegen kann keine Entschädigung geltend machen, so dass die Widerklage abzuweisen war.

Damit verbleibt es beim amtsgerichtlichen Urteil.

Die Berufung war daher zurückzuweisen.

III.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf den §§ 708 Nr.10, 711, 709 S. 2 ZPO.

IV.

Die Revision wird im Hinblick auf die grundsätzliche Bedeutung der Frage, ob die Corona-Pandemie – und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen – einen entschädigungslosen Rücktritt von der Reise rechtfertigt, zugelassen, § 543 Abs. 2 Nr. 1 ZPO. Diese Frage ist bislang höchstrichterlich noch nicht entschieden und stellt sich in einer enormen Zahl an Fällen in der ersten Instanz, so dass ihre Beantwortung auch der Fortbildung des Rechts im Sinne des § 543 Abs. 2 Nr. 2 ZPO dient.

 

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