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Geschwindigkeitsüberschreitung – Bestätigung durch den Fahrer und Messtoleranzen

OLG Koblenz

Az.: 1 Ss 289/03

Beschluss vom 09.12.2003


In der Bußgeldsache wegen Geschwindigkeitsüberschreitung (hier: Rechtsbeschwerde des Betroffenen) hat der 1. Strafsenat – Bußgeldsenat – des Oberlandesgerichts Koblenz am 9. Dezember 2003 beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Montabaur vom 21. Mai 2003 mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben. Von der Aufhebung ausgenommen bleiben die getroffenen Feststellungen zum Tatort sowie zur Tatzeit und objektiven Tathandlung des Betroffenen einschließlich seiner Fahrgeschwindigkeit; diese bleiben aufrechterhalten.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an dieselbe Abteilung des Amtsgerichts zurückverwiesen.

Gründe:

I.
Das Amtsgericht hat gegen den Betroffenen wegen vorsätzlicher Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 42 km/h eine Geldbuße von 100 € festgesetzt und ein einmonatiges Fahrverbot angeordnet.
Nach den Urteilsfeststellungen befuhr der Betroffene mit einem PKW die Bundesautobahn 3 in Fahrtrichtung Frankfurt/Main im Bereich der Gemarkung M.. Wegen einer Baustelle war die zulässige Höchstgeschwindigkeit dort durch Verkehrszeichen 274 auf 80 km/h begrenzt. Neben der Baustellenbeschilderung waren jeweils beidseitig die Verkehrszeichen 274 aufgestellt und zwar kurz vor Kilometer 75,64 mit einer Geschwindigkeitsbeschränkung von 100 km/h, bei Kilometer 76,040 sowie bei Kilometer 76,3240 mit einer Geschwindigkeitsbeschränkung von 80 km/h und ein weiteres, die Höchstgeschwindigkeit auf 80 km/h begrenzendes Verkehrszeichen bei Kilometer 76,600. Bei Kilometer 77 bewegte der Betroffene das Fahrzeug mit einer Geschwindigkeit von 122 km/h.
Weiter geht das Urteil davon aus, dass dem Betroffenen die Geschwindigkeitsbeschränkung bekannt war und er bewusst mit überhöhter Geschwindigkeit gefahren ist.
Zur Einlassung des Betroffenen wird mitgeteilt, dass er die festgestellte Geschwindigkeitsüberschreitung eingeräumt hat. Vorsätzliches Handeln hat die Bußgeldrichterin aus dem Vorbeifahren an den unübersehbaren, wiederholt aufgestellten Verkehrszeichen 274 (Geschwindigkeitstrichter) und dem Durchfahren des Baustellenbereichs geschlossen. Die örtlichen Verhältnisse einschließlich der Beschilderungssituation zur Tatzeit hat die Richterin ihrem Urteil als gerichtsbekannt zugrunde gelegt.

II.
Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde des Betroffenen. Er beantragt, das angefochtene Urteil in vollem Umfang aufzuheben und rügt die Verletzung sowohl formellen als auch materiellen Rechts. Verfahrensfehler sieht er in der Verletzung der §§ 46 Abs. 1, 71 Abs. 1 OWiG, 261 StPO, weil weder die als gerichtsbekannt verwerteten Tatsachen in die Hauptverhandlung eingeführt, noch der Eichschein für das Geschwindigkeitsmessgerät und die Ordnungswidrigkeitsanzeige in der Hauptverhandlung verlesen worden seien.
Die Generalstaatsanwaltschaft beantragt, das Urteil schon auf die Sachrüge des Betroffenen hin aufzuheben, da es an einem Darstellungsmangel hinsichtlich der gefahrenen Geschwindigkeit leide. In Übereinstimmung mit dem Betroffenen in der Begründung seiner Sachrüge ist sie der Auffassung, es hätte die angewandte Messmethode und der vom Messergebnis in Abzug gebrachte Toleranzwert mitgeteilt werden müssen.

III.
Die gemäß § 79 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 OWiG statthafte, in zulässigerweise eingelegte Rechtsbeschwerde (§§ 79 Abs. 3 OWiG, 341 Abs. 1, 344, 345 StPO) ist begründet.
1.
Erfolg hat bereits die Verfahrensrüge, mit der der Betroffene die unterbliebene Einführung der als gerichtsbekannt verwerteten Tatsachen in die Hauptverhandlung beanstandet. Als gerichtskundig in die richterliche Überzeugungsbildung einbezogene Tatsachen müssen – nicht protokollierungspflichtig (BGHSt 36, 354) – in der Form Gegenstand der Hauptverhandlung gewesen sein, dass das Gericht darauf hingewiesen hat, es werde diese Tatsachen möglicherweise als offenkundig seiner Entscheidung zugrunde legen (BGH NStZ 1995, 246). Ansonsten wird dem Betroffenen die Möglichkeit abgeschnitten, sich gegen diese Tatsachenfeststellung wirksam zu verteidigen (vgl. BGHR StPO § 261 Gerichtskundigkeit 1). Vorliegend ergibt sich aus der eingeholten dienstlichen Äußerung der Bußgeldrichterin vom 17. November 2003, dass eine Einführung der in Rede stehenden Tatsachen in die Hauptverhandlung nicht stattgefunden hat. Sie sind dort nicht erörtert worden. Darin liegt ein Verstoß gegen §§ 46 Abs. 1, 71 Abs. 1 OWiG, 261 StPO und den Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG (vgl. BGHR a.a.O.), der zur Aufhebung des angefochtenen Urteils zwingt (§§ 79 Abs. 3 OWiG, 353 Abs. 1 StPO).
2.
Aufzuheben sind zugleich die dem Urteil zugrunde liegenden Feststellungen, jedoch nur soweit, als sie durch die Gesetzesverletzung betroffen werden (§§ 79 Abs. 3 OWiG, 353 Abs. 2 StPO). Das sind vorliegend die zu den objektiven Tatortverhältnissen einschließlich der Beschilderung des Streckenabschnitts mit Verkehrszeichen getroffenen, aber auch die darauf aufbauenden Feststellungen zur subjektiven Tatseite. Die Urteilsdarstellungen zum Tatort, zur Tatzeit und Tathandlung des Betroffenen einschließlich seiner Fahrgeschwindigkeit bleiben von dem aufgezeigten Rechtsfehler unberührt und können daher bestehen bleiben.
Sie werden auch nicht von einem anderen Rechtsverstoß formeller oder materieller Art betroffen.
a) Die zweite Verfahrensrüge des Betroffenen vermag einen Rechtsfehler nicht aufzuzeigen. Sie ist schon mangels ausreichender Begründung unzulässig. Die den behaupteten Mangel begründenden Tatsachen werden entgegen §§ 79 Abs. 3 OWiG, 344 Abs. 2 S. 2 StPO nicht vollständig vorgetragen.
Die Rüge, es seien im Urteil Urkunden – hier Eichschein und Ordnungswidrigkeitsanzeige – verwertet worden, ohne dass diese zuvor gemäß §§ 46 Abs. 1, 71 Abs. 1 OWiG, 249 Abs. 1 StPO in der Hauptverhandlung verlesen worden seien, ist nur dann Erfolg versprechend, wenn ein entsprechender Nachweis ohne Rekonstruktion der Beweisaufnahme geführt werden kann (BGHSt 29, 18, 21). Dem hat der Beschwerdeführer in seiner Begründung Rechnung zu tragen. Vorliegend fehlt in der Verfahrensrüge jeglicher Hinweis darauf, dass die bezeichneten Urkunden tatsächlich als Beweismittel Eingang in das angefochtene Urteil gefunden haben. Aus den – unabhängig vom Begründungsvorbringen auf die weiter erhobene Sachrüge zur Kenntnis zu nehmenden – Urteilsgründen ergibt sich dafür kein Anhaltspunkt. Die Urkunden werden dort nicht erwähnt. Was den Eichschein anbelangt, bemängelt der Betroffene mit der Sachrüge im Übrigen selbst die im Urteil fehlende Mitteilung der angewandten Geschwindigkeitsmessmethode. Wird danach schon dem Messvorgang als solchem im Urteil keine tragende Bedeutung beigemessen, kann für den das Messgerät betreffenden Eichschein nichts anderes gelten.
Des weiteren ergibt sich aus den Urteilsgründen, dass der Betroffene die festgestellte Geschwindigkeitsüberschreitung eingeräumt hat, mithin in diesem Umfang geständig gewesen ist. Daraus lässt sich folgern, dass die Bußgeldrichterin ihre über die objektiven Tatortverhältnisse hinaus gehenden Feststellungen – möglicherweise nach Vorhalt des Inhalts der Ordnungswidrigkeitsanzeige – auf die Einlassung des Betroffenen und nicht unmittelbar auf den Inhalt der Urkunde gegründet hat. Es wäre Aufgabe des Betroffenen gewesen, seine gegenteilige Behauptung durch substantiierten Tatsachenvortrag zu belegen. Dem ist er nicht nachgekommen. Das insoweit unvollständige Vorbringen führt zur Unzulässigkeit der Verfahrensrüge.
b) Die auf die Sachrüge vorzunehmende Prüfung der materiellen Rechtslage führt zu keinem auf die aufrechterhaltenden Urteilsfeststellungen sich auswirkenden Rechtsfehler. Der vom Betroffenen und der Generalstaatsanwaltschaft zur Fahrgeschwindigkeit übereinstimmend angeführte Darstellungsmangel liegt nicht vor. Nähere Angaben zum Vorgang der Geschwindigkeitsermittlung waren nicht erforderlich. Zwar muss der Tatrichter, um dem Rechtsbeschwerdegericht die Kontrolle der Beweiswürdigung zu ermöglichen, im Urteil grundsätzlich das angewandte Messverfahren und den berücksichtigten Toleranzwert mitteilen (BGH NJW 1993, 3081, 3083/3084). Dieser Darstellung bedarf es jedoch nicht, wenn der Betroffene uneingeschränkt und glaubhaft einräumt, die vorgeworfene Geschwindigkeit – mindestens – gefahren zu sein (BGH a.a.O., 3084).
Das ist vorliegend geschehen. Denn nach seiner im Urteil wiedergegebenen Einlassung hat der Betroffene „die festgestellte Geschwindigkeitsüberschreitung eingeräumt“. Es obliegt einzig der freien Beweiswürdigung des Tatrichters zu beurteilen, ob er von der Richtigkeit des Geständnisses überzeugt ist und eine Verurteilung darauf stützen kann. Gesteht der Betroffene die gemessene Geschwindigkeit ein, so besteht grundsätzlich kein Anlass, die Zulässigkeit seiner Angaben in Zweifel zu ziehen. Denn unabhängig vom Messvorgang konnte er durch einen Blick auf den Tachometer des Fahrzeugs vor oder nach der Messung seine Fahrgeschwindigkeit unschwer selbst ermittelt oder aufgrund von Erfahrenswerten – Motorgeräusche, sonstige Fahrgeräusche, Schnelligkeit, mit der sich die Umgebung verändert – geschätzt haben (BGH a.a.O., m.w.N.). Die Überprüfung der eigenen Fahrgeschwindigkeit durch den Führer eines Kraftfahrzeugs ist ein derart selbstverständlicher Vorgang, dass es dann, wenn der betroffene Kraftfahrer das Ergebnis einer durchgeführten Messung bestätigt, im Urteil regelmäßig keiner näheren Ausführungen zur Eignung seiner Erkenntnisquelle und Zuverlässigkeit seines Wissens bedarf. Zweifel an der Tragfähigkeit einer geständigen Einlassung ergeben sich dann, wenn der Betroffene ein bloßes „Zweckgeständnis“ ablegt, etwa dergestalt, dass er ohne Erinnerung an den konkreten Vorgang das Messergebnis nicht bezweifeln will, weil sein Verteidigungsvorbringen eine andere Zielrichtung hat (vgl. BGH a.a.O.). Ein Geständnis in diesem Sinn kann vorliegend aber ausgeschlossen werden, da im Urteil die Einlassung des Betroffenen klar und eindeutig als Einräumen der Geschwindigkeitsüberschreitung beschrieben wird. Eine darauf aufbauende Überzeugungsbildung zur gefahrenen Geschwindigkeit lässt keinen Rechtsfehler erkennen.
Trotz vollständiger Aufhebung des Urteils können daher die getroffenen Feststellungen im beschriebenen Umfang aufrechterhalten bleiben. Zu erneuter Verhandlung und Entscheidung ist die Sache an dieselbe Abteilung des Amtsgerichts zurückzuverweisen (§ 79 Abs. 6 OWiG).

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