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Infektionsschutz – Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung

Verwaltungsgericht Schleswig-Holstein – Az.: 1 B 35/20 – Beschluss vom 03.04.2020

Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen die Allgemeinverfügung des Antragsgegners vom 23. März bei 2020 in Gestalt der nun geltenden Allgemeinverfügung vom 1. April 2020 wird abgelehnt.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Streitwert wird auf 5.000 € festgesetzt.

Gründe

Infektionsschutz - Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung
Symbolfoto:Von Radowitz /Shutterstock.com

Der vorläufige Rechtsschutzantrag ist als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen die Allgemeinverfügung des Antragsgegners vom 23. März 2020 und nach deren Aufhebung durch die Allgemeinverfügung vom 1. April 2020 nun gegen die vorliegend maßgebenden materiell nicht geänderten Ziffern 11 und 12 der Allgemeinverfügung vom 1. April 2020 (bisher Ziffern 10 und 11 der Allgemeinverfügung vom 23. März 2020) nach § 80 Abs. 5 Satz 1 1. Alt. VwGO zulässig. Insoweit kann der Antragsteller geltend machen, durch die Allgemeinverfügung in eigenen Rechten verletzt zu sein (§ 42 Abs. 2 analog VwGO). Die Regelung der bisherigen 10 und 11 der Allgemeinverfügung vom 23. März 2020 gelten inhaltlich durch die Allgemeinverfügung vom 1. April 2020 mit den Ziffern 11 und 12 trotz der formellen Aufhebung weiter fort. Im Interesse der Effektivität des Rechtsschutzes bei den sich gegenwärtig häufig ändernden Allgemeinverfügungen, die in der Regel nur wenige Änderungen enthalten und nur im Interesse der Regelungsklarheit formell aufgehoben werden, ist es gerechtfertigt, bei unverändertem Regelungsgehalt einen eingelegten Widerspruch auch auf die neue Allgemeinverfügung zu erstrecken. Im Übrigen – soweit es nicht um die Ziffern 11 und 12 der Allgemeinverfügung vom 1. April 2020 mit den dort geregelten Kontaktverboten und Abstandsgeboten geht – ist der Antrag nicht zulässig, da der Antragsteller nicht geltend machen kann, durch die Allgemeinverfügung in eigenen Rechten verletzt zu sein.

Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 1. Alt. VwGO i.V.m § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO kann das Gericht in dem vorliegenden Fall des nach § 28 Abs. 3 i.V.m. § 16 Abs. 8 IfSG gesetzlich angeordneten Sofortvollzuges die aufschiebende Wirkung des Widerspruches ganz oder teilweise anordnen. Die gerichtliche Entscheidung ergeht dabei auf der Grundlage einer umfassenden Interessenabwägung. Gegenstand der Abwägung sind das Aufschubinteresse der Antragsteller einerseits und das öffentliche Interesse an der Vollziehung des streitbefangenen Verwaltungsaktes andererseits. Im Rahmen dieser Interessenabwägung können auch Erkenntnisse über die Rechtmäßigkeit und die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes, der vollzogen werden soll, Bedeutung erlangen, allerdings nicht als unmittelbare Entscheidungsgrundlage, sondern als in die Abwägung einzustellende Gesichtspunkte, wenn aufgrund der gebotenen summarischen Prüfung Erfolg oder Misserfolg des Rechtsbehelfs offensichtlich erscheinen. Lässt sich bei der summarischen Überprüfung die Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides ohne weiteres feststellen, ist sie also offensichtlich, so ist die aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs anzuordnen, weil an einer sofortigen Vollziehung eines offensichtlich rechtswidrigen Bescheides kein öffentliches Interesse bestehen kann. Erweist sich nach der genannten Überprüfung der angefochtene Bescheid als offensichtlich rechtmäßig, so führt dies in Fällen des gesetzlich angeordneten Sofortvollzuges regelmäßig dazu, dass der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung abzulehnen ist.

Lässt sich nach der im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO gebotenen summarischen Überprüfung weder die offensichtliche Rechtmäßigkeit noch die offensichtliche Rechtswidrigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes mit der erforderlichen Sicherheit feststellen, so ergeht die Entscheidung aufgrund einer weiteren Interessenabwägung, in der zum einen die Auswirkungen in Bezug auf das öffentliche Interesse in dem Fall, dass dem Antrag stattgegeben wird, der Rechtsbehelf im Hauptsacheverfahren indes erfolglos bleibt, und zum anderen die Auswirkungen auf den Betroffenen für den Fall der Ablehnung eines Antrags und des erfolgreichen Rechtsbehelfs in der Hauptsache gegenüberzustellen sind. Bei dieser Interessenabwägung ist jeweils die Richtigkeit des Vorbringens desjenigen als wahr zu unterstellen, dessen Position gerade betrachtet wird, soweit das jeweilige Vorbringen ausreichend substantiiert und die Unrichtigkeit nicht ohne weiteres erkennbar ist (OVG Schleswig, Beschluss vom 13. September 1991 – 4 M 125/91 –, Rn. 14, juris; Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht, Beschluss vom 11. September 2017 – 1 B 128/17 –, Rn. 28 – 29, juris).

Die Kammer kann vorliegend weder die offensichtliche Rechtmäßigkeit noch die offensichtliche Rechtswidrigkeit der ergangenen Allgemeinverfügung im Hinblick auf das Verbot des räumlich engen Kontakts zu mehr als einer Person, die nicht im eigenen Haushalt lebt, feststellen. Es sprechen allerdings gewichtige Anhaltspunkte dafür, dass die Allgemeinverfügung in dieser Hinsicht rechtmäßig ist. Bei der vorzunehmenden weiteren Interessenabwägung überwiegt das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung der Allgemeinverfügung das private Aufschubinteresse des Antragstellers.

Maßgebend für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Allgemeinverfügung zu dieser Anordnung des Antragsgegners ist der Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts, da es sich insoweit um einen Dauerverwaltungsakt handelt. Die Frage des maßgeblichen Zeitpunkts für die Erteilung der Sach- und Rechtslage ergibt sich grundsätzlich aus den Regelungen des materiellen Rechts (BVerwG, Urteil vom 27. April 1990 – 8 C 87/88 –, Rn. 11, juris). Enthält dieses insoweit keine Regelung, gilt für Anfechtungssachen im Zweifel die Regel, dass bei Verwaltungsakten mit Dauerwirkung auch spätere nach Erlass des Verwaltungsaktes entstandene Veränderungen der Sach- und Rechtslage zu berücksichtigen sind (vgl. BVerwG, Urteile vom 18. März 2004 – 3 C 16.03 – NVwZ 2005, 87; vom 21. August 2003 – 3 C 15.03 – NJW 2004, 698; vom 22. Januar 1998 – 3 C 6.97 – BVerwGE 106, 141). Nach Neuerlass der streitigen Regelungen durch die Allgemeinverfügung vom 1. April 2020, die in weitem Umfang die Regelungen der Allgemeinverfügung vom 23. März 2020 übernimmt, kann kein Zweifel daran bestehen, dass es für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Allgemeinverfügung auf die gegenwärtige Sach- und Rechtslage ankommt.

Die streitgegenständliche Allgemeinverfügung kann ihre Rechtsgrundlage in § 28 Abs. 1 Satz 1, 2 IfSG in der Fassung des Art. 1 Nr. 6 des Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 27. März 2020 (BGBl. I S. 587), insoweit am Tag nach der Verkündung im Bundesgesetzblatt in Kraft getreten, finden. Danach trifft die zuständige Behörde, wenn Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt werden, die notwendigen Schutzmaßnahmen, insbesondere die in den §§ 29-31 genannten, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist; sie kann insbesondere Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte oder öffentliche Orte nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu betreten (Satz 1). Unter den Voraussetzungen von Satz 1 kann die zuständige Behörde Veranstaltungen oder sonstiger Ansammlungen von Menschen beschränken oder verbieten und Badeanstalten oder in § 33 genannte Gemeinschaftseinrichtungen oder Teile davon schließen (Satz 2). Eine Heilbehandlung darf nicht angeordnet werden (Satz 3). Die Grundrechte der Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 des Grundgesetzes), der Versammlungsfreiheit (Art. 8 des Grundgesetzes), der Freizügigkeit (Art. 11 Abs. 1 des Grundgesetzes) und der Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 Abs. 1 des Grundgesetzes) werden insoweit eingeschränkt (Satz 4).

Es handelt sich bei der Bestimmung des § 28 Abs. 1 Satz 1 1. Halbsatz IfSG n. F. um eine Generalklausel, die die zuständigen Behörden zum Handeln verpflichtet (sog. gebundene Entscheidung). Hinsichtlich Art und Umfang der Bekämpfungsmaßnahmen, – „wie“ des Eingreifens – ist der Behörde Ermessen eingeräumt. Dem liegt die Erwägung zugrunde, dass sich die Bandbreite der Schutzmaßnahmen, die bei Auftreten einer übertragbaren Krankheit in Frage kommen können, nicht in jeder Hinsicht im Vorfeld bestimmen lässt. Der Gesetzgeber hat § 28 Abs. 1 Satz 1 1. Halbsatz IfSG als Generalklausel ausgestaltet. Das behördliche Ermessen wird dadurch beschränkt, dass es sich um „notwendige Schutzmaßnahmen“ handeln muss, nämlich Maßnahmen, die zur Verhinderung der (Weiter-)Verbreitung der Krankheit geboten sind. Darüber hinaus sind dem Ermessen durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Grenzen gesetzt (BVerwG, Urteil vom 22. März 2012 – 3 C 16/11 –, BVerwGE 142, 205-219, Rn. 24). Die Eingriffsbefugnisse werden für bestimmte notwendige Maßnahmen in § 28 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz und Satz 2 IfSG weiter konkretisiert.

Bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit der verfügten Beschränkungen ist der im allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht geltende Grundsatz heranzuziehen, dass an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts umso geringere Anforderungen zu stellen sind, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist. Dafür sprechen das Ziel des Infektionsschutzgesetzes, eine effektive Gefahrenabwehr zu ermöglichen (§ 1 Abs. 1, § 28 Abs. 1 IfSG), sowie der Umstand, dass die betroffenen Krankheiten nach ihrem Ansteckungsrisiko und ihren Auswirkungen auf die Gesundheit des Menschen unterschiedlich gefährlich sind. Es erscheint sachgerecht, einen am Gefährdungsgrad der jeweiligen Erkrankung orientierten, „flexiblen“ Maßstab für die hinreichende (einfache) Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen (VG Bayreuth, Beschluss vom 11. März 2020 – B 7 S 20.223 –, Rn. 44 – 45, juris). Sind Schutzmaßnahmen erforderlich, so können diese grundsätzlich nicht nur gegen die in Satz 1 genannten Personen, also gegen Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider getroffen werden, sondern – soweit erforderlich – auch gegenüber anderen Personen (Bales/Baumann/Schnitzler, Infektionsschutzgesetz, Kommentar, 2. Aufl. § 28 Rn. 3). Es bestehen keine Zweifel daran, dass es sich bei der Infektion mit dem SARS-CoV-2, der zur Lungenkrankheit Covid-19 führen kann, um eine übertragbare Krankheit im Sinne des § 2 Nr. 3 IfSG handelt, so dass der Anwendungsbereich des 5. Abschnitts des Infektionsschutzgesetzes, der sich mit der Bekämpfung übertragbarer Krankheiten befasst, eröffnet ist (vgl. hierzu den Steckbrief des RKI zur Coronavirus-Krankheit:

https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/ nCoV_node.html. Mit den deutschlandweit auftretenden Fällen einer Infektion sind an einer übertragbaren Krankheit (§ 2 Nr. 3, § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. h IfSG) erkrankte Personen und damit Kranke im Sinne von § 2 Nr. 4 IfSG festgestellt worden (vgl. VG Bremen, Beschluss vom 26. März 2020 – 5 V 553/20 –, Rn. 36, juris).

Soweit Ziffer 11 der Allgemeinverfügung vom 1. April 2020 den Aufenthalt im öffentlichen Raum einer Person nur alleine, mit einer weiteren nicht im Haushalt lebenden Person oder im Kreis der Angehörigen des eigenen Hausstands gestattet, handelt es sich um eine notwendige Maßnahme zur Verhinderung der Verbreitung des Virus. Das Coronavirus ist eine übertragbare Krankheit, die bereits landesweit aufgetreten und dadurch gekennzeichnet ist, dass sie sehr leicht übertragbar ist und sich dadurch sehr schnell ausbreitet. Das Robert Koch-Institut, das bei der Vorbeugung übertragbarer Krankheiten und Verhinderung der Weiterverbreitung von Infektionen eine besondere Sachkunde aufweist (§ 4 IfSG), schätzt die Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland derzeit insgesamt als hoch ein. Es handelt sich weltweit und in Deutschland um eine sehr dynamische und ernstzunehmende Situation. Bei einem Teil der Fälle sind die Krankheitsverläufe schwer, auch tödliche Krankheitsverläufe kommen vor. Nach Darstellung des Robert Koch-Instituts ist die Erkrankung sehr infektiös. Da weder eine spezifische Therapie noch eine Impfung zur Verfügung stünden, müssten alle Maßnahmen darauf gerichtet sein, die Verbreitung der Erkrankung in Deutschland und weltweit so gut wie möglich zu verlangsamen (Epidemiologisches Bulletin 12/2020: COVID-19: Verbreitung verlangsamen, S. 3, veröffentlicht unter www.rki.de). Zentral dabei seien bevölkerungsbasierte kontaktreduzierende Maßnahmen, wie die Absage von Großveranstaltungen sowie von Veranstaltungen in geschlossenen Räumlichkeiten, bei denen ein Abstand von 1 – 2 Metern nicht gewährleistet werden könne. Bei vergangenen Pandemien habe gezeigt werden können, dass bevölkerungsbasierte Maßnahmen zur Kontaktreduzierung durch Schaffung sozialer Distanz besonders wirksam seien, wenn sie in einem möglichst frühen Stadium der Ausbreitung des Erregers in der Bevölkerung eingesetzt würden (ebd., S. 5). Es seien von jetzt an und in den nächsten Wochen maximale Anstrengungen erforderlich, um die Epidemie in Deutschland zu verlangsamen, abzuflachen und letztlich die Zahl der Hospitalisierungen, intensivpflichtigen Patienten und Todesfälle zu minimieren (dies., Modellierung von Beispielszenarien der SARS-CoV-2-Epidemie 2020 in Deutschland vom 20.03.2020, vorletzte Seite). Die massiven Anstrengungen des öffentlichen Gesundheitsdienstes, dem insbesondere die möglichst frühzeitige Identifizierung von Kontaktpersonen und deren Management obliegt, sollten nach Ansicht der Robert Koch-Instituts durch gesamtgesellschaftliche Anstrengungen wie die Reduzierung von sozialen Kontakten mit dem Ziel der Vermeidung von Infektionen im privaten, beruflichen und öffentlichen Bereich sowie eine Reduzierung der Reisetätigkeit ergänzt werden (vgl. VG Bremen, Beschluss vom 26. März 2020 – 5 V 553/20 –, Rn. 37, juris).

Die Reduzierung des direkten Kontaktes zwischen den Menschen ist geeignet, die weitere Verbreitung des Virus und insbesondere die Verbreitungsgeschwindigkeit, die zu einer Überforderung der medizinischen Versorgung mit der Folge von ansonsten vermeidbaren zahlreichen zusätzlichen Todesopfern führen kann, einzudämmen. Es besteht die begründete Hoffnung, dass durch die starke Eingrenzung des direkten Kontaktes zwischen den Menschen möglichst effektiv und zügig die Verbreitung des Virus erheblich verlangsamt werden kann, um Menschenleben zu retten. Die Bekämpfung der Infektion gestaltet sich auch deshalb besonders schwierig, weil viele infizierte Personen überhaupt keine Symptome aufweisen, sie die Infektion also selbst gar nicht bemerken, die Infektion jedoch weiterverbreiten können. Gegenwärtig stehen noch keine gleich wirksamen Alternativen zu einer gezielteren Bekämpfung zur Verfügung, insbesondere können die Testkapazitäten nur nach und nach aufgebaut werden. Personen, die ohnehin ständig miteinander Kontakt haben, müssen nicht zwangsläufig voneinander getrennt werden. Dies betrifft jedoch maßgeblich Personen des eigenen Hausstandes.

Vor diesem Hintergrund können sich die in Ziffer 11 und 12 konkret genannten Maßnahmen der Kontaktbeschränkung als notwendig erweisen. Während Ziffer 11 der Allgemeinverfügung vom 1. April 2020 den Aufenthalt im öffentlichen Raum regelt, trifft Ziffer 12 der Allgemeinverfügung Regelungen für den privaten Bereich, insbesondere für private Veranstaltungen, auch in Wohnungen, auf Privatgrundstücken und privaten Einrichtungen. Der auch in § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG genannte Begriff der Veranstaltung, der dort als Unterfall eine Ansammlung von Menschen aufgeführt ist, ist im Hinblick auf die Zweckrichtung der Allgemeinverfügung, den Kontakt zwischen nicht im selben Haushalt lebenden Menschen zu begrenzen, auszulegen. Der Kontakt zwischen Angehörigen desselben Hausstandes lässt sich in der Regel nicht vermeiden und soll auch durch die Allgemeinverfügung nicht allgemein begrenzt werden. Das Verbot von privaten Veranstaltungen wie Geburtstagsfeiern, Grillabenden oder ähnlichen Veranstaltungen im privaten Raum greift demnach nur insoweit, als daran Personen außerhalb der Angehörigen des eigenen Hausstandes teilnehmen.

Ziffer 11 der neuen Allgemeinverfügung begrenzt den Kontakt im öffentlichen Raum auf eine weitere nicht im Haushalt lebende Person oder den Kreis der Angehörigen des eigenen Hausstands, sie beschränkt damit eine Ansammlung von Menschen im Sinne des § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG. Die in Ziffer 12 enthaltene Regelung, Kontakte zu anderen Personen außerhalb der Angehörigen des eigenen Hausstandes auf ein absolut nötiges Minimum zu reduzieren, bezieht sich demnach auf den Kontakt außerhalb des öffentlichen Raums. Diese Regelung führt dazu, dass Personen im Sinne von § 28 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz IfSG verpflichtet sind, den Ort, an dem sie sich befinden, nur unter bestimmten Bedingungen zu verlassen und bestimmte Orte nur unter bestimmten Bedingungen zu betreten und Ansammlungen von Menschen auch im privaten Bereich im Sinne von § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG beschränkt bzw. verboten werden. Die Allgemeinverfügung mutet den Betroffenen – wie auch dem Antragsteller – für einen begrenzten Zeitraum eine bislang in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland beispiellose Beschränkung grundrechtlich geschützter Freiheiten zu. Allerdings sind auch Infektionslagen wie die derzeit bestehende – soweit ersichtlich – unter der Geltung des Grundgesetzes bisher nicht vorgekommen (VG Bremen, Beschluss vom 26. März 2020 – 5 V 553/20 –, Rn. 33, juris). Vor diesem Hintergrund rechtfertigt aller Voraussicht nach der Gesundheitsschutz, insbesondere die durch die Maßnahmen angestrebte Verlangsamung der Ausbreitung der hoch infektiösen Viruserkrankung mit der so bestehenden hohen Wahrscheinlichkeit, zahlreiche Menschenleben zu retten, in der gegenwärtigen Situation für einen vorübergehenden Zeitraum einschneidende Maßnahmen, wie sie der Antragsgegner vorliegend getroffen hat.

Lediglich ergänzend sei erwähnt, dass auch für die hier zuvor maßgebenden Regelungen der Ziffern 10 und 11 der Allgemeinverfügung vom 23. März 2020 aller Voraussicht nach in der zum Zeitpunkt des Erlasses der Allgemeinverfügung vom 23. März 2020 geltenden Fassung des Infektionsschutzgesetzes eine Rechtsgrundlage bestand. § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG a. F. erlaubte insbesondere das Verbot oder die Beschränkung von Ansammlungen einer größeren Anzahl von Menschen, dies schloss jedoch das Verbot einer Ansammlung auch einer kleineren Anzahl von Menschen nach der Generalklausel des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG nicht aus. Zwar setzt die vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Wesentlichkeitstheorie (vgl. BVerfG, Beschluss vom 04. Mai 1997 – 2 BvR 509/96 –, juris) Grenzen dafür, eingriffsrechtliche Generalklauseln als Ermächtigungsgrundlage heranzuziehen. Die Regelungsmaterie „Gefahrenabwehr“, zu der auch das Infektionsschutzgesetz gehört, erfordert einen weiten Gestaltungsspielraum der Verwaltung und eine flexible Handhabung des ordnungsbehördlichen Instrumentariums. Gerade das Recht der Gefahrenabwehr mit seinen von Rechtsprechung und Schrifttum konkretisierten Leitlinien des Opportunitäts- und Verhältnismäßigkeitsprinzips kann deshalb mit sprachlich offen gefassten Ermächtigungen auskommen, die gegebenenfalls verfassungskonform auszulegen und anzuwenden sind. Liegen – wie vorliegend – neue und in dieser Form vom Gesetzgeber zuvor nicht bedachte Bedrohungslagen vor, ist daher jedenfalls für eine Übergangszeit der Rückgriff auf die Generalklausel auch dann hinzunehmen, wenn es zu wesentlichen Grundrechtseingriffen kommt (vgl. Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Urteil vom 22. Juli 2004 – 1 S 2801/03 –, juris; BVerwG, EuGH-Vorlage vom 24. Oktober 2001 – 6 C 3/01 –, BVerwGE 115, 189-205; VG Bremen, Beschluss vom 26. März 2020 – 5 V 553/20 –, Rn. 31 – 32, juris).

Die hier streitigen Anordnungen durften aller Voraussicht nach in Form der Allgemeinverfügung (§ 106 Abs. 2 LVwG) ergehen, weil es sich um die Regelung eines Einzelfalls für einen bestimmten Personenkreis, mithin um eine konkret-generelle Regelung handelt. Ihr Regelungsgehalt bezieht sich ausschließlich auf die infektionsschutzrechtlich notwendige Bekämpfung des Coronavirus SARS-CoV-2, das sich seit Februar 2020 epidemisch in Deutschland verbreitet und mithilfe der Regelungen in der streitgegenständlichen Allgemeinverfügung an einer raschen Ausbreitung gehindert werden soll, weshalb der zeitliche Geltungsbereich der Allgemeinverfügung zunächst bis 19. April 2020 befristet ist.

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Aufgrund der nicht abschließend in einem vorläufigen Rechtschutzverfahren klärbaren Frage der Rechtmäßigkeit der Ziffern 11 und 12 der Allgemeinverfügung sind in einer weitergehenden Interessenabwägung die Folgen gegenüberzustellen, die im Hinblick auf das öffentliche Interesse in dem Fall einträten, dass dem Antrag stattgegeben wird, der Rechtsbehelf im Hauptsacheverfahren indes erfolglos bleibt, und zum anderen die Auswirkungen auf den Betroffenen für den Fall der Ablehnung eines Antrags.

Gemessen an diesen Maßstäben überwiegt im vorliegenden Fall das öffentliche Interesse an der sofortigen Durchsetzung des sich aus der Allgemeinverfügung ergebenden Kontakt- und Abstandsgebots das private Aufschubinteresse des Antragstellers.

Vorliegend streiten auf Seiten des öffentlichen Interesses überragende Gründe der Abwehr von Gefahren für die Gesundheit der Bevölkerung und der Sicherstellung der Leistungsfähigkeit der ärztlichen, insbesondere krankenhausärztlichen (Intensiv-)Versorgung für die Bevölkerung. Neben der Vermeidung von Ansteckungen geht es insbesondere auch darum, durch eine Verlangsamung der Ausbreitung des Virus für die Bevölkerung eine ausreichende Anzahl von Behandlungsplätzen zur Verfügung stellen zu können. Es muss vermieden werden, dass – wie etwa in Italien – das medizinische Personal darüber entscheiden muss, beatmungspflichtige Angehörige bestimmter Bevölkerungsgruppen wegen eines Mangels an Geräten und Personal von der intensivmedizinischen Behandlung mit Beatmungsgeräten auszuschließen und sie dem wahrscheinlichen, ansonsten vermeidbaren Tod zu überlassen. Hierbei ist nicht allein in den Blick zu nehmen, dass der Antragsteller selbst möglicherweise (derzeit) nicht infiziert ist und daher kein Ansteckungsrisiko für andere ausgeht. Die aktuelle Infektionsgefahr ist bekanntermaßen insbesondere dadurch extrem risikobehaftet, dass bislang unentdeckt infizierte Personen sich im öffentlichen, aber auch privaten Raum bewegen und andere unwissentlich infizieren. Kontakte nach Möglichkeit zu vermeiden, kann die Gefahr wirksam begrenzen. Vorliegend geht es auch bei der hier streitigen Allgemeinverfügung um den Schutz vor den Folgen der exponentiellen Ausbreitung des Corona-Virus.

Gegenüber diesem gewichtigen öffentlichen Interesse setzt ein im Rahmen der Folgenabwägung überwiegendes privates Interesse voraus, dass im Einzelfall Umstände vorliegen, die so gewichtig sind, dass entgegen der gesetzgeberischen Anordnung in §§ 28 Abs. 3, 16 Abs. 8 IfSG eine vorläufige Aussetzung der Vollziehung angezeigt ist.

Die von dem Antragsteller geltend gemachten grundrechtlichen Belange wiegen schwer, insbesondere deshalb, weil es sich auch um tiefgreifende Grundrechtseingriffe handelt und die Eingriffe durch die Verbote des direkten Kontakts für einen bestimmten Zeitraum teilweise irreversibel sind. Mit den von ihm durch die Allgemeinverfügung getroffenen Maßnahmen kommt der Antragsgegner seiner grundrechtlichen Pflicht zum Schutz des Lebens und der Gesundheit der Bevölkerung aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nach. Der Verlangsamung der Ansteckungsrate durch Vermeidung von sozialen Kontakten ist bei der Abwägung entscheidende Bedeutung beizumessen, auch um eine Überlastung und einen Zusammenbruch des Gesundheitssystems, wie dies bereits in anderen europäischen Ländern festzustellen ist, zu verhindern und Leben und Gesundheit der Bevölkerung wirksam zu schützen. Vor diesem Hintergrund müssen die grundrechtlich geschützten Freiheiten des Antragstellers für einen begrenzten Zeitraum zurückstehen, zumal er nach wie vor mit den seinem Hausstand angehörigen Familienmitgliedern grillen darf.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO; der Streitwert wurde gemäß § 63 Abs. 2, § 53 Abs. 2 Nr. 2 iVm § 52 Abs. 2 GKG festgesetzt.

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